Donnerstag, 18. August.
Der Bauernkalender neben der Tür zum Speisesaal sagt: Beten, singen, tüchtig düngen. Die Uhr über der Tür sagt: 08:02.
Es ist mein zehnter Tag in der RESIDENZ, heute nach dem Frühstück kommt der MDK.
Meine Pflegeberichte sind top.
Meine Gebrechlichkeit ist 1A.
Mein Tremor sucht seinesgleichen.
Vielleicht bin ich sogar ein bisschen verrückt, weil ich ständig stumm die Lippen bewege oder komische Sachen sage zu Leuten, die gar nicht da sind, und dann besteht der Verdacht auf Altersdemenz oder senile Psychose, und ich bekomme zusätzlich zum Pflegegeld noch einen Leistungszuschlag.
Alles paletti, wie man so sagt, meine Laune ist trotzdem im Keller.
Knack. 08:03.
Ich stehe vor der Tür zum Speisesaal, ich will da nicht rein, ich bin spät dran heute. Das liegt am Professor. Daran, dass ich ihn gesucht habe nach der Morgenpflege, statt auf Zimmer fünf mit der Gräfin zu rauchen.
Ergebnis: kein Professor, kein Nikotin. Frau Schnalke liest wahrscheinlich gerade ihre Liste vor und sagt in die tödliche Stille hinein: »Almut Block, unentschuldigt. Verbleib ungeklärt.«
Meine Laune ist im Keller, aber das ist eine ziemlich saloppe Formulierung. Viel zu salopp, kein guter Ausdruck, würde Marlen jetzt sagen, wenn sie nicht seit vierzig Jahren tot wäre. Der bessere Ausdruck, würde sie sagen, ist: Ich habe Angst.
Angst vor Schwester Terese.
Angst vor der Strafe. Blutige Zehennägel zum Beispiel.
»Jetzt mach dir nicht ins Hemd!«, würde Karlotta sagen, wenn sie nicht seit vierzig Jahren tot wäre. »Ein bisschen Blut im Schuh hat noch keinem geschadet, und dir wird es auch nicht schaden, Almut, mein Aschenbrödel.«
»Aschenbrödel, kicher. Du bist ja sowas von gemein, Karlotta, kicherkicher.« Das war jetzt Suzanna. Oder wäre es gewesen, wenn sie nicht tot wäre.
Ganz allein ist es schwer, die Tür zum Speisesaal zu öffnen. Keiner da, der mir hilft, zum Beispiel mit einem schlechten Witz.
Ruckediguh, Blut ist im Schuh.
Ich atme tief durch, ich öffne die Tür, im Speisesaal ist die Hölle los. Oder der Himmel.
Die Fenster sind weit geöffnet, ein Schwall frischer Morgenluft schlägt mir entgegen, sie riecht nach frisch geschnittenem Gras, sie klingt nach Vogelgezwitscher, Halleluja. Ich stehe in der Tür, ich sehe mich um, kaum zu glauben: Keiner friert, keiner beschwert sich, erhitzte Gesichter überall, fröhlicher Lärm. Tellerklappern, Tassenklirren, die Alten werfen sich Sätze zu wie bunte Bälle. Sätze, die ich noch nie gehört habe in der RESIDENZ.
Der Schinken ist großartig!
Hast du den Gorgonzola schon probiert?
Her mit der Butter!
Auf den Tischen stehen echte Blumen, üppige Sträuße in bauchigen Vasen, da sind Gladiolen und Sonnenblumen, Gerbera und Lilien, und die Lieblingsblumen der Gräfin sind auch dabei, Chrysanthemen und Nelken, Halleluja.
Ich schlurfe durch den Saal auf meinen Platz, ich sollte irgendjemanden fragen, was hier eigentlich los ist und warum vorne unter der Uhr, wo Schwester Terese sonst immer steht, ein Tisch mit Mikrophonen steht und mit Wassergläsern. Ich sollte fragen, warum jemand eine Reihe Klappstühle aufgestellt hat, zwei Meter vor dem Tisch, und warum auf jedem Stuhl eine Mappe liegt, das sollte ich alles fragen, aber ich bin verwirrt. Der Lärm, der Geruch nach Gras und Blumen, und über allem der Duft von etwas, das es in der RESIDENZ normalerweise nur am Nachmittag gibt, und da riecht es anders, weil der Kaffee am Nachmittag koffeinfrei ist und so dünn, dass du dir die Hände damit waschen kannst.
