»Das war Mord, Partner. Geplanter, kaltblütiger Mord.«
Trotz der Kälte hatte Herberts Gesicht die Farbe eines überreifen Hokkaidokürbis angenommen, was, wie mir erstmals auffiel, recht gut zu dessen Form passte. Aber es war weniger unsere anstrengende Tätigkeit, die Herbert das Blut in den Kopf presste. Wütend stützte er sich auf seinen Spaten. Er war noch nicht fertig mit seiner Ansprache.
»Und Oskar, eines kannst du mir glauben. Wenn ich diese Leute erwische, bringe ich sie um. Eigenhändig. Mit oder ohne Spaten!«
Selten hatte ich Herbert so emotional erlebt. Eigentlich noch nie. Nicht einmal montags, wenn er, meistens mit zunehmend schlechter Laune, die Spielberichte der unteren Fußball-Ligen im Kicker studierte. Außerdem war heute Donnerstag. Verbissen hackten und gruben wir weiter. Der Frost hatte früh eingesetzt dieses Jahr, erst seit wenigen Tagen zeigte das Thermometer wieder Werte um oder knapp über Null. Dies und der Regen der vergangenen Nacht hatten die oberste Erdschicht in eine morastige Pampe verwandelt, darunter war der Boden noch gefroren. Deshalb die Hacke. Gegen den Widerstand der Natur vergrößerten wir Stück für Stück unser Erdloch. Wir waren uns einig, dass die drei wenigstens ein Grab verdienten. Und Rache, soweit es Herbert betraf.
Wir hatten unsere Spurensicherung an meinem Brombeerstrauch begonnen. Jetzt, ohne den nächtlichen Schleier lauernder Gefahr und eines omnipräsenten Geheimnisses, zeigten sich uns einfach die Überreste einer ehemaligen Fabrikanlage, in vierzig Jahren DDR heruntergewirtschaftet, bis ihr irgendein Glücksritter aus dem Westen endgültig den Todesstoß versetzt hatte. Für ein paar Monate war hier danach ein Gebrauchtwagenhändler zu vorübergehendem Wohlstand und am Ende zu einer Haftstrafe auf Bewährung gekommen. Nun diente das Gelände seit Jahren als idealer Ort, an dem man Autos ausschlachten und ihre Torsos stehen lassen, Altöl oder Kühlschränke entsorgen und vorübergehend sogar Unterkunft finden konnte. An den Wänden der Gebäude übten Graffiti-Künstler, bevor sie ihre Werke besser sichtbar über die Stadt verteilten.
Hartnäckig arbeitete die Natur daran, sich das Territorium zurückzuerobern, erstaunlich wenig gestört durch die Hektoliter von Motorenöl, Bremsflüssigkeit oder Kühlmittel im Erdboden. Ein kleiner Birkenhain überwucherte das Gleisbett der ehemaligen Industriebahn, und ältere Graffiti verschwanden bereits hinter Knöterich, der sich die Backsteinmauern hochrankte. Ich erkannte noch meinen Abdruck unter dem Brombeerstrauch, hinter dem ich mich vergangene Nacht versteckt hatte.
Stück für Stück hatten Herbert und ich unseren Ermittlungskreis erweitert. Wir waren zwar auf keinen verwertbaren Hinweis zu den Tätern, aber schließlich auf die drei Leichen gestoßen. Nach kurzer Diskussion beschlossen wir, dass es das Beste wäre, sie gleich hier verschwinden zu lassen. Herbert, nach wie vor mit wenig Verständnis für meine nächtliche Ermittlungsarbeit, war Feuer und Flamme, die Täter zu finden. Obgleich es dafür keinen Beweis gab, ging er davon aus, dass die Leute, die wir schon seit einem Weilchen schnappen wollten, auch für die Leichen verantwortlich waren. Er wiederholte, während er verbissen an unserem Erdloch schaufelte: »Die schnappen wir uns. Ja, wenn es sein muss, auch bei Nacht.« Die Täter würden, das konnte man unschwer erkennen, mit einem sehr wütenden Mann Bekanntschaft machen. Und auf schnelles Vergessen, auch das wusste ich, durfte man bei Herbert nicht zählen.
Schließlich fanden wir unsere Grube groß genug. Ich holte ein neues Set Einmalhandschuhe, von denen wir immer ausreichend Vorrat mit uns spazieren fahren. Vorsichtig legten wir die leblosen Körper in das frische Grab.
Inzwischen schlug auch mir die Sache auf die Seele und ich wollte sie nur schnell hinter mir haben. Also griff ich wieder zur Schaufel, um die zumindest altölbelastete Erde in das Loch zurückzubefördern.
»Stoi!«, fiel mir Herbert in den Arm.
Was war los? Hatte er etwas gesehen? Gehört? Mit eiligen Schritten und entschlossener Miene verschwand er hinter der Baracke, in der eine »typenunabhängige Autowerkstatt« arbeitete. Ich folgte ihm nicht, aber stellte meine Ohren auf höchste Empfangsstärke und hielt den Spaten griffbereit. Man konnte nie wissen.
