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Der nächste Morgen hatte noch ein paar mehr Überraschungen in petto gehabt – erstaunlicherweise allesamt positiv. In die erste war ich gleich auf meinem Weg zum Bad getreten, und sie bestätigte, dass Max inzwischen nicht nur gelegentlich selbstständig das engeres Wohnumfeld inspizierte, sondern sehr wohl in der Lage war, sich auch unabhängig von echten Perserteppichen und gepflegtem Antik-Mobiliar seiner Verdauungsreste ohne Aftermassage zu entledigen. Die zweite war mindestens ebenso positiv – an diesem Morgen stand beim Klingeln tatsächlich Julia vor der Tür, auf dem Weg zur Arbeit, attraktiv wie immer. Keine Erklärung für ihre Abwesenheit während der letzten Tage, aber: Da sei am kommenden Freitag eine Vernissage mit Bildern einer Freundin, ob ich Lust hätte, sie zu begleiten? Zugegeben, mit Rücksicht auf mich hatte sie nicht von Vernissage gesprochen, sondern von der Eröffnung einer Ausstellung, aber ja, ich hatte Lust und versprach, ihr keine Schande zu machen und von den Werken der Freundin angemessen begeistert zu sein.

Die größte Überraschung war mit der Post gekommen und hatte mich heute auf dieses triste Gelände in der Stadt Brandenburg an der Havel geführt. Es erinnerte stark an die Industriebrache, auf der ich Max das Leben gerettet hatte. Ehemals dürfte hier irgendein großer volkseigener Betrieb der halben Stadt Brandenburg Arbeit oder wenigstens eine Beschäftigung gegeben haben, jetzt wurde die Tristesse eher verstärkt durch das magere Tannenbäumchen, dessen glimmende Weihnachtskerzen die Dunkelheit des Morgens nur unterstrichen. Und natürlich regnete es weiter nasskalt in den Dezember hinein.

Immerhin drangen aus einigen der kleineren Gebäude gedämpftes Licht wie auch gedämpfter Lärm. Firmen mit zeitgemäßen Namen wie SAT-Technology, General Logistics und Brandenburg Optomechanics, sicher mit reichlich Steuergeldern hierher gelockt, verhinderten den endgültigen Tod des ehemaligen Industriestandortes, hatten ihn aber noch nicht entscheidend wiederbelebt. Zu diesen Unternehmen gehörte auch die Messtechnik Brandenburg GmbH und Co KG, deren Einladung zum Vorstellungsgespräch mir am Morgen der positiven Überraschungen ins Haus geflattert war. Ausgiebig, wenn auch nicht ganz erfolgreich, nutzte ich die Fußmatte am Eingang zu meinem eventuellen neuen Arbeitgeber. Zu Recht, denn im Gegensatz zum verschlissenen Äußeren des Gebäudes strahlte mir im Inneren chrom- und edelstahlblitzende Modernität entgegen.

Auch ohne Schneeregen und Matsch war der Weg in diese Hightech-Welt nicht einfach gewesen. An der Bahnverbindung von Berlin mit dem Regionalexpress gab es nichts zu meckern, die zwanzig Minuten Warten am Bahnhof Brandenburg auf den Bus und den finalen Fußmarsch von fünfzehn Minuten fand ich akzeptabel. Die eigentliche Hürde hatte in meinem Case Manager bei der Agentur für Arbeit bestanden, als ich dort wegen der Reisekosten vorstellig wurde.

»Zeigen Sie mal her!«

Ungläubig studierte Müller-Jungblut das Einladungsschreiben der Firma Messtechnik Brandenburg GmbH und Co KG an Herrn Dipl-Ing. Oskar Buscher: »… können wir uns sehr gut vorstellen, dass Sie dem Anforderungsprofil entsprechen … bitten um Kontaktaufnahme zur Terminvereinbarung mit unserer Frau Busch unter der Telefonnummer 03381…« Ingenieur Buscher wird eingeladen von Frau Busch, wenn das kein gutes Omen war, hatte ich gedacht. Mein Case Manager offenbar nicht.