Ich setze mich auf meinen Platz, ich bin die Letzte am Tisch, alle anderen frühstücken schon. Die polnische Küchenhilfe kommt angetrabt, ohne Wägelchen, in der rechten Hand eine Porzellankanne, in der linken ein Porzellankännchen.
»Kaffee?«, sagt sie.
Ich glotze sie an. Einundzwanzig, zweiundzwanzig, ich nicke. Sie gießt mir Kaffee in die Tasse, der Strahl ist tiefschwarz. Schwarz wie Tinte, schwarz wie das Blut der Verdammten, die einen Pakt mit dem Teufel unterschrieben haben, Halleluja.
»Milch?« Die Küchenhilfe schwenkt das Kännchen.
Ich schüttle den Kopf.
»Weiches Ei oder Ei im Glas?«
»Ei?«, sage ich wie jemand, der noch nie ein Huhn gesehen hat.
»Köstlich einfach köstlich so ein Ei aber nicht das weiche das ist nur was für Weicheier höhö und Ei im Glas ist nur was für Schwuchteln Ich empfehle Spiegelei mit Speck knusprigknusprig dazu ein kräftiger Schuss Ketchup mit Senf und da fällt mir ein Witz ein aber den erzähl ich euch später meine Täubchen jetzt nicht weil jetzt ist euer Täuberich beschäftigt mit seinem Spiegelei höhö einfach köstlich.«
Schwochow hat gelb verschmierte Mundwinkel, die Stoffserviette hat er sich um den Hals gebunden, sie hängt über seine Altmännertitten, farbenfroh befleckt. Rot, das ist vom Ketchup, braun, das ist vom Senf, die grünlichen Flecken sind mir ein Rätsel. Ich lasse meinen Blick über den Tisch schweifen. Über den Brotkorb, die Käseplatte, die Wurstplatte, die Schüssel mit Cornflakes, das Glas mit Honig, ah ja, alles klar: Obstteller, Kiwi.
»Weich, im Glas oder gespiegelt mit Speck?«, sagt die Küchenhilfe in ihrem einfachen, aber kreativen Deutsch. Ich sehe sie an. Keine Hygienehaube, kein verschwitztes T-Shirt. Die Haare sind zu einem glänzenden schwarzen Zopf geflochten, das Kleid sieht neu aus. Leichte Baumwolle, zartrosa, der Lippenstift ist auch rosa. Gepudertes Gesicht, tiefblaue Wimperntusche.
Hübsch, würde ich sagen. Die Küchenhilfe sieht heute sehr hübsch aus, und Schwester Cornelia hat sich auch Mühe gegeben. Sie sitzt am Nebentisch und stopft Weichkäse in den Mund einer uralten verschrumpelten Frau, vielleicht ist es auch ein uralter verschrumpelter Mann, das kann man nicht so genau sagen, auf jeden Fall steckt Schwester Cornelia in einer blauweiß gestreiften Bluse mit gepufften Ärmelchen. Die fleischigen Oberarme wissen nicht so recht, was sie von den Ärmelchen halten sollen, aber es ist verdammt eng darunter, und bald wird die eine oder andere Naht platzen, schätze ich.
Schätze, ich sollte das Spiegelei nehmen. Außerdem sollte ich jetzt so schnell wie möglich mit dem Frühstück anfangen, bevor es weg ist.
Vernichtet.
Vertilgt.
Zermalmt von den dritten Zähnen meiner Tischgenossen, zum Beispiel von Frau Wimmers Zähnen, die sich gerade in ein Käsewurstbrot schlagen. Oder von den Zähnen der Gräfin, sie schiebt sich gerade eine Ladung Cornflakes in ihren breiten Mund, ich sage: »Ei gespiegelt mit Speck, sehr fett gebraten. Außerdem …«, ich überlege, ob ich das jetzt wirklich sagen soll. Ob ich mich trauen soll.
»Ja?« Die Küchenhilfe streicht sich über den schwarzglänzenden Zopf und lächelt.
