Knack. 08:52.
Es ist still auf dem Gang, wir sind allein. Nur die Uhr und ich, sie schimmert in sattem Nagellackrot, ich habe eine Kaffeekanne in der Hand, das Porzellan schimmert in mattem Weiß.
Ich warte.
Vor der Klotür.
Auf die Ministerin.
Die Pressekonferenz ist seit ein paar Minuten vorbei, jetzt bekommen die Journalisten Kaffee und Kuchen, es hat nicht viele Fragen gegeben, schon gar keine kritischen, und das ist okay.
Die sind alle so zwischen zwanzig und vierzig, die Presseleute, und deswegen ist das sehr verständlich, dass niemand besonders kritisch war. Schon wegen der Pressemappe. Alle haben darin geblättert, und ich kann mir gut vorstellen, was da drinsteht. Statistiken, Zahlen, Tabellen. Demographische Entwicklung, harte Fakten. Wer woran stirbt in vierzig Jahren oder fünfzig, weil es welches Medikament wofür oder wogegen noch nicht gibt.
Schlimmer noch: Wer woran nicht stirbt.
In fünfzig Jahren ist so ein vierzigjähriger Pressemensch neunzig, und er wird leben, laut Statistik, aber er wird verschlissene Gelenke haben und verstopfte Arterien. Er wird halbblind sein und so gut wie taub, er wird seinen Urin nicht mehr halten können.
Ein ganz normaler alter Mensch.
Laut Statistik stehen die Chancen gut, dass er plemplem ist, und da wäre es schon nicht schlecht, wenn die FrontPharma AG rasch etwas finden würde, zum Beispiel eine Injektionslösung, die alle Probleme auf einen Schlag löst.
Eine Injektionslösung gegen das Altwerden.
Die Kanne in meiner Hand ist noch fast voll, sie ist schwer, ich halte sie trotzdem die ganze Zeit in die Höhe, ich sehe aus wie die Freiheitsstatue mit ihrer Fackel. Ziemlich idiotisch, keine Frage, aber so sieht das eben aus, wenn man für die Freiheit kämpft.
In meiner Hosentasche steckt die Serviette von Schwochow, ich habe ihn um das eklige Ding gebeten, er hat es mir gegeben. »Aber gerne mein Täubchen höhö knick knack.«
Dann bin ich der Ministerin nachgegangen, hinaus aus dem Speisesaal. Keiner hat es bemerkt, alle waren beschäftigt mit ihren Kuchengabeln, auch die Alten. Sie haben auch Kuchen bekommen, und jetzt essen sie den Kuchen, und ich weiß nicht, wie viele eigentlich kapiert haben, was da gerade abgegangen ist. Frau Fitz hat sicher nichts kapiert, und Frau Wimmer auch nicht. Frau Sonne vielleicht, aber die ist die Letzte, die sich wehrt. Frau Schnalke macht alles, was Schwester Terese ihr sagt, und Schwochow ist schon aus sportlichen Gründen ein Mitläufer. Bleibt nur die Gräfin, und der ist alles egal. Die Vergangenheit, die Gegenwart, alles egal, nur die Zukunft zählt, und die Zukunft ist der Tod.
Durch die Klotür höre ich das Rauschen der Spülung, ich hebe die Hand noch ein Stück weiter nach oben, gleich kommt sie heraus, die Ministerin. Wenigstens weiß ich jetzt, wohin Attila das Auge von Fips gespuckt hat, und für einen Moment bin ich froh, dass Marlen schon seit vierzig Jahren tot ist. Sie würde mir jetzt den Hals umdrehen mit ihren Krallenhänden, weil ich uns schon wieder hineingeritten habe in die Scheiße.
Weil ich nicht wachsam war.
Weil ich es verpennt habe.
Die Klotür geht auf, die Ministerin macht einen Schritt auf den Gang hinaus, für den Bruchteil einer Sekunde überlege ich, ob ich etwas sagen soll.
»Hallo, Ministerin« zum Beispiel.