»Das ist ja – hm – erstaunlich.«

»Was genau finden Sie erstaunlich? Dass es offene Stellen für Ingenieure gibt im allgemeinen Aufschwung? Oder dass man eine dieser Stellen ausgerechnet mir anbietet?«

»Ja, nein, ich meine nur …«

Mein Case Manager wusste offenbar nicht wirklich, was er meinte, oder wollte es mir nicht sagen. Vielleicht meinte er, ich hätte das mit den fünf Euro pro Bewerbungsschreiben falsch verstanden, die seien als kleine Zusatzunterstützung gedacht, nicht tatsächlich ernst zu nehmen? Auch wenn aktuell in Deutschland über 60.000 Ingenieure gesucht wurden? Oder sogar 300.000, wie der Tagesspiegel geschrieben hatte? Vielleicht meinte er, Deutschland sollte diese Stellen lieber mit Chinesen besetzen, weil China jedes Jahr zwischen 300.000 und 600.000 Ingenieure ausbildet?

»Also, was ist nun mit meinen Fahrtkosten?«

Inzwischen war Mister Case Manager zu der Überzeugung gekommen, dass es sich bei dem vorgelegten Schreiben nicht um eine Fälschung handelte … Man weiß ja nie bei den Langzeitlern, vielleicht wollen die sich nur einen schönen Tag in der wunderschönen Stadt Brandenburg machen.

»Eigentlich sind eventuell entstehende Reisekosten vor der Bewerbung bei uns zu beantragen, nicht erst vor dem Vorstellungsgespräch.«

Nun hatte es mir fast die Sprache verschlagen.

»Meinen Sie das ernst?«

»Na, nächstens bewerben Sie sich mal eben auf einen Job in der Südsee …«

Ich neige nicht wirklich zur Gewalt, war aber kurz davor, meine Einstellung zu ändern. Hatte Mister Case Manager gemerkt, dass er zu weit gegangen war? Jedenfalls hatte er sich noch ein paarmal das rechte Ohr gekratzt und schließlich einen Gutschein für die Bahn herausgerückt. Aber er blieb unverbesserlich.

»Nicht schwarz tauschen und das Geld versaufen! Sie bringen mir eine Bestätigung vom Arbeitgeber, dass Sie wirklich dort waren.«

Meine linke Hand legte sich beruhigend auf meinen rechten Arm, der jetzt antworten wollte. An dessen Stelle sagte ich nur: »Ich muss dort noch einen Bus vom Bahnhof nehmen, hin und zurück, und etwas zu Mittag essen zum Beispiel.«

»Den Bus rechnen Sie später mit mir ab. Und zum Essen können Sie sich ’ne Stulle mitnehmen, oder nicht? Übrigens, die Leute in Brandenburg müssen Ihnen auch bestätigen, dass die Ihre Reisekosten nicht übernehmen, klar?«

Wortlos hatte ich mir den Gutschein für die Bahn und das Formular, das mein hoffentlich zukünftiger Arbeitgeber abzeichnen sollte, geschnappt und das Jobcenter verlassen. Nun stand ich also vor Frau Busch. Die war wirklich so freundlich wie erhofft, übersah sogar die Matschspur, die ich trotz meiner Bemühungen am Eingang über die hochwertige Auslegeware hinter mir her zog.

»Schön, dass Sie zu uns gefunden haben, Herr Buscher«, begrüßte sie mich mit einladendem Lächeln. Ein kurzer Satz nur, der nicht erlaubte, ihre Herkunft eindeutig festzulegen. Sicher aber war sie nicht aus Brandenburg, wo selbst das einstudierte »Schönen Tag noch« an der Supermarktkasse eher klingt, als solle man von einem nächsten Besuch doch bitte Abstand nehmen. Leider war Frau Busch nicht für Neueinstellungen zuständig. Das wäre eigentlich der Herr Schliff senior, sagte sie, der aber sei heute wider Erwarten nicht im Hause. Dafür würde ich mit dem Juniorchef sprechen.

Natürlich hatte ich die Messtechnik Brandenburg gegoogelt. Auf ihrer Homepage www.messtechnikbrandenburg.de stellt sich die Firma als »hochinnovatives und zukunftorientiertes mittelständisches Unternehmen« vor. Wie viele Leute hier hochinnovativ und zukunftorientiert arbeiteten, wurde nicht angegeben. Insofern war unklar geblieben, ob ich es mit einem Personalchef oder dem Mittelständler persönlich zu tun haben würde.

