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»Im Prinzip ist das eine Sache für die Zollfahndung!«

Wenigstens der Schneeregen hatte gegen Morgen aufgehört, und entgegen Herberts Protest, wir hätten Wichtigeres zu tun, durchwühlten wir den Pappkarton-Müllhaufen jetzt innerhalb unserer offiziellen und bezahlten Dienstzeit. Bisher jedoch ohne konkreten Hinweis auf die Täter beziehungsweise den Empfänger der schicken Adidas-Schuhe mit Doppel-D. Auf einem der Kartons war immerhin der Absender zu entziffern – wahrscheinlich jedenfalls, allerdings nur für Leute, die chinesische Schriftzeichen lesen können. Sollten sich doch, wenn überhaupt, die Kollegen vom Zoll die Hände schmutzig machen, meinte Herbert.

»War doch sowieso ’ne Schnapsidee, sich die halbe Nacht um die Ohren zu schlagen. Wir melden das dem Zoll und der Stadtreinigung, mehr ist nicht unsere Aufgabe. Die transportieren das Zeug ab und fertig.«

Herbert hatte vergessen, dass wir auf der Treptower Straßenseite standen, dass hier offiziell gar nicht unser Gebiet war.

»Und die Hundemörder kommen davon?«

»Wer sagt denn, dass das deine Hundemörder waren?«

»Mein Bauchgefühl. Und dass gestern wieder Mittwoch war.«

Natürlich hatte Herbert recht. Weder war es unser Job, nachts Müllsündern aufzulauern, noch gab es einen Beweis, dass die Addidas-Entsorger auch die waren, die Max’ Geschwister im Müllcontainer deponiert hatten. Außerdem musste ich jetzt ganz dringend pinkeln. Und da ich nicht aus meiner bürgerlichen Haut kann, verzog ich mich dazu hinter die Reste der Fabrikmauer.

Aber eines war erstaunlich: Trotz seines nachdrücklich verkündeten Unwillens wühlte sich Herbert derweil unverdrossen weiter durch den Sportschuhhaufen, und als ich erleichtert zurück um die Ecke kam, sah ich gerade noch, wie er ein Stück abgerissenen Karton in seiner Jackentasche verschwinden ließ.

»Was gefunden?«

»Nö«, antwortete mein Partner, ohne mit der Wimper zu zucken. Hätte er es doch wenigstens bei diesem »Nö« belassen! Tat er aber nicht.

»Wie ich gesagt habe. Vollkommen sinnlose Aktion von uns, vertane Zeit. Die haben ganze Arbeit geleistet, keine Spuren hinterlassen.«

»Ja, so muss man das wohl sehen«, antwortete ich betrübt. Betrübt weniger über die angeblich vertane Zeit als über meinen Kumpel. »Lass uns überlegen, wo wir wenigstens ein vernünftiges Frühstück bekommen.«

Tatsächlich Frühstückszeit war es jetzt eher für die beneidenswerte Klientel von gastronomischen Einrichtungen wie dem Krumpelbumpel; aufgrund des nahen Mittags entschieden wir uns für ein paar Frühlingsrollen im Little Bambusgarten, das gerade aufmachte. Die letzte Müllsünde des Ladens war schon eine Weile her, jedenfalls die letzte, die wir entdeckt hatten. Aber die Familie Vang, vor Jahrzehnten aus Vietnam als Vertragsarbeiter in die DDR zwangsverschickt, bemühte sich immer um gute Kontakte zur Autorität, was in ihren Augen Herbert und mich einschloss. Für unsere Frühlingsrollen mussten wir deshalb nicht nach einer neuen Müllsünde suchen, vom Zahlen ganz zu schweigen, sondern uns nur die neuesten Erfolgsgeschichten ihres Sprösslings Ho anhören.

»Der wird es sicher auch zum Minister bringen, wenigstens!«, sagte Herr Vang.

Vorsichtig legte ich Herbert eine Hand auf den Unterarm. Es bestand kein Anlass, Herrn Vang daran zu erinnern, dass mit unserem ehemaligen Gesundheits- und Wirtschaftsminister aus Vietnam als Parteivorsitzendem die FDP aus dem Bundestag geflogen war. Aber, kam mir in den Sinn, vielleicht lag es doch nicht an unserem Schulsystem und der bösen Mehrheitsgesellschaft, dass Gökhans Neffe die Schule als Analphabet abgeschlossen hatte. Denn die Kinder mit Eltern aus Vietnam oder Griechenland schaffen es häufiger zum Abitur als unsere »einheimischen«.

»Ja«, stimmte ich dem stolzen Vater zu, »eure Kinder werden dieses Land noch übernehmen.«

Mit breitem Lächeln verschwand Herr Vang in der Küche. Und Herbert, ohne Lächeln, in Richtung Toilette.

Das gab mir die Gelegenheit, die Jackentasche meines Kollegen zu kontrollieren. Ich brauchte nur einen kurzen Blick auf das abgerissene Stück Karton zu werfen: die Leute mit den Addidas-Schuhen hatten wirklich an einem Karton vergessen, die Lieferadresse zu entfernen. Und die überraschte mich nicht, jedenfalls nicht mehr seit letzter Nacht, als ich durch die Nachtsichtbrille Paschas Söhnchen erkannt hatte. Pascha konnte ich nur wünschen, dass er wenigstens die Playstation- und iPhone-Imitate aus seinem gut gefüllten Lager würde vermarkten können.

Als Herbert zurückkam, saß ich längst wieder an unserem Tisch und Herr Vang servierte gerade unsere Frühlingsrollen. Dazu spendierte er noch ein paar scharf gebratene Hühnerflügel mit seiner Spezialsoße.

»Ganz frisch, alles hausgemacht. Müssen Sie probieren!«

Herberts manchmal etwas zurückhaltende Einstellung gegenüber Migranten schloss deren Küche nicht ein, da war er großzügig. Ich betrachtete meinen mir eigentlich so vertrauten Partner.

Warum hatte er diese Adresse vor mir versteckt? Was verheimlichte er? Wollte er dort doch noch nach ein paar passenden Schuhen für seine Tochter fragen? Oder als einsamer Rächer in der Hundegeschichte auftreten?

So naiv, das anzunehmen, war ich nun auch wieder nicht. Natürlich war mindestens zu vermuten, dass die Verheimlichung seines Fundes vor mir etwas mit der Goldader zu tun hatte, aus der vielleicht noch mehr zu holen war. Und dass er sich gestern Nacht wohl nicht zufällig erst an meinem Bein festgehalten hatte und ich wenig später über sein Bein gestolpert war. Jedenfalls kam es nicht unerwartet, dass Herbert jetzt, während er sich die Reste der hausgemachten Spezialsoße vom Kinn wischte, anbot, sich um das Protokoll zu unserem Fund und die Weitergabe an den Zoll zu kümmern. Genau die Art von Schriftkram, vor dem er sich sonst immer drückte.