Meine Sorge war unberechtigt, der Verteidigungsfall trat nicht ein. Schon nach wenigen Minuten tauchte Herbert wieder auf, mit einer waschmittelfamilienpackungsgroßen Holzkiste unter dem Arm, die er irgendwo auf dem Gelände gefunden hatte.
Er nahm die Leichen noch einmal aus dem Grab, legte sie vorsichtig in die Kiste, verschloss den Deckel und platzierte sie behutsam auf dem Boden der Grube. Dann stemmte er sich mit beiden Händen auf seine Schaufel. Herbert ist der Typ, bei dem die Dinge eine festgelegte Ordnung haben. Bei einem Begräbnis hieß das, dass ein Gebet gesprochen wird. Oder wenigstens etwas in der Art.
»Hallo da oben. Du weißt, dass ich nicht sicher bin, ob es dich überhaupt gibt. Eher nicht, habe ich in der Schule gelernt. Und wenn es dich doch gibt, verzeihst du ja alles, hört man so. Deshalb bitte ich dich nur, lass uns die Arschlöcher finden, die für das hier verantwortlich sind. Um den Rest kümmern wir uns dann schon.«
Anstelle eines »Amen« begann er, mit verbissener Energie die feuchte Erde in das Grab zu schaufeln. Ich stellte mir vor, wie dieser Gott, den es meiner Meinung nach eventuell doch gibt, sich ein kurzes Lächeln gestattete, und war sicher, dass er tatsächlich wegschauen und Herbert gewähren lassen würde, sollten wir den oder die Täter jemals finden. Schließlich bewies dieser Gott jeden Tag erneut, wie gut er wegschauen konnte.
Warum ich, fragte Herbert, die Leichen letzte Nacht nicht gesehen hätte?
»Eben deshalb: Nacht. Es war stockfinster. Geregnet hat es auch.«
Und, fuhr ich fort, es hätte schon meinen ganzen Mut gebraucht, überhaupt nach dem Ursprung des Geräuschs zu suchen.
»Hast du schon mal nachts einen verrotteten Müllcontainer geöffnet, aus dem irgendwelche undefinierbaren Laute kamen? Mit einer Taschenlampe, die weitgehend ihren Geist aufgegeben hat? Woher sollte ich wissen, dass mich da nicht irgendetwas beißt?«
»Ne riesige, strahlenmutierte Ratte zum Beispiel, was? Jedenfalls, herzlichen Glückwunsch zum Ergebnis deiner freiwilligen Nachtschicht: drei Tote! Und du wirst spätestens morgen mit einer fetten Erkältung im Bett liegen. Pleite auf der ganzen Linie. Ey – nies bloß in ’ne andere Richtung!«
Das tat ich, ausführlichst und brav mit dem Wind. Im Gegensatz zu Herbert betrachtete ich die vergangene Nacht allerdings nicht als totale Pleite. Eigentlich ganz im Gegenteil. Den Hauptgrund dafür würde ich ihm jedoch vorerst nicht auf die Nase binden. Aber es schien mir an der Zeit, mich zu verteidigen. Und wenigstens einen Teil der Wahrheit preiszugeben.
»Du tust gerade so, als wäre ich für die Leichen verantwortlich. Und immerhin habe ich einen Überlebenden gefunden. Und damit gerettet.«
»Was? Einen Zeugen?«
Ich klärte Herbert über meinen Zeugen auf. Gespannt hörte er zu, unterbrach mich nicht.
»Und wo ist der jetzt?«
»Na, bei mir zu Hause.«
Ich konnte beobachten, wie sich Herbert meine häuslichen Verhältnisse ins Gedächtnis rief. Da diese recht überschaubar sind, brauchte er dazu nicht lange.
»Alleine?«
Ich nickte. »Was sollte ich tun auf die Schnelle? Ein Zeugenschutzprogramm organisieren?«
Herberts Blick genügte, mein ohnehin schlechtes Gewissen noch weiter zu verschlechtern. Dann hastete er in Richtung unseres Dienstfahrzeuges. Ich stolperte hinterher.
»Ich fahre, Arschloch.«
Noch nie hatte Herbert mich Arschloch genannt. Jedenfalls nicht in einem Ton, der besagte, dass er genau das meinte. Ich warf ihm die Zündschlüssel zu.
Wortlos schnallten wir uns an, dann gab Herbert Vollgas. Das Arschloch ließ ich ihm durchgehen, es konnte mir nicht die Laune verderben. Schließlich hatte ich vergangene Nacht nicht nur ein Leben gerettet. Ich hatte auch endlich einen Weg zu meiner schönen Nachbarin Julia gefunden – oder, besser sogar, sie zu mir. Aber genau das würde ich Herbert jetzt nicht auf die Nase binden.