Immerhin aber wusste ich, dass man sich in einem hochinnovativen Unternehmen nicht durch die Suche nach dem Türschild »Personalabteilung« outen durfte, sondern gegebenenfalls nach der Abteilung HR zu suchen hätte, »human resources«, und eben nicht nach dem Personalchef, sondern dem HR-Manager. Aber nun war klar, dass ich es direkt mit dem Juniorchef von Messtechnik Brandenburg zu tun bekäme.

»Nehmen Sie doch bitte dort Platz. Herr Schliff wird sofort für Sie Zeit haben.«

Offenbar war Frau Busch Optimistin und ihr Juniorchef ein viel beschäftigter Mann. Oder er wollte einfach nicht sein Frühstück mit mir teilen. Nach einer guten halben Stunde kam die Sache dann doch in Schwung, Junior Schliff stürmte aus seinem Büro, direkt an mir vorbei.

»Wo ist denn nun dieser Ingenieur aus Berlin, Doris?«

Ich erhob mich ein wenig erstaunt. Er musste mich doch gesehen haben! Doris wies in meine Richtung, Herr Schliff folgte ihrem Blick, schien mich aber immer noch nicht wahrzunehmen.

»Ich bin Oskar Buscher …«

Fast hätte ich noch »zu Diensten« gesagt.

Jetzt schaute der Juniorchef mich an, Verwirrung und Ungläubigkeit in seinem Blick.

»Sie sind das?«

Was stimmte hier nicht? Kannte Schliff junior mich irgendwoher, hatte mich aber in schlechter Erinnerung? Ich konnte mich nicht entsinnen, diesen Geltyp je gesehen zu haben. Sicher nicht Ingenieur, schätzte ich, eher BWL. Er blätterte, soweit ich sehen konnte, meine Bewerbungsunterlagen durch, die ihm Frau Busch in die Hand gedrückt hatte, suchte etwas Bestimmtes, fand es, zeigte es Doris und bedachte sie mit einem bösen Blick. Dann, zu mir gewandt:

»Na, wo Sie schon einmal da sind …«

Definitiv kein guter Start für ein Bewerbungsgespräch. Ich folgte dem Juniorchef in sein Büro und freute mich, wenigstens mit einer Vermutung richtig gelegen zu haben: Doris Busch folgte uns auf dem Fuße und räumte die Reste von Chefchens Frühstück von seinem Schreibtisch, während ich mich – unaufgefordert – setzte.

»Tja, wie Sie sehen, Herr …«

»Buscher«

»… Herr Buscher, sind wir ein ausgesprochen junges Unternehmen mit entsprechend jungen Mitarbeitern.«

Verdammt! Starrte ich so auffällig auf Frau Buschs Hintern? Langzeitarbeitsloser Jobbettler zeigt unangemessenes Interesse an Chefchens Eigentum? Wahrscheinlich gehörten sein Ohrring und seine Sonnenstudiobräune zu seiner Vorstellung vom »jungen Team«. Oder wollte er seine Verbundenheit zur Unterschicht demonstrieren?

»Alle hoch motiviert! Zum Bespiel arbeiten wir vollkommen papierlos. Papier ist streng verboten, alles CAD und so. Tatsächlich bin ich hier, einmal abgesehen von meinem Vater, der Älteste!«

Selbstgefällig strich er durch seine gegelte Designerfrisur. »Wir sind eine absolute High-tech-Veranstaltung.« Er zog sein iPhone aus der Jacketttasche. »Ein Klick, und ich bin drin in unseren neuesten Konstruktionsplänen, egal, wo ich gerade zu tun habe auf der Welt!«

Es klappte sogar, irgendein Schaltplan erschien auf dem Display, viel zu erkennen war nicht. Chefchen strahlte wie ein Schneekönig, als hätte er das iPhone persönlich erfunden. Dass die NSA auch an deutschen Konstruktionsplänen höchst interessiert war, schien er noch nie gehört zu haben.

»Morgen zum Beispiel bin ich in Hamburg, bei Airbus. Und«, er stockte kurz, offenbar selbst überrascht, mich in dieses Geheimnis einzuweihen, »bald, da bin ich sicher, werden wir mit unserer Messtechnik aus Brandenburg den Weltraum erobern.«

Zufrieden lehnte er sich zurück, sah sich wahrscheinlich mit seiner Technik und einem Laserschwert die Königin eines fernen Planeten befreien. Ob ihm bekannt war, dass Menschen bereits Jahre vor seiner Geburt auf dem Mond herumspaziert waren? »Junges Unternehmen«, »junge Mitarbeiter« – mir war inzwischen klar, weshalb Chefchen mich nicht als den potenziellen Stellenbewerber identifiziert hatte. Wem immer ich dieses Bewerbungsgespräch zu verdanken hatte, war mein Geburtsdatum entgangen.