Dem Mutigen gehört die Welt. »Außerdem will ich keinen Filterkaffee, ich will Espresso. Doppelt.«
»Gerne.« Die Küchenhilfe trabt davon.
Gerne? Hat sie gerade gerne gesagt?
»Gerne, gerne! Doppelt, doppelt!«, jubelt Frau Fitz und kippt Honig auf ihr Brot, das fingerdick mit Nutella bestrichen ist. Wie es aussieht, hat es Frau Fitz gerade noch geschafft, bevor das Nutellaglas in Frau Schnalkes persönlichen Besitz übergegangen ist. Frau Schnalke hält das Glas in ihren dicken Fingern und verfüttert die braune Paste mit einem Kaffeelöffel abwechselnd an sich und Attila, der auf ihrem Schoß sitzt. Frau Sonne macht große, gierige Augen und bettelt leise. »Ich will auch, bitte«, bettelt sie, »nur ein bisschen, oh bitte, bitte.«
Nutella für alle?
Zeit für den Satz: Mein Gott, dass ich das noch erleben darf.
Meine alten Affenpfoten, die gerade noch schlaff vor Erstaunen auf dem Tischüberwurf gelegen haben, der heute nicht aus Plastik ist, sondern aus weißem Stoff – meine Affenpfoten verwandeln sich in Kampfflieger und starten los. Zittrig, aber zu allem bereit. Ihr erstes Ziel: die Käseplatte. Das nächste wird die Wurstplatte sein, das weiß ich schon jetzt, dann das Nutellaglas. Ich werde es Frau Schnalke aus den Händen bomben, und es ist mir egal, wie viele Unschuldige dabei draufgehen.
Das letzte Gefecht.
So würde ich das heute nennen, was damals passiert ist, in diesen dreißig Minuten vor Beginn der Pressekonferenz, und ich möchte lieber nicht darüber reden. Nicht im Detail, es war kein schöner Anblick.
Ersparen wir uns also die Details und sagen wir einfach: Meine Luftstreitkräfte haben einen ganzen Kontinent verwüstet.
Ohne Rücksicht auf Verluste.
Ohne Gnade für den Feind.
Kontinent Frühstück.
Es gibt übrigens Bilder davon, bewegte Bilder. Aufgenommen von einer Fernsehkamera, so ein großes Ding mit dickem Kabel, sie steht ganz hinten in der Ecke des Speisesaals, der Mann hinter der Kamera hat Kopfhörer auf, und ich will damit nur sagen, dass Sie nicht auf meine Erzählung angewiesen sind. Sie können sich das Ganze im Fernsehen anschauen, wenn Sie wollen, der Beitrag läuft noch immer, hin und wieder, in Am Puls der Politik.
Zum Glück sieht es im Fernsehen gar nicht nach dem aus, was es war. Keine Spur von letztem Gefecht. Keine Bilder von den aufgerissenen alten Mäulern, in denen klumpenweise Hartkäse verschwindet oder riesige, abenteuerlich belegte Brote ihrem Untergang entgegensteuern wie Schlachtschiffe. Sieht man alles nicht, und hören kann man es auch nicht, das Schmatzen und Rülpsen von sechzig alten Leuten, die seit Jahren kein anständiges Frühstück mehr bekommen haben.
Vogelgezwitscher.
Das ist das Einzige, was man hört. Und Musik, aber die ist nicht original, die ist aus der Konserve. Irgendein Fernsehfuzzi hat sie mit dem Vogelgezwitscher verschnitten, und wer immer dieser Fernsehfuzzi ist, ich rechne es ihm hoch an, dass er irgendeine Musik genommen hat, nicht das Forellenquintett.
Vogelgezwitscher, Musik. Die Kamera gleitet zügig über ein paar lächelnde runzlige Gesichter, Schnitt auf die Gladiolen, kurze Fahrt über den Brotkorb und den Obstteller, Schnitt auf die Gerbera. Schwenk auf die adrette Küchenhilfe, sie schenkt Kaffee ein. Kurze Fahrt über ihr rosa Kleid und weiter nach unten auf den Tisch, Zoom auf ein Stück Speck, Schnitt auf ein geöffnetes Fenster, Blick hinaus in die Grünanlage. Der frisch geschorene Dreimillimeterrasen glänzt im Sonnenlicht, Schnitt auf die Tür zum Speisesaal, die Ministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend kommt herein.
