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Hätte ich die Nacht ohne meine pubertären Julia-Fantasien verbracht, hätte ich mir vielleicht nicht erst am nächsten Morgen ein paar Fragen gestellt, die auf der Hand lagen.

Zum Beispiel, was den »dritten Mann« in der Unterhaltung von Julia und Keiser junior betraf, den sie angeblich nicht kannte. Dieser Mann war tatsächlich nicht Keiser senior, hatte ich erfahren, während Julia vor unserem Heimweg noch kurz auf der Designertoilette verschwunden war. Tatsächlich war er der Gastgeber des Abends, ein bekannter Kunstsammler und Mäzen, mit schickem Penthaus auf dem Dach der ehemaligen Glühlampenfabrik. Warum hatte mir Julia das nicht erzählen wollen?

Zweitens rief mir meine Erinnerung den Firnisgeruch und meine Kopfschmerzen ins Gedächtnis – und endlich auch, wo ich schon einmal mit Kopfschmerzen auf diesen Geruch reagiert hatte: vor der Tür zum Dachboden, als ich mich dort neulich nach meinem sonntäglichen Zeitungsklau verstecken musste.

Außerdem war seltsam, dass sich Julia gestern zu keinem Zeitpunkt nach ihrem Bruder und meinen diesbezüglichen Bemühungen erkundigt hatte. Dann hätte ich sie endlich nach der Bedeutung ihrer Nachricht an Jules fragen können, danach, was da so dringlich war mit Brüderchen und der bevorstehenden Auktion.

Nicht zu vergessen, wie sehr ich sie offenbar mit meiner Bemerkung vor dem Frauenknast erschreckt hatte. Höchst merkwürdig das alles.

Früh aufstehen war noch nie wirklich ein Problem für mich, schon als angestellter Ingenieur hatte ich die ruhigen Stunden zwischen sechs und acht Uhr morgens schätzen gelernt, in denen man ungestört von Kollegen und Anrufen eine Menge schafft. Und erst recht dann in meinem eigenen Existenzgründer-Betrieb.

Für einen Hartz-IV-Empfänger ist es dagegen in der Regel schwierig, die frühen Morgenstunden sinnvoll zu nutzen, aber ich hatte die Gewohnheit beibehalten. Das zahlte sich jetzt aus, denn der Morgenspaziergang gehörte essentiell zum Programm »stubenrein« für Max. Wobei es mir weniger um die Werterhaltung antiker Perserteppiche als um den Wunsch ging, mich weiterhin sorglos barfuß in meiner Wohnung bewegen zu können.

Gegen acht Uhr holte uns Herbert mit dem städtischen Fahrzeug ab. Max kam natürlich mit. Inzwischen der Höhlensicherheit meiner Sporttasche entwachsen, bestand er darauf, auf meinem Schoß zu sitzen und uns bei der Inspektion unseres Kontrollbereichs zu unterstützen. Heute begannen wir im Böhmischen Dorf, das ist der Kiez zwischen Richardstraße und Kirchgasse, von Protestanten aus Böhmen in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts als Böhmisch-Rixdorf gegründet. Das Böhmische Dorf hat seinen beschaulich-dörflichen Charakter bis heute weitgehend bewahrt und ist somit in Sachen illegaler Müll in der Regel unergiebig – der perfekte Start in einen ruhigen Ermittlertag.

»Noch ein wenig Training und Max kann unsere Müllrunde alleine machen. Wir sitzen gemütlich beim Frühstück, und danach führt uns Max zu den Müllhaufen, die er inzwischen gefunden hat«, meinte Herbert.

»Gute Idee. Erst muss ich ihn allerdings so weit haben, dass er selbst keine illegalen Haufen mehr produziert.«

Schwerer Fehler – damit hatte ich Herbert wieder einmal zu einem ausführlichen Vortrag zur Hundehaltung provoziert.