Schliff junior schwadronierte inzwischen munter weiter in seinem deutsch-englischem BWL-Jargon über »flexibility«, »Humankapital«, »employability«, »Teamfähigkeit« usw., und über die »advanced technology«, mit der hier gearbeitet werde, alles »high end« natürlich. War ihm bewusst, dass Handy, Computer, das Internet, der MP3-Standard und CAD von meiner Generation oder sogar früher erfunden worden waren? Dass seine Generation sich bisher höchstens mit der Entwicklung von Computerspielen, facebook oder kostenpflichtigen Apps für sein Smartphone hervorgetan hatte? Wahrscheinlich hielt er Leute wie mich für die Erfinder der Dampflokomotive!

Gel-Chefchen lehnte sich zurück, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, was trotz langärmligem Hemd seine Kraftstudio-Muskeln zur Geltung brachte. Ich vermutete, dass sich unter dem Hemd wahrscheinlich ein Tattoo verbarg. Aber Schliff hatte ein Problem. Er konnte mir nicht einfach sagen: »Sie sind zu alt für den Job!« Sicher kannte er das Anti-Diskriminierungsgesetz. Also versuchte er es anders.

»Meinen Sie denn, Sie könnten sich wieder an regelmäßiges frühes Aufstehen gewöhnen? Sind Sie sicher, dass Sie auch mal länger als acht Stunden pro Tag durchhalten? Bei unserer Betriebsgröße können wir uns Ausfallzeiten durch Krankheit kaum leisten. Hier herrscht übrigens ein striktes Alkoholverbot!«

Plötzlich sah ich nur noch verschwommen. Zu viel Adrenalin? Ein meinem Alter angemessener kleiner Schlaganfall? Brauchte ich doch endlich eine Brille? Alles nein. Vollkommen unbemerkt hatten sich mir Tränen in die Augen geschlichen. Ich war plötzlich wieder im vierten Schuljahr, der kleine Oskar, der vollkommen ungerechtfertigt vor versammelter Klasse vom Lehrer gedemütigt wird.

Die zuverlässige Frau Busch meldete über die Gegensprechanlage, dass Herrn Schliffs Neun-Uhr-dreißig-Termin warte. Schliff erhob sich und dabei auch bedauernd seine Schultern.

»Eigentlich, das tut mir natürlich furchtbar leid, ist die Stelle schon so gut wie besetzt. Wir melden uns, wenn sich doch noch eine Möglichkeit ergibt, Herr Busch.«

Schön, mein Case Manager hat recht behalten. Warum sollte eine der 60.000 oder 300.000 offenen Ingenieurstellen ausgerechnet mit mir besetzt werden? Einem Langzeitarbeitslosen, der mindestens dreimal die Woche nicht pünktlich zur Arbeit erscheinen und sich spätestens im Zug nach Brandenburg seinen Frühstücksflachmann reingeziehen würde? Der – wenn überhaupt – noch mit dem Abakus rechnete?

Ich ignorierte die ausgestreckte Hand von Schliff, verabschiedete mich nicht einmal von der sicher unschuldigen Frau Busch. Natürlich vergaß ich meine Bewerbungsmappe mit den Zeugnissen und meinen zwei Patentschriften, zusammen fast sieben Euro Kopierkosten. Erst während ich wieder durch den Matsch zurück zur Bushaltestelle stapfte, fiel mir ein, dass ich auch ohne die Unterschrift zur Bestätigung eines wahrgenommenen Vorstellungstermins abgezogen war. Egal.

Es gibt ein Pilotprojekt der Bundesregierung: die anonyme Bewerbung. Keine Namen, keine Altersangabe. Einmal abgesehen von Grammatik und Rechtschreibung in der Bewerbung, müssen sich der Achmed, die Cindy oder der Ingenieur Jahrgang 1962 ihrem potenziellen Arbeitgeber aber am Ende nun einmal vorstellen.

Am Kiosk im Bahnhof Brandenburg kaufte ich mir dann tatsächlich einen Flachmann. Doppelkorn. Bis Berlin war die Flasche leer.