Acht Sekunden.
Wir haben vierzig Minuten lang gefressen wie eine Horde ausgehungerter Häftlinge nach der Öffnung des Lagers, aber im Fernsehen waren es nur acht Sekunden bis zum Auftritt der Ministerin.
Die Ministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend kommt herein, keiner von den Alten reagiert, die letzten Brotreste und Käsekrümel werden gerade vernichtet, und ich habe die Ministerin auch nur bemerkt, weil Attila mit einem messerscharfen Fauchen von Frau Schnalkes Schoß gesprungen ist und sich unter den Tisch verzogen hat.
Die Ministerin war nicht allein. Hinter ihr ist noch eine ganze Menge anderer Leute in den Speisesaal gekommen, es war eine richtige Karawane. Zuerst der Heimleiter, in Anzug und Krawatte, dann eine Frau im blaugrauen Hosenanzug, dann verschiedene Männer und Frauen mit Fotoapparaten, am Ende das Pflegepersonal. Schwester Olga war auch dabei, ein breites Band über den weißen Haaren, gelb mit roten Punkten. Hinter Schwester Olga dann Nummer 11, ohne Pflaster im Gesicht, die Haare zu einer fluffigen Welle in die Stirn geföhnt. Dann Doppelrudi.
Rudolf Rudolph.
Ich erkenne ihn kaum wieder. Glattrasiert, Bundfaltenhose, weißes Hemd. Immerhin keine Krawatte, aber das rettet den Gesamteindruck jetzt auch nicht mehr.
Schwester Terese?
Ja, auch die. Als Letzte. Das Pflegepersonal hat sich schon an der Seite ohne Fenster aufgestellt, stramm wie Zinnsoldaten, die Presseleute haben schon die blauen Mappen auf den Klappstühlen mit ihren Hintern vertauscht, die Ministerin sitzt schon hinter dem Tisch unter der Uhr. Links von ihr der Heimleiter, rechts von ihr die Frau im blaugrauen Hosenanzug, neben dem Heimleiter ist noch ein Stuhl frei, wir Alten glotzen, ein paar ignorieren das Ganze hartnäckig und vertilgen weiter Essensreste, Schwester Terese betritt den Raum.
Sechzig alte Leute erstarren.
Aus Gewohnheit, würde ich sagen, und weil die Angst eine treue Gefährtin ist und eine liebe Gewohnheit.
Schwester Terese sieht aus wie immer. Kein neues Kleid, keine gepuffte Bluse, null Make-up, und sowas hat sie auch nicht nötig.
Ich weiß nicht, ob ich das je erwähnt habe, aber ich glaube nicht. Habe ich je erwähnt, dass Schwester Terese sehr schön ist? Eine sehr schöne Frau, und sehr jung für eine Oberschwester. Fast so jung wie die Ministerin für eine Ministerin, nur jünger. Und viel schöner. Prinzessinnen sehen so aus, in Märchenbüchern, oder betende Engel auf marmornen Gräbern, von Meisterhand modelliert.
Schwester Terese: Allegorie der Anmut.
Hundeköpfige, Schlangenäugige, Rattenschnelle.
Sie schließt die Tür hinter sich und geht auf ihren Platz. Heute ist ihr Platz der leere Stuhl neben dem Heimleiter, und während sie geht, geht ein Raunen durchs Pressevolk.
Knips.
Jemand macht ein Foto.
Knips, wieder jemand. Knipsknips.
Schwester Terese lächelt nicht und sie blickt auch nicht in die Kameras, die so etwas Schönes schon lange nicht mehr gesehen haben, vielleicht noch nie. Sie setzt sich.
Die Ministerin sagt: »Meine Damen und Herren, ich begrüße Sie zur Pressekonferenz hier in diesem«, sie macht eine ausladende Handbewegung, »schönen Seniorenwohnheim. Wir haben diesen etwas ungewöhnlichen Rahmen gewählt, um Ihnen nicht nur unser Leuchtturmprojekt vorzustellen, sondern auch den Ort, an dem wir dieses Projekt realisieren werden. Ich darf Ihnen nun die Runde vorstellen.«
Die Ministerin stellt die Runde vor.