»Nach jedem Erwachen, ungefähr eine Viertelstunde nach den Mahlzeiten und nach dem Trinken, geht es konsequent Gassi – und großes Lob, wenn der Gang erfolgreich war. Lob ist sehr wichtig, Hunde lernen genau wie Kinder durch Lob und Tadel. Gassigehen muss für Max für immer mit Geschäft verrichten in Zusammenhang gebracht werden.«

»Mm.«

»Konsequenz ist das Zauberwort. Ihr müsst zu Anfang immer die gleiche Stelle besuchen. Da bleibt ihr, bis das Geschäft erledigt ist.«

»Mm.«

»Bei Erfolg gibt’s ein Leckerli.«

»Mm.«

»Du musst Max beobachten. Schnüffelt er aufgeregt am Boden oder fängt an, sich suchend im Kreis zu drehen – sofort raus!«

»Mm.«

»Und was machst du, wenn Max in der Wohnung doch noch mal ein Unfall passiert?«

Ich könnte Herbert doch einen Gefallen tun, dachte ich, und antwortete: »Sofort kräftig eins auf den Pelz und mit der Nase in die Kacke drücken!«

»Ganz falsch! Das versteht er nicht. Er versteht nur, dass er sich beim nächsten Mal nicht erwischen lassen darf, und sucht sich ein verstecktes Plätzchen. Da kannst du dann lange forschen, woher es stinkt!«

Manchmal ist es so einfach, seinen Mitmenschen eine Freude zu bereiten. Alles, was Herbert dozierte, war mir von www.hundewelpen.de oder www.hallohund.de längst bekannt.

Trotzdem gab es seine Ratschläge heute Vormittag nicht kostenlos.

»Da ist noch eine andere Sache, die ich mit dir besprechen muss, Oskar.«

»Mm.«

»Es geht um Geld.«

»Mm – was?«

Aber bevor Herbert mit »der anderen Sache« loslegen konnte, war mir beim Stichwort Geld etwas eingefallen.

»Entschuldige, dass ich dich unterbreche. Aber können wir vorher noch eben beim Jobcenter vorbeifahren?«

Frau Busch von Messtechnik Brandenburg hatte mir tatsächlich das von ihrem Juniorchef unterschriebene Formular über mein Bewerbungsgespräch geschickt. Bevor mir mein Case Manager den Gutschein für die Bahnfahrt Berlin-Brandenburg-Berlin von der nächsten Rate Grundsicherung abzog oder die Bestätigung irgendwo auf dem Dienstweg verschwand, wollte ich sie lieber schnell persönlich bei Müller-Jungblut abgeben. Schließlich schuldete mir das Jobcenter auch noch die Busfahrt vom Bahnhof Brandenburg zur Firma und zurück.

Mit meiner Kunden-Endnummer fünf war für mich die dritte Etage im Jobcenter zuständig. Hier war der Warteraum gut besucht wie immer. An den Wänden standen Tische, an denen man seine Anträge ausfüllen konnte. Zeit dafür war ausreichend vorhanden, bis endlich die eigene Wartenummer aufgerufen wurde. An einem dieser Tische sah ich jemanden, den ich hier nun überhaupt nicht erwartet hätte. Was hatte der hier zu suchen?

Ich wollte ihn gerade fragen, da ging bei Müller-Jungblut die Tür auf, das war im Moment wichtiger. Ich hatte schon fast den Sprung in das Büro meines Case Managers geschafft, als sich ein Mann neben mich drängelte, der mindestens zehn Jahre jünger war, als er aussah, und mir seine Wartenummer vor die Nase hielt.

»Eigentlich …«

»Ich will nur schnell was abgeben. Dauert keine zwei Minuten.«

Der Typ ließ mich tatsächlich vor! Mit dieser Einstellung würde er bis zum Grab Langzeitler bleiben. Aber vielleicht war das ja sein Lebensplan.

Gnädig nahm Müller-Jungblut die Bestätigung aus Brandenburg entgegen. »Aber den Job haben Sie nicht bekommen, oder?«, konnte er sich nicht verkneifen aufzutrumpfen. Ich ließ ihn ohne die offensichtliche Antwort und hielt dem artig wartenden Hartz-IV-Kollegen die Tür auf.

»Hallo Gökhan, was machst du denn hier?«

Gökhan Öztürk musste mich gesehen haben, aber sofort hatte er sich weggedreht. Lag Herbert mit seinem Verdacht doch richtig? Ich schaute Gökhan über die Schulter: Er füllte einen Erstantrag auf Hartz IV aus, den er jetzt schnell unter der aktuelle Ausgabe der Hürriyet versteckte. Plötzlich war mir seine Reaktion klar.

»Muss dir nicht peinlich sein, Gökhan. So ein Ding haben alle ausgefüllt, die du hier siehst.«

»Ich habe immer alleine für mich gesorgt und für Familie, immer.«

»Ja, und in dieser Zeit hast du Steuern gezahlt und Sozialabgaben, im Gegensatz zu unseren Profi-Arbeitslosen, die die Arbeitslosigkeit als Familientradition betreiben und in mindestens dritter Generation von Kindergeld und Hartz IV leben. Deshalb hast du jedes Recht auf Hilfe. Ist doch sowieso nur, bis deine Versicherung zahlt.«

Gökhan schaute mich traurig an.