Oder: »Wissen Sie eigentlich, dass man uns alte Leute im alten Japan verehrt hat wie Gottheiten?«
Aber das würde alles zu lange dauern, ich schlage der Ministerin die Kanne über den Kopf, das Porzellan bricht, im Kopf der Ministerin bricht auch etwas, vielleicht ein Stück vom Schädelknochen, Kaffee rinnt ihr übers Gesicht, schwarz wie das Blut der Verdammten. Für einen Moment starrt sie mich entgeistert an, dann klappt sie zusammen.
Keine Ahnung, wie ich das geschafft habe ganz allein. So eine Ministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend wiegt nicht viel, rein politisch, aber als ohnmächtiger Körper ist sie verdammt schwer.
Ich habe es trotzdem geschafft.
Erst den Gang entlang, schleif, zerr, dann die Treppen hinunter, holterdipolter, jetzt bin ich im Keller.
Die Waschküche, der Vorratsraum, der Heizungsraum. Alles nicht gut. Kann überall jederzeit jemand reinplatzen, und das kann ich gerade nicht brauchen. Was ich gerade brauche, ist Ruhe. Ruhe und ein bisschen Zeit für mich und die Ministerin.
Ich sehe mich um, ganz hinten neben dem Heizungsraum ist noch eine Tür.
Das Raucherzimmer!
Zerr, schleif, mein Gott, ist die Frau anstrengend, und die Tür zum Raucherzimmer ist sicher abgeschlossen, wie immer. Den Schlüssel hat Schwester Terese, jetzt finde ich es wieder weniger günstig, dass Marlen schon seit vierzig Jahren tot ist, weil mit Marlen wäre das jetzt kein Problem. Autoschlösser, Türschlösser, lässt sich alles locker knacken mit einem hochwertigen Kunstfingernagel.
Zur Not aufbrechen, denke ich und lege die Ministerin vor der Tür ab. Ich drücke probehalber die Klinke hinunter, die Tür geht auf.
Sie geht auf!
Aber nur schwer. Da ist etwas hinter der Tür, ein Widerstand. Ich stemme mich dagegen, das Etwas gibt nach, Stück für Stück, jetzt ist die Tür offen, ich ziehe die Ministerin hinein ins Raucherzimmer.
Der Professor.
Er liegt auf dem Boden, hinter der Tür, leblos. Ich weiß nicht, ob er tot ist oder nur völlig entkräftet. Sein Gesicht ist kalkweiß, die Lippen sind spröde und rissig, er hat seit vierundzwanzig Stunden nichts getrunken, und das ist lange, wenn du ein alter Mensch bist und sowieso immer ein bisschen dehydriert.
Ich schließe die Tür, ich betrachte den Professor, dann die Ministerin.
Ich muss mich entscheiden.
Er oder sie.
Er: wiederbeleben, Mund-zu-Mund-Beatmung, Hilfe holen.
Sie: ein bisschen Spaß haben.
Ich entscheide mich.
Ich beuge mich zum Professor hinunter und öffne den Knoten an seiner Krawatte. Mit der Krawatte fessle ich die Ministerin an den Händen, dann drehe ich sie auf den Rücken und stopfe ihr Schwochows Serviette in den Mund. Ich setze mich rittlings auf die Ministerin, mein Hintern drückt ihr den Magen ein, sie stöhnt leise, aber ihre Augen sind immer noch geschlossen. Aus der Platzwunde an ihrem Kopf sickert Blut, aber nur ein bisschen, und das ist gut.
Wehe, wenn sie mir jetzt einfach verblutet, ohne noch einmal aufzuwachen!
Ich betrachte ihr Gesicht. Hübsche Frau, die Ministerin. Nicht so schön wie Schwester Terese, aber hübsch. Feine Züge, zarte Haut, alles sehr appetitlich, nur die Nase ist ein bisschen zu breit geraten, aber das macht nichts. Wird ja sowieso nicht mehr viel übrig sein von der Nase, wenn ich fertig bin mit der Ministerin, und ich muss sie ja nicht essen, die Nase, nachdem ich sie abgebissen habe.
Alle echt.
Meine Zähne sind alle echt und sehr stabil, aber das habe ich ja schon oft genug erwähnt.
»Frau Block?«
»Ja?«
Doktor Klupp hat sein Notizbuch zugeklappt, jetzt steckt er den Kugelschreiber in die Sakkotasche.
»Sie wissen es, nicht wahr?«, sagt er.
Ja, ich weiß es, Schätzchen. Aber es war trotzdem einen Versuch wert. Immerhin steht in der Kontaktanzeige, die ich nie geschrieben habe Hobby: Gewaltphantasien.
»Es war einen Versuch wert«, sage ich. »Eine gute Geschichte ist immer einen Versuch wert. Ich hätte das gerne gemacht mit der Ministerin, nach der Pressekonferenz. Mir war nicht so nach Kuchen zumute, ich habe ihn trotzdem gegessen damals.«
»Das meine ich nicht«, sagt er, »oder nicht nur. Sie wissen, wo wir hier sind. Und Sie wissen auch, wer ich bin, nicht wahr?«
»Ja, jetzt schon. Keine schwere Körperverletzung, keine Untersuchungshaft. Und das heißt: kein Gerichtspsychiater. Welche Fokusgruppe leiten Sie, Herr Doktor? Die für Alterspsychosen nehme ich an. Halluzinatorische Wahnerkrankungen und so, dann bin ich ja mit dem Professor in einer Gruppe, oder?«
Doktor Klupp nickt.
»Wo ist er denn abgeblieben damals, der Professor?«
»Wir haben ihn am Tag vor der Pressekonferenz weggebracht. Die Sache mit dem Gerontozid war uns zu heikel. Der Professor ist wirklich Spezialist auf diesem Gebiet, und wir wollten das Risiko nicht eingehen, dass er sich bei der Pressekonferenz in irgendeiner Weise … nun ja: kritisch äußert. Er war der Einzige, von dem wir etwas in der Art befürchtet hatten, schließlich ist er Wissenschaftler, daran ändert auch die Psychose nichts.«
»Verstehe. Aber jetzt ist er wieder hier in der RESI… im LABOR, oder?«
Doktor Klupp nickt.
»Und was ist mit mir? Nehme an, die charmanten Gespräche, die wir in den letzten Wochen geführt haben hier im Raucherzi… im Untersuchungsraum waren nichts anderes als die Voruntersuchung, von der bei der Pressekonferenz die Rede war. Probandentauglichkeit und so. Also: Was ist mit mir? Bin ich tauglich oder nicht, Herr Doktor?«
Doktor Klupp seufzt. Er nimmt die Brille ab und massiert seine Augen, er setzt die Brille wieder auf, er sieht mich an.
»Sie waren tauglich, Frau Block. Sehr sogar. Schwere schizophrene Störung als Spätfolge einer posttraumatischen Belastungsstörung, aber das wissen Sie ja selbst mittlerweile, und genau das ist das Problem.«
Er seufzt wieder.
»Die Sache mit Ihnen, Frau Block, die ist mir … nun ja … aus dem Ruder gelaufen. Der Arzt in mir hat den Forscher in mir … wie soll ich sagen …«
»Ausgetrickst?«, sage ich.
Er nickt.
»Klingt schizo«, sage ich.
Er lächelt, aber es sieht ein bisschen verzweifelt aus.
»Sie waren die perfekte Probandin für ein Präparat, von dem wir vermuten, dass es ein sehr effizientes Psychopharmakon sein könnte, wenn es einmal ausgereift ist. Wir wissen noch nicht viel darüber, aber es ist äußerst vielversprechend. Jetzt sind Sie als Probandin nicht mehr geeignet, weil ich … nun ja …«
»Sie haben’s verschissen, Herr Doktor, ganz einfach. Sie haben mich geheilt.«
Verzweifeltes Lächeln.