Sie sagt, dass der Heimleiter der Heimleiter ist und in seiner Funktion als Heimleiter das Heim nun schon seit zwei Jahren vorbildlich leitet. Dass er es vorbildlich restrukturiert hat, zum Beispiel durch Personaleinsparungen ohne Qualitätsverlust.
Der Heimleiter, sagt die Ministerin, hat sich bereits mehrmals durch tatkräftige Unterstützung wichtiger Projekte hervorgetan, zum Beispiel durch seine Anwesenheit bei der Benefizgala »Alzheimer and You«. Aber das, sagt die Ministerin, sei den anwesenden Pressevertretern ja bekannt, und dass sich der Heimleiter nun bereit erklärt hat, als zentraler Kooperationspartner beim aktuellen Leuchtturmprojekt mitzuwirken.
So viel zum Heimleiter.
Knipsknips.
Der Heimleiter lächelt in die Kameras.
Die blaugraue Frau links von der Ministerin heißt Frau Doktor Bestler-Böttcher oder Frau Doktor Nestler-Nüttcher, keine Ahnung, ich habe den Namen nicht so genau verstanden, also lassen wir das mit dem Namen, auf jeden Fall ist sie den anwesenden Pressevertretern bestens bekannt und muss nicht weiter vorgestellt werden.
So viel dazu.
Knips.
»Als Vertreterin des Pflegepersonals, das im Zuge des Leuchtturmprojekts wichtige Aufgaben übernehmen wird, darf ich Ihnen nun die leitende Oberschwester der RESIDENZvorstellen, Frau …« Knipsknipsknipsknips.
Kein Wort mehr zu verstehen von dem, was die Ministerin über Schwester Terese sagt, aber ich denke nicht, dass von blutigen Zehennägeln die Rede ist, also Schwamm drüber. Und Schwamm über die nächsten fünf Minuten, in denen die Ministerin das Übliche redet. Das, was sie schon seit Tagen im Fernsehen redet von wegen demographischer Wandel und Herausforderung und so, nur ausführlicher.
Was?
Sie wollen es hören?
Keine Verarsche?
Na gut, wenn Sie wollen. Aber bitte nicht von Anfang an. Wir schneiden einfach irgendwo rein, wenn Sie einverstanden sind, zum Beispiel hier:
»… müssen wir uns mit vereinten Kräften von der überkommenen Vorstellung losreißen, dass Altern und Altsein ein Defizit ist. Diese Vorstellung hemmt nicht nur die Entwicklung einer Gesellschaft, die den demographischen Wandel nachhaltig gestalten will, sondern geht auch an den Bedürfnissen der älteren Menschen in unserer Gesellschaft vorbei. Diese Menschen wollen nicht im Abseits des sozialen und wirtschaftlichen Lebens stehen. Sie wollen teilnehmen, sie wollen Verantwortung übernehmen, und wir müssen sie dazu ermuntern, ja: verpflichten.
Geben wir den älteren Menschen das zurück, was ihnen lange genommen wurde, weil die obsolete Vorstellung vom Alter als Ruhestand und Stillstand vorgeherrscht hat. Geben wir ihnen das, was sie selbst wollen und einfordern: das Recht auf Pflicht.
Die Abkehr vom Defizitmodell hin zum Aktivitätsmodell hat sich im Bewusstsein vieler älterer Bürgerinnen und Bürger in unserem Land bereits vollzogen. Diese Menschen stellen sich der Gemeinschaft auch nach dem Erwerbsleben mit Elan und Freude zur Verfügung. Sie investieren ihre kostbaren Erfahrungen, ihr Wissen, ihr gesamtes Potential in den Erhalt und die Optimierung unseres sozialen und wirtschaftlichen Wohlstandes. Sie investieren in die Zukunft! Damit dienen sie nicht nur der Gemeinschaft, sondern auch sich selbst, denn sie werden für ihr freiwilliges Engagement reich belohnt. Mit Wertschätzung, Anerkennung, Lob. Mit dem Gefühl, gebraucht zu sein, nützlich zu sein – ein Gewinn und keine Belastung!