»Dein Laden war doch versichert, oder?«

»Ich habe Versicherung. Aber Feuerwehr sagt, ich habe vielleicht Feuer selbst gemacht. Hat nicht von alleine gebrannt.«

»Ja, das glaube ich auch.«

Nun war Gökhan entsetzt.

»Aber …«

»Nein, ich meine nicht, dass du deinen Laden selbst angezündet hast. Aber dass jemand das Feuer gelegt hat und den Sprengsatz dazu. Warum sagst du denen nicht, wer das war? Waren das dieselben Leute, die dich zusammengeschlagen haben?«

Gökhan blieb stumm.

»Waren das die Leute aus dem Mardin-Grill?«

Gökhan blieb weiter stumm und starrte auf seine Zeitung mit dem darunter versteckten Hartz-IV-Antrag. Dann murmelte er etwas.

»Was hast du gesagt?« Ich hatte »mach Salami« verstanden. »Willst du jetzt Wurst verkaufen statt Gemüse?«

»Nix Salami. Mach-alla-mi. Große Familie, mächtiger Chef in Neukölln. Deshalb ich kann nicht zu Polizei. Oder die Feuerwehr sagen. Ist nicht für mich. Aber, du weißt, ich habe Frau. Und Kinder. Drei.«

Dem kräftigen Gökhan standen Tränen in den Augen.

Nach meinem Zwischenstopp im Jobcenter nahmen wir uns den Schillerkiez vor, eine deutlich vielversprechendere Gegend für unsere Suche nach Müll als das Böhmische Dorf. Auf der Fahrt dahin erzählte ich Herbert von meinem Gespräch mit Öztürk.

»Kennst du hier in Neukölln eine Familie – äh – hört sich so an wie ›mach Salami‹?«

Herbert lachte. »Du meinst Mhallami, oder Mhallamiye, spricht man Machallami aus. Das ist keine Familie. Das sind die Leute, die bei uns unter der Bezeichnung Libanon-Kurden laufen.«

Libanon-Kurden sagte mir natürlich was. Am U-Bahnhof Hermannstraße sehe ich fast täglich ihre »Kügelchenjungs«, die eigens aus dem Libanon eingeschleust werden und die 10.000 Euro »Reisekosten« durch Heroinverkauf abarbeiten müssen. Weil sie noch nicht strafmündig sind, landen sie nicht im Knast, wenn sie erwischt werden.

Herbert meinte, ich übertriebe mal wieder. »Kann ja sein, dass ein paar von denen sich mit so was über Wasser halten müssen. Aber im Grunde sind das arme Schweine, werden ja nicht nur von uns Deutschen diskriminiert. Die Araber erkennen sie nicht als Araber an und die Kurden nicht als Kurden. Ist doch klar, dass sie da in ihren Clans zusammenhalten.«

»Und deshalb müssen sie ihr Geld mit Drogen verdienen, Schutzgelderpressung, Zuhälterei? Mit Einbrüchen ins KaDe-We? Oder mal eben ein Pokerturnier überfallen?«

»Ich sag doch, du übertreibst. Die meisten von denen leben hier ganz normal, vorwiegend als Geschäftsleute, mit einem kleinen Restaurant zum Beispiel. Warum sollte es denn ausgerechnet unter den Mhallamiye keine Kriminellen geben?«

Wobei Herbert unterschlug, dass diese Mach-Salamis in der Kriminalitätsstatistik mehr als überrepräsentiert sind. Das fand ich bei seinem Detailwissen zu diesen Leuten erstaunlich. Überhaupt, woher wusste er plötzlich so viel über diesen Clan? Ich konnte mir nicht einmal den Namen merken.

