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»Äh … ja?«

Ich war gerade damit beschäftigt, meinen lebenden Zeugen wenigsten notdürftig zu versorgen, als ich meinte, ein vorsichtiges Klopfen an meiner Wohnungstür wahrzunehmen.

Konnte nicht sein. Wer sollte morgens um vier Uhr bei mir klopfen? Wahrscheinlich ein Luftzug im Treppenhaus, der an der altersschwachen Tür rüttelte. Ich kümmerte mich weiter um meinen Gast und fand das Handtuch, dass ich für ihn gesucht hatte: Palmen am Tropenstrand, untergehende Sonne über dem Meer, vor Jahren für meinen damals kleinen Sohn an der Nordsee erstanden.

Aber es klopfte wieder, Zweifel nicht mehr möglich. Wer sollte das sein? Nicht einmal mein Sohn mit seiner Gabe, unvorhergesehen mit der mehr als Forderung denn als Bitte vorgetragenen Nachfrage nach einem Kleinkredit aufzutauchen, würde sich dafür den frühen Frühmorgen aussuchen. War man mir vom Fabrikgelände gefolgt? Wollte mir doch noch eins über die Rübe ziehen? Hatte ich etwas gesehen, was ich nicht sehen sollte? Aber ich hatte doch gar nichts gesehen! Also die klassisch-tragische Variante: Ich bekam eins über die Rübe, weil man fälschlich annahm, ich hätte etwas beobachtet?

Auf Socken schlich ich zur Tür, löschte das Licht und lugte durch den Spion. Kein Sohn, kein Tätowierter mit einer Axt im Anschlag. Eine Frau. Eine sehr hübsche Frau. Eine sehr hübsche Frau um die dreißig mit großen Kulleraugen, der man keinen Wunsch abschlagen würde, auch nicht morgens um vier Uhr. Schon seit Wochen hatte ich überlegt, wie ich unauffällig Kontakt zu der neuen Nachbarin herstellen konnte, und nun stand sie ganz ohne Bemühungen meinerseits vor meiner Tür!

»Entschuldigen Sie, Herr …« – kurzer Blick auf mein Türschild – »… Buscher. Ich weiß, es ist mitten in der Nacht. Ich … ich habe mich nur getraut, weil ich noch Licht gesehen habe in Ihrer Wohnung.«

Ich bemühte mich um einen Blick, der zu einem Mann passt, für den es alles andere als ungewöhnlich ist, dass hübsche junge Frauen nachts bei ihm klopfen. Nun noch ein weltmännischer Spruch dazu …

»Oh – äh … ja?«

»Ich bin Julia Baumgärtner, die Wohnung schräg unter Ihnen, sozusagen, nach vorne hinaus. Neulich eingezogen.«

Das weiß ich, Julia Baumgärtner. Dein Namensschild hatte ich mir sofort angeschaut.

»Ich war eben mal draußen. Und jetzt habe ich mich ausgesperrt, wirklich blöde. Der Schlüssel steckt auch noch von innen! Können Sie mir irgendwie helfen?«

Ich hatte erwartet, eine Schockstarre würde mich überkommen. Im Gegenteil aber schaltete mein hormonstimuliertes Hirn auf overdrive und bot die optimale Reaktion an.

»Tut mir leid, ich verstehe absolut nichts von Schlössern, schöne Julia Baumgärtner. Aber kommen Sie doch rein. Sie können auf meiner Gästecouch schlafen. Ich gebe Ihnen die dünnste Decke, die ich auftreiben kann. Bald wird Ihnen höllisch kalt und Sie kriechen zu mir ins Bett. Dann rammeln wir wie die Karnickel, wenigstens bis die Sonne aufgeht.«

Eine überschlägige Berechnung von Chancen und Risiken dieses Vorgehens überzeugte mich, dass die Variante »edler Ritter« die bessere wäre. Bewunderung und ewige Dankbarkeit wären mein Lohn. Ich bat Julia Baumgärtner einen Moment zu warten, kramte in meinem Werkzeugkasten in der Küche nach einem festen Draht und einem flachen Schraubenzieher und gemeinsam trappsten wir meine Hinterhaustreppe hinunter und ihre Vorderhaustreppe wieder hinauf.

Zugeschlagene Tür, nicht abgeschlossen, ist selbst mit Schlüssel im Türschloss von innen einfach. Mit Draht oder Schraubenzieher fährt man vorsichtig zwischen Rahmen und Türblatt, bis man die Stelle fühlt, wo der Sperrriegel von der Feder im Rahmen gehalten wird. Diesen Sperrriegel drückt man in Richtung Türblatt und zack! ist die Tür offen. Große Überraschung: Nicht ganz so zack, aber letztlich doch klappte das so auch an der Wohnungstür von Julia Baumgärtner.

Frau Baumgärtner war erwartungsgemäß beeindruckt. »Sie haben mir das Leben gerettet! Wie haben Sie das nur geschafft? Wie ein gelernter Einbrecher!«

Ich lächelte bescheidenen und ließ es bei einem »Na ja …« bewenden.

»Sind Sie das?«

Mein Hirn, immer noch auf Hormonturbo, war gerade dabei, die angefallene Dankesschuld für die erbrachte Nothilfe zu addieren. Inklusive Nachtzuschlag.

»Bin ich was?«

»Gelernter Einbrecher?«

»Na ja, dienstlich bin ich eher das Gegenteil.«

»Sind Sie Polizist?«

»So etwas in der Art. Ermittler.«

Leichtes Krausen umspielte Julia Baumgärtners Lippen.

»Privatdetektiv?«

Private Schnüffler schienen bei ihr nicht gerade hohes Ansehen zu genießen.

»Um Gottes willen, nein. Ich bin im öffentlichen Dienst.«

Damit schien meine Weißer-Ritter-Rüstung wieder hergestellt. Frau Baumgärtner schenkte mir ein Lächeln und, wichtiger, eine klitzekleine Perspektive, bevor sie in ihre Wohnung verschwand: »Jedenfalls bin ich Ihnen unheimlich dankbar. Hoffentlich kann ich mich bald einmal revanchieren.«

Da gingen mir sofort verschiedenste Möglichkeiten durch den Kopf.

In irgendeiner tief liegenden Region registrierte mein Hirn, dass etwas an dieser Nachbarin, die »eben mal draußen« gewesen war, nicht ins Bild passte. Aber es war zu sehr mit Julia Baumgärtner als wunderschöner junger Frau beschäftigt, um der Sache aktuell nachzugehen.