Viele ältere Menschen empfinden das bereits so und leisten ihren wertvollen Beitrag in vielen Bereichen des täglichen Lebens. Sie arbeiten ehrenamtlich in Stadtbibliotheken und staatlichen Museen, sie leisten organisierte Nachbarschaftshilfe und bieten Oma-und-Opa-Hilfsdienste für alleinerziehende Mütter und Väter an, sie unterstützen Obdachlose, Suchtkranke, Asylbewerber, Migranten, Straffällige, Homosexuelle. Sie helfen jungen Menschen dabei, ihre Hausaufgaben zu machen, und geistig Behinderten dabei, ihren Alltag zu bewältigen. Ohne das freiwillige Engagement unserer Seniorinnen und Senioren wäre so manche Lerngruppe, Kochgruppe oder Suchtgruppe nicht zustande gekommen, von den zahlreichen Protestgruppen ganz zu schweigen, in denen sich unsere mutigen Seniorinnen und Senioren für eine lebendige Demokratie einsetzen und selbst vor körperlichem Einsatz, zum Beispiel bei Demonstrationen und Mahnwachen, nicht zurückschrecken.
Und wir unterstützen sie dabei!
Wir ermutigen sie dazu, sich immer weiter vorzuwagen!
Es gibt keine Grenzen, wenn es um die Bereitschaft älterer Menschen geht, sich nützlich zu machen, und deswegen hat das Bundesministerium für Familie, Senioren …«
Mir ist langweilig.
Mein Gott, ist mir langweilig.
Den anderen auch. Frau Wimmer hat den Kopf auf ihren Müllsack gelegt und schläft, unter den geschlossenen Lidern bewegen sich ihre Augäpfel unruhig hin und her, wahrscheinlich träumt sie. Dunkle Träume von Partybäumen und Serviettennegern.
Frau Schnalke wedelt mit einer Hand unter dem Tisch herum und sagt so leise wie möglich: »Liebling, komm her! Komm zu Frauchen!«
Frau Sonne hat ihr Album auf den leergefressenen Teller gelegt und starrt hinein, die Gräfin glotzt vor sich hin, Schwochow bohrt in der Nase und streift alles, was er da so findet, an der Stoffserviette ab, die ihm immer noch über die Titten hängt. Frau Fitz imitiert Schwochow, jede Bewegung perfekt synchron, wie beim Wasserballett. Finger, Nase, Loch, Popel. Begutachten, abstreifen, alles total synchron, nur das mit der Stoffserviette geht nicht bei Frau Fitz, weil sie keine umgehängt hat, deswegen schmiert sie sich alles vorne ins Kleid.
Seltsam?
Ja, da haben Sie recht. Es war seltsam, dass uns die Pressekonferenz nicht interessiert hat, schließlich ist sowas noch nie vorgekommen in der RESIDENZ. Ein außergewöhnliches Ereignis, keine Frage, und jetzt zum Mitschreiben für alle, die für alles immer eine Erklärung wollen:
Es gibt keine.
Keine wirklich gute, es gibt nur das Frühstück in unseren Mägen und die ungewohnte Schwere. Es gibt die Trägheit in unseren alten Köpfen, und vielleicht war er ja da, der eine oder andere Verdacht, vielleicht war sie ja da, die eine oder andere Vermutung, aber es ist nichts daraus geworden. Lauter unfertige Gedanken, sie schwimmen in unseren alten Hirnen herum wie Föten im Fruchtwasser. Gedanken ohne Hand und Fuß, verkrüppelt und schwächlich, sie werden nie zur Welt kommen.
Jetzt sagt die Ministerin, dass auch diejenigen älteren Menschen, die sich bisher noch nicht nützlich gemacht haben, diese Chance bekommen müssen. Jetzt nimmt sie das Tischmikrophon aus der Halterung und steht auf. Sie hält sich das Mikrophon vors Gesicht und sagt: »Liebe Seniorinnen und Senioren, liebe Bewohnerinnen und Bewohner der RESIDENZ. Ich freue mich sehr, Ihnen mitteilen zu dürfen, dass Sie unter Millionen pflegebedürftiger Leistungsempfänger ausgewählt wurden, um bei einem wissenschaftlichen Leuchtturmprojekt mitzuwirken. Sie sind, wenn ich das so sagen darf, die Pioniere und Impulsgeber für eine völlig neue Art von ehrenamtlichem Engagement. Sie werden Geschichte machen, liebe Seniorinnen und Senioren, und Ihre Leistung wird noch Generationen überstrahlen als ein Musterbeispiel an Einsatz und Mut. Ich übergebe nun das Wort an die wissenschaftliche Leiterin des Projekts.«
Die Ministerin setzt sich, die blaugraue Frau beugt sich vor und greift nach dem Mikrophon. Sie zieht es ein Stück näher an sich heran, und da fällt es mir zum ersten Mal auf: rote Fingernägel.
