Ich sitze in meiner Hinterhauswohnung und versuche die Bilder zu ignorieren, die mir mein Kopfkino präsentiert. Top modern natürlich, perfektes 3D-Bild auch ohne Rot-Blau-Brille. »Verehrte Zuschauerinnen und Zuschauer, wir melden uns mit einer Lifeschaltung direkt aus dem Schlafzimmer von Julia Baumgärtner!«
Schönen Dank! Natürlich misslingt es mir, auf ein anderes Programm zu schalten, im Gegenteil bekomme ich nun auch den Ton mitgeliefert und höre die typischen rhythmischen Geräusche. Was natürlich Blödsinn ist, pure Einbildung. Aber vorhin, wird mir gewärtig, hatte ich das Fenster in der Küche kurz geöffnet. Gut möglich, dass ich mehr oder weniger unbewusst genau solche Geräusche wahrgenommen, aber natürlich nicht mit Julias Wohnung in Verbindung gebracht habe. Ihre heimliche Wirkung könnte mit ein Grund für die famose Idee gewesen sein, mitten in der Nacht zu ihr zu schleichen.
Max ist aufgewacht, schaut mich interessiert an. Von meinem Besuch bei Julia hat er nichts mitbekommen. Aber selbst wenn, hätte er mich nicht als traurige Witzfigur gesehen. Das ist es, was uns am Partner Hund so begeistert: die unverbrüchliche Loyalität. Egal was ich tue, ich werde immer sein Alphatier bleiben. Beruhigt, dass seine Welt in Ordnung ist (das Alphatier ist da, also was soll sein?), schläft er wieder ein.
Ich natürlich nicht. Wie denn? Ich versuche, mich mit Überlegungen zur weiteren Optimierung meiner unterirdischen Starkstromleitungen abzulenken. Sinnlos. Immer wieder gewinnen die Vorstellungen zu meiner persönlichen Ödipus-Variante die Oberhand. Wie lange geht das schon? War das Liebe auf den ersten Blick, als ich die beiden neulich in meiner Wohnung zurückgelassen habe? Mein Fehler also? Sind sie da sofort übereinander hergefallen? Eher wird das irgendwie über den Kontakt Thomas – Jules im Krumpelbumpel gelaufen sein. Kein Wunder, dass Julia mich nicht mehr nach ihrem Bruder gefragt hat. »Nun kenne ich Ihre ganze Familie«, hatte sie auf der Vernissage bemerkt – da war mir allerdings nicht klar gewesen, wie gut! Wie lange weiß sie schon, dass ich kein Kriminalkommissar bin? Immerhin hat sie mich nicht mehr um die Erledigung irgendwelcher Park- oder Geschwindigkeitssünden gebeten. Soll ich meinem Sohn dafür dankbar sein? Und was veranstalten die beiden gerade sonst noch so? Lachen sich tot über mich? Noch fünf Stunden bis zum Dienstbeginn mit Herbert. Fünf Stunden allein mit mir und meinem Kopfkino!
Was findet Julia an meinem Sohn? Immerhin hat Manuela vom Krumpelbumpel Thomas als gut aussehend beschrieben. Und ganz offenbar teilt Julia diese Einschätzung. Hatte Sigmund Freund mit seiner Interpretation des alten Mythos als archetypische Vater-Sohn-Konkurrenz doch recht? Nur dass es sich in meinem Fall um eine besonders perverse Variante handelt, in der diese Konkurrenz seit Jahren vom Vater ausgeht?
Auf einem altsprachlichen Gymnasium zum Abitur gekommen (als die Entscheidung für den altsprachlichen Zweig fiel, wollte ich noch Archäologe werden), wusste ich, dass der Name Ödipus wahrscheinlich vom griechischen Oidipus kommt, was Schwellfuß bedeutet – seinerzeit stand nicht gleich das Jugendamt auf der Matte, als Vater Laios und Mutter Iokaste in Ausübung der elterlichen Rechte ihrem Sohn vorsorglich ein paar Löcher durch die Füße stanzten. Und der hatte sich noch nicht einmal an Vaters Freundin vergriffen!
Tja, lieber Nikolaus, heute ist der 6. Dezember, und ich weiß nicht recht, was ich zu meiner Verteidigung vorbringen kann. Liebe, das wissen wir beide, entschuldigt alles. Aber es ist ja nicht einmal Liebe, was – so unpassend sie auch immer wäre – mein Verlangen nach Julia beschreibt. Es ist die Obsession eines Mannes, der das Gefühl hat, die Zeit laufe ihm davon. Ein Mann, mit dem du, Julia, dich tatsächlich nicht einlassen solltest. Erkennt er doch an dem zweiundfünfzigsten von ihm erlebten Nikolaustag, dass er eventuell seit dessen Geburt in Konkurrenz zu seinem Sohnes gelebt hat. War das wirklich so? Ich kann es eigentlich nicht glauben. Jedenfalls, lieber Nikolaus, sehe ich ein: kein Zuckerwerk, keine Brezeln für mich dieses Jahr.
»Du meinst also, Oskar Buscher, du bist ein Schwein?«
»Sieht so aus.«
»Vielleicht, lieber Oskar, bist du ein Schwein. Vielleicht auch nicht. Aber eines bist du sicher: ein ziemlicher Idiot.«
Immer noch mehr als drei Stunden bis zur Müllrunde mit Herbert, immer noch mehr als drei Stunden allein mit mir. Wenigstens fällt mir eine Beschäftigung ein: Herbert hatte mir einen Rest Silikonpaste gegeben, die er von irgendwelchen Heimwerkeraktivitäten an seinem Badezimmer übrig hat. Damit dichte ich nun die brüchigen Sohlen meiner Stiefel, ein paar Tage könnte das halten und für trockene Füße sorgen. Ich warte ein wenig, dass das Silikon trocknet, dann geht es gegen dessen anfänglichen Protest hinaus zu einer vorverlegten Morgenrunde mit Max. Selbstverständlich – wann sonst als ausgerechnet jetzt hätte sich mein Sohn auf den Heimweg von Julia machen sollen? Aber wider Erwarten grinