»Passen Sie auf sich auf!«
Was hatte Julia damit gemeint? War das nur so eine Floskel, so wie man in den USA einem Freund take care mit auf den Weg gibt? Oder hatte sie andeuten wollen, dass Brüderchen zur Gewalt neigte? Zumindest entsprechende Freunde hatte? Vielleicht hatte sie auch nur sagen wollen, ich solle dieses Mal die weite Reise nach Hellersdorf nicht wieder ohne die für ihre Generation überlebenswichtige Flasche Mineralwasser unternehmen.
Aber erneut hatte ich ohne Flüssigkeitsvorrat überlebt. Der Toyota Corolla war, schien mir, keinen Zentimeter bewegt worden seit meinem letzten Besuch. Dafür sprach auch der schmierige Belag auf der Windschutzscheibe, in den ein ordnungsliebender Nachbar »SAU« geschrieben hatte.
Wieder öffnete mir niemand, als ich mehrmals die Klingel bei J. B. läutete. Aber heute war ich darauf vorbereitet, ohne wirklichen Widerstand gab das Schloss klein bei. Vorsichtig stieß ich, Öztürk und der Sprengsatz steckten mir noch deutlich in den Knochen, mit dem Fuß die Tür auf und trat etwas zurück.
»Julius? Jules?«
Keine Antwort. Aber, immerhin, auch keine Explosion.
Weiterhin vorsichtig, machte ich einen Schritt in die Wohnung. Die Tür ließ ich offen, zur Sicherheit. Sollte ich zum Beispiel schnell flüchten müssen.
Stille im Haus, diesmal kein Hämmern aus irgendwelchen Tieftönern. Aber ein Stöhnen von irgendwo hier in der Wohnung, schwach nur, aber deutlich. Ich kratzte meine Mutreserven zusammen und verschaffte mir einen schnellen Überblick. Eine Einraumwohnung, wie man in diesem Teil Berlins sagt: Zimmer, Küche, Bad. Kein toter Jules, weder einer mit Axt im Kopf noch einer mit Einschussloch im Bauch. Aber auch kein stöhnender Jules. Was ich als schwaches Stöhnen wahrgenommen hatte, stellte sich als das Klagen der Pumpe im altersschwachen Kühlschrank heraus. Ich war allein in der fremden Wohnung.
Küche und Kühlschrank waren eine gute erste Möglichkeit zur Klärung der Frage, ob diese Wohnung noch aktiv bewohnt wurde oder ihr Eigentümer schon irgendwo anders untergetaucht war. Vielleicht auch die einzige, da Jules seine Post noch an die Adresse Weserstraße geliefert bekam und vermutlich keine Tageszeitung abonniert hatte. Immer noch auf der Hut vor Sprengsätzen, öffnete ich auch die Kühlschranktür nur millimeterweise. Aber der spärliche Inhalt, den es zu inspizieren galt, half mir nicht recht weiter. Angebrochene Bio-Milch: Verfallsdatum zwei Tage überschritten, angebrochene Bio-Butter: Verfallsdatum noch nicht überschritten. Ein paar Scheiben Käse, kein Bio: Verfallsdatum knapp überschritten. Das war’s, abgesehen von ein paar Flaschen Bionade und ein paar Dosen Bier.
Nächste Station für den professionellen Ermittler: Badezimmer. Eine einsame Zahnbürste, trocken. Keine zweite Zahnbürste, keine weiblichen Accessoires wie Lippenstift oder Haarentfernungscreme. Jules lebte hier eindeutig allein. Ich fasste die Handtücher an: trocken. Aber kein Hinweis, ob erst seit ein paar Stunden oder schon seit Wochen.
Was mir auffiel, war, wie aufgeräumt Jules seinen Haushalt hielt. Studentenwohnungen stellt man sich chaotisch vor, ungemachtes Bett, leere Wein- oder Bierflaschen, leere Tüten von McDonalds. Entweder lebte Jules Baumgärtner bewusst gegen das Klischee an oder er war einfach von Hause aus ein ordentlicher Mensch.