Erdbeermarmeladenrot, würde Suzanna sagen und sich die Lippen lecken.
Blutrot, würde Karlotta sagen, und dass ihr die Blaugraue gefällt, weil die Farbe des Krieges an ihren Fingern klebt.
Gute Farbe für eine Frau, die das Zeug zur Hexe hat, würde Marlen sagen und grinsen.
Vielleicht aber auch nicht. Vielleicht würde sie nicht grinsen und etwas anderes sagen, zum Beispiel, dass die Farbe genau so ist wie die Farbe der Digitaluhren in der RESIDENZ.
Unsere Zeit ist abgelaufen, Almut, würde sie sagen. Der Spaß ist vorbei.
»Vielen Dank, Frau Minister.« Die Stimme der Blaugrauen hat eine ganz andere Farbe als ihr Nagellack, angenehm kühl.
»Meine Damen und Herren von der Presse, liebe Probanden.«
Probanden?
»Im Namen der FrontPharma AG möchte ich Ihnen nun kurz das Projekt umreißen. Für detaillierte Fragen stehe ich Ihnen im Anschluss an die Pressekonferenz gerne zur Verfügung, die genauen Zahlen entnehmen Sie bitte der Pressemappe.«
FrontPharma?
»Wie Sie wissen, ist die FrontPharma AG Marktführer bei pharmazeutischen Produkten und Medikamenten für ältere Verbraucher. In unserer Forschungsabteilung entwickeln wir seit Jahrzehnten erfolgreich Pharmazeutika gegen typische Alterserkrankungen, einige von diesen Arzneimitteln sind revolutionär, zum Beispiel die in unseren Labors entwickelte Injektionslösung gegen Osteoporose bei postmenopausalen Frauen mit erhöhtem Frakturrisiko.
Die Entwicklung solch revolutionärer Arzneimittel ist in jeder Hinsicht aufwendig: Sie kostet Zeit und Geld. Von der Wirkstoffsuche bis zu den präklinischen Tests an Tieren vergehen Jahre. Von den klinischen Tests am Menschen in ihren vielen Phasen bis zur Zulassung des Medikaments vergehen Jahre, oft Jahrzehnte. Die Studien und Tests kosten Milliarden. Viele Pharmaunternehmen haben sich deshalb aus der innovativen Forschung zurückgezogen und beschränken sich auf die Evaluierung vorhandener absatzstarker Medikamente.
Wir von der FrontPharma AG stellen uns diesem Trend entgegen. In absehbarer Zeit – die genauen Zahlen entnehmen Sie bitte der Pressemappe – wird mehr als die Hälfte der Bevölkerung über sechzig Jahre alt sein. Jeder Zweite wird die achtzig erreichen oder überschreiten. Ich glaube, ich muss Ihnen nicht näher erläutern, was das für unsere Gesundheitsversorgung bedeutet. Auch oder vor allem unter dem Aspekt der Versorgung mit effizienten Arzneimitteln.
Für viele typische Alterserkrankungen gibt es bis heute keine wirksame pharmakologische Therapie, sie sind unheilbar. Morbus Alzheimer zum Beispiel, unser größtes Sorgenkind, aber auch andere organische oder psychische Erkrankungen, die bis dato kaum und nur unbefriedigend therapierbar sind. Um die kommenden Generationen vor etwas zu bewahren, das man ohne Übertreibung als Massensiechtum bezeichnen kann, müssen wir hier und heute schnell handeln. Wir müssen schnell forschen – schneller, als es die strenge gesetzliche Regelung mit ihren vielen Auflagen bisher erlaubt hat.