»Weißt du, Herbert, was mich an der Sache am meisten irritiert? Unser Öztürk will nach all den Jahren hier mitsamt Familie zurück in die Türkei. Er sagt, wenn auch nicht in diesen Worten, dass wir, die Deutschen, bestimmten Ausländern rechtsfreie Räume überließen und ihn nicht schützen könnten. Das mache ihm Angst, aber mehr noch fürchtet er, dass seine Söhne sich an diesen Leuten orientieren könnten.«

Trotz seines schlechten Rufs – gut 20.000 Menschen wohnen hier auf 95 Hektar, mehr als die Hälfte davon in »prekären« Verhältnissen – hat der Schillerkiez seine schönen Seiten. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Wohnquartier für Besserverdienende geplant und vom Bombenkrieg weitgehend verschont geblieben, kann man sich noch heute über einige aufwendige Fassaden aus der Gründerzeit freuen. Zentrale Achse des Kiezes ist die Schillerpromenade, eine fünfzig Meter breite, baumbestandene Allee mit großzügigem Fußweg und Bänken auf der Mittelpromenade. Auf diesen Bänken genossen wir im Sommer gerne eine Pizza auf die Hand von Pizza Joe um die Ecke oder Pazzi X. Heute machten Herbert und ich unsere Mittagspause im Bierbaum 3. Hier waren nicht nur die Preise erschwinglich (Frühstück ab zwei Euro – und das bis nachmittags um zwei), im Bierbaum durfte Herbert auch noch rauchen!

Unser Dienstfahrzeug mussten wir eine Ecke weiter an der Genezarethkirche parken, vor dem Bierbaum war Biker-Territorium.

»Ich lade ein – hatte ich dir ja neulich versprochen.«

Ach ja, Herberts Goldader!

»Stimmt. Und, ob du es weißt oder nicht, du bist sogar flüssig!«

Ich kramte den Fünfzig-Euro-Schein hervor, den ich mir von ihm für den Abend mit Julia geborgt hatte.

»Hier, unbeschädigt zurück. Der Abend war preisgünstiger als erwartet.«

»Auf steinreichen Macker hättest du damit sowie nicht machen können. Außerdem, was sind das für Frauen, denen es ums Geld geht!«

Na ja, ein paar hätte ich Herbert da schon nennen können.

»Darum ging es auch nicht, nur um einen Gute-Nacht-Wein oder so etwas. Aber den gab’s kostenlos vom Gastgeber. Auf jeden Fall: danke.«

Herbert steckte den Schein ein.

»Gern geschehen. Die Frage ist, äh, ob du dich revanchieren könntest.«

»Selbstverständlich. Womit?«

»Das ist das Problem. Jetzt brauche ich Geld.«

Dass es um Geld ging, hatte Herbert schon vorhin erwähnt.

»Von mir? Da hast du dir den absolut idealen Kreditgeber ausgesucht! Wie viel große Scheine dürfen’s denn sein?«

»Ernsthaft. Ich brauche das Geld wirklich. Nur für ein paar Tage. Du hast doch deinen Notgroschen in Österreich. Kriegst zehn Prozent Zinsen, meinetwegen auch zwanzig, garantiert.«

Ernsthaft. Ich machte mir ernsthaft Sorgen um Herbert. Sein geheimnisvoller 300-Euro-Reichtum, mit dem er sogar eine extra Runde Bratwurst für uns finanziert hatte, die Bemerkungen seiner Frau über geheimnisvolle Aktivitäten, jetzt das Angebot von Mafia-Zinsen. Klang nicht gut.

»Kannst du mir bitte verraten, worum es geht? Klar bekommst du mein letztes Hemd, wenn du eine neue Niere brauchst. Oder deine Tochter. Oder wenn dir sonst jemand die Kniescheiben zertrümmert.«

»Ich brauche es nur für ein paar Tage. Investition in eine todsichere Sache!«

»Über die du mir aber nichts erzählen willst?«

»Das kann ich nicht. Hab ich versprochen.«

Ich hatte eine Idee, wozu mein Partner plötzlich Geld brauchte, aber die gefiel mir überhaupt nicht. Ich sagte etwas wie dass ich schon Genaueres von ihm erfahren müsse, war aber eigentlich mehr deprimiert als neugierig. Ob in ursächlichem Zusammenhang damit oder eher zufällig, mit meiner Lüge, ich sei Kriminalpolizist, hatte sich meine Umwelt tatsächlich verändert. Es schien, als vertraue mir niemand mehr die Wahrheit an. Julia unterhielt sich intensiv mit einem Kunstsammler-Fabrikbesitzer, den sie angeblich nicht kannte. Mein Partner Herbert wollte mir nicht anvertrauen, wie er plötzlich zu Geld gekommen war, und erst recht nicht, warum er dringend mehr brauchte. Und mein eigener Sohn hatte mir bisher nicht verraten, dass er Julias Bruder Jules längst gefunden hatte – denn wie sonst war zu erklären, dass ich auf Jules Baumgärtners facebook-Seite meinen Sohn Thomas, komplett mit Foto, als dessen Freund entdeckt hatte?