Die Inspektion im Wohnzimmer, meinem nächsten und letzten Stopp, brachte keinen Erkenntnisgewinn. Die ständig erreichbare Generation Smartphone braucht keinen Festnetzanschluss, somit erst recht keinen Anrufbeantworter. Leider auch keinen altmodischen PC oder Laptop, der mir wenigstens das Datum des letzten Zugriffs verraten hätte. Laptops waren längst durch Tablet-PCs ersetzt worden. Wenigstens fand ich hier den Beweis, dass ich in die richtige Wohnung eingebrochen war: Brüderchen hatte ein hübsches Foto von Schwesterchen in ein Regal gestellt, ein weit netteres als meines von der Verkehrsüberwachung. Bei so viel Geschwisterliebe, warum besuchten sich die beiden nicht einfach mal?
Die Antwort fand ich auf dem Flur, als ich meine Inspektion, die bisher nicht einmal fünf Minuten in Anspruch genommen hatte, schnell beenden wollte. Beim Öffnen der Wohnungstür hatte ich offenbar einen Zettel auf dem Boden gegen die Wand und damit hinter die Tür geschoben, der mir deshalb beim Hereinkommen entgangen war. Eindeutig war er vom Hausflur aus unter der Tür hindurch geschoben worden. Ich hob ihn auf und las ihn, wegen des besseren Lichts, in der Küche.
Jules, wo bist Du??? Warum meldest Du Dich nicht? Ich mache mir GROSSE Sorgen!! Du weißt, die AUKTION! Melde Dich! Alles Liebe, Julia.
P. S. was ist mit Deinem Handy? Abgestellt? Vertrag nicht bezahlt?
Endlich eine Antwort auf meine Frage, warum Julia nicht selbst hier nach ihrem Bruder suchte, an der ihr bekannten Adresse. Sie hatte, wahrscheinlich wiederholt. Der Zettel erklärte auch, warum ausgerechnet ich an den Auftrag gekommen war, Jules zu suchen. Aus zwei Gründen, schien mir, obwohl sie mit einem voll daneben lag. Julia glaubte offenbar tatsächlich an irgendwelche weitergehenden Möglichkeiten der Polizei, wobei diese – unterhalb der Schwelle Fahndung – in Wahrheit auch nur aus Melderegister, Befragung von Nachbarn, Nachforschungen bei Freunden und dem berühmten Kommissar Zufall bestanden.
Trotz aller Verschwörungstheorien und den Wunschträumen unserer Sicherheitsdienste gibt es in Berlin wenigstens bisher weder eine flächendeckende Videoüberwachung noch eine wirklich funktionierende automatische biometrische Gesichtserkennung. Im Gegensatz zu mir konnte sich die Polizei ohne Gerichtsbeschluss nicht einmal Zugang zur Wohnung eines Gesuchten verschaffen.
Überschätzte Julia auch die polizeilichen Mittel, so lag sie aber, zweitens, goldrichtig, sich mit ihrem Anliegen an den netten Nachbarn und vermeintlichen Kriminalisten zu wenden: Dieser Oskar würde einer schönen jungen Frau gerne einen kleinen Gefallen tun, ohne, innerhalb gewisser Grenzen, bei Erfolg ihren Bruder gleich ans dienstliche Messer zu liefern.
Ich musste Julia fragen, wann sie den Zettel hier unter der Tür durchgeschoben hatte. Und natürlich, was Jules mit der Auktion zu tun hatte und was dabei so dringend war. Es ging sicher um die unmittelbar bevorstehende Auktion bei Keiser – wann genau sollte die noch mal sein? Julia hatte neulich erwähnt, dass Jules sich gelegentlich ein paar Euro als Hilfskraft bei Keiser verdiente. Bestimmt konnte man ihn bei dieser Auktion wieder gut brauchen. Irgendjemand musste schließlich die Bilder auf die Auktionsbühne schleppen, wenn der dicke Keiser sie zur Versteigerung aufrief. Aber sicher meinte Julia nicht, dass die Auktion ohne Jules’ Tätigkeit als Bilderschlepper auf der Kippe stand. Denn noch etwas war interessant an ihrer Nachricht: Es ging offenbar nicht nur um ihren Bruder, sondern auch um sie selbst.
Sorgfältig faltete ich den Zettel zusammen und steckte ihn ein. Zeit, das Feld zu räumen.
Da hörte ich plötzlich Schritte hinter mir. Hatte ich ein verdammtes Glück, dass Jules ausgerechnet jetzt nach Hause kam!
Mit einem freundlichen »Guten Tag, Jules« wollte ich mich gerade umdrehen, da rammte mir ein Pferd beide Hufe in den Hinterkopf.
Das war das Letzte, woran ich mich erinnerte. Neben der Tatsache, dass ich die Wohnungstür ja absichtlich offen gelassen hatte.