Es ist ein gutes Zeichen, dass auch die Politik aufgewacht ist, wenn ich das so sagen darf, und für das Leuchtturmprojekt der FrontPharma AG eine gesetzliche Ausnahmeregelung beschlossen hat. Diese Regelung ermöglicht es uns, das Seniorenwohnheim Die RESIDENZ in ein Großlabor umzugestalten und mit den Probanden eine Reihe von klinischen Tests durchzuführen, die bislang aus gesetzlichen Gründen nicht möglich waren. Es geht um die Prüfung von Wirkstoffkombinationen, die sich noch im Frühstadium der Entwicklung befinden und normalerweise in langwierigen Tierversuchen unter vielen Aspekten untersucht werden müssten. Toxizität, Verträglichkeit, unerwünschte Nebenwirkungen et cetera. Dank der Unterstützung durch die Regierung, ganz besonders durch die Ministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, können wir die Phase vorklinischer Tierversuche überspringen und sofort in die sogenannte First-in-human-Phase einsteigen. Bereits heute Nachmittag werden meine Mitarbeiter und ich damit beginnen, die Probanden hinsichtlich ihrer Tauglichkeit für die jeweiligen Wirkstoffkombinationen zu untersuchen. Diese Voruntersuchung wird einige Tage in Anspruch nehmen, in komplexen Fällen einige Wochen. Danach werden wir Fokusgruppen bilden, in denen unter der Leitung jeweils eines Experten aus meinem Team der jeweilige Wirkstoff im kontrollierten Testverfahren an die Probanden verabreicht wird. Wie lange die Tests dauern, hängt von den laufenden Ergebnissen ab. Und natürlich von der Mortalitätsrate.
Das Pflegepersonal der RESIDENZ wird ergänzend zu den bisherigen Tätigkeiten neue Aufgabenbereiche zugewiesen bekommen, zum Beispiel die lückenlose Kontrolle beziehungsweise Überwachung der Probanden, oder die medizinische Versorgung bei den zu erwartenden pathologischen Reaktionen auf die Wirkstoffe. Dabei wird die leitende Oberschwester der RESIDENZ …«
Maldtnaz zebberck.
Maldtnaz zebberck, oh Gott, bitte nicht. Bitte lass es nicht zu, nicht Schwester Terese, oh bitte, Maldtnaz zebberck.
»… wird die leitende Oberschwester der RESIDENZ als zentrale Koordinatorin und Supervisorin fungieren. Die Entlohnung des Pflegepersonals inklusive einer angemessenen Gehaltssteigerung übernimmt die FrontPharma AG.
Meine Damen und Herren, liebe Probanden, die Ministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend wird Ihnen nun den Namen unseres Leuchtturmprojekts bekanntgeben. Bitte, Frau Minister.«
Die Ministerin lächelt und beugt sich nahe ans Mikrophon.
»Barrierefrei forschen: Heute testen, was wir morgen brauchen.«
»Danke, Frau Minister. Sofern dieses Projekt erfolgreich ist, wovon wir ausgehen, wird es die Regierung als Standardmodell einführen, und jeder pflegebedürftige ältere Leistungsbezieher hat sich bei Bedarf als Proband zur Verfügung zu stellen. Ich möchte in diesem Zusammenhang betonen, dass es keinerlei Zwang gibt. Es steht natürlich jedem frei, die Zukunft aktiv mitzugestalten oder sich dieser Verantwortung zu entziehen. Wer Letzteres vorzieht, hat mit keinerlei Strafmaßnahmen zu rechnen, und der Entzug des Pflegegeldes sowie des Heimplatzes sind keine Strafmaßnahmen, sondern notwendige Maßnahmen. Wir benötigen alle Ressourcen für die freiwilligen Probanden.
›Barrierefrei forschen‹ ist ein Projekt, mit dem wir heute im kleinen Rahmen beginnen und morgen im großen weitermachen. Heute, morgen, übermorgen – so lange, bis sich die demographische Lage entspannt hat und es auch in unseren Breiten wieder mehr junge Menschen gibt als Menschen, die – und bitte missverstehen Sie das jetzt nicht als Zynismus, es ist ein Faktum –, als Menschen, die zu lange leben.
Meine Damen und Herren, liebe Probanden: Es wird eine spannende Zeit!«