»Und wie wollen Sie das Ihrer graublauen Chefin mit den blutroten Nägeln erklären? Oder soll ich zu ihr gehen und sagen: Mein Name ist Almut Block, ich war die perfekte Probandin, aber jemand aus Ihrem Team hat’s verschissen. Ein junger Mann, er könnte mein Enkel sein, er hat eine steile Karriere vor sich.
Korrektur: hatte.
Jetzt nicht mehr, weil er die perfekte Probandin für ein äußerst vielversprechendes Präparat gegen das Plemplemwerden im Alter durch Gespräche geheilt hat, statt sie mit dem Zeug vollzupumpen. Der junge Mann heißt übrigens Norbert Klupp, und ich, Almut Block, gehe jetzt nach Hause. Ich weiß zwar nicht, wo das sein soll, aber ich gehe trotzdem dorthin.
Ins Bett.
Schlafen.
Ich bin nämlich geheilt.
Soll ich das machen, Herr Doktor?«
Aschfahles Gesicht, er sieht mich flehend an.
»Wir könnten das doch irgendwie anders regeln, Frau Block. Ich bringe Sie weg von hier, irgendwohin, wo Sie fürs Erste in Sicherheit sind, und für Ihr Verschwinden finde ich schon irgendeine Erklärung, aber ich bitte Sie inständig …«
»Vergessen Sie’s«, sage ich und mache eine Bewegung mit der Hand, als würde ich Dreck abstreifen. »Der Spaß ist vorbei. Wird es wehtun?«
»Wie?«
»Ob es wehtun wird. Das Präparat. Die Tests. Ich habe kein Zuhause außerhalb vom LABOR, Herr Doktor. Ich habe nichts und niemanden. Keine Freunde, keinen Hund, nicht einmal einen neuseeländischen Farn, also was soll ich da draußen? Ich bleibe hier. Im LABOR. Ich werde niemandem etwas sagen und weiter einen auf plemplem machen. Stumm die Lippen bewegen, mit toten Leuten reden, das volle Programm. Und ab und zu, wenn wir zwei allein sind, dann reden wir miteinander. Sie und ich. Über dies und das, ganz normal, ich mache ein paar schlechte Witze, und Sie lachen darüber oder tun zumindest so, einverstanden?«
Doktor Klupp starrt mich an. Dann kehrt ein Hauch von Farbe zurück in sein Gesicht.
»Danke«, sagt er leise.
»Wird es wehtun?«
Er schüttelt den Kopf. »Wir wissen noch so wenig über das Präparat. Aber es ist sehr unwahrscheinlich, dass …«
»Die Wahrheit«, sage ich.
Tiefes Seufzen.
»Es ist sehr unwahrscheinlich, dass es keine schweren Nebenwirkungen hat. Also: ja. Es wird wehtun.«
»Das ist gut«, sage ich. »Es gibt nichts Besseres gegen den Schmerz als den Schmerz. Wenn das Zeug so richtig weh tut, dann werde ich es hier«, ich zeige auf meine Brust, »nicht mehr so spüren. Vielleicht vergesse ich sogar für einen Augenblick, dass die drei Nervensägen jetzt endgültig tot sind, und dann werde ich die Trauer nicht mehr fühlen.
Und jetzt, Herr Doktor, lade ich Sie zur Feier des Tages auf einen kleinen Ausflug ein. Nicht ins Grüne, keine Angst, eher ins Graue. Ich denke da an einen Ort, an dem wir beide noch nie gewesen sind, und wir werden es auch heute nicht schaffen, nicht wirklich. Aber mit ein bisschen Phantasie kommt man überallhin, nicht wahr.«
Wir stehen am Strand, es ist Winter.
Ostsee.
Grauer Himmel, graues Meer, ein paar Möwen hängen in den Windkurven.
Doktor Klupp zieht fröstelnd sein Sakko enger zusammen.
»Kalt?«, sage ich.
»Geht schon«, sagt er.
»Zigarette?«
Er nickt.
Wir stehen, wir rauchen. Er hüstelt ab und zu, die Möwen kreischen, ich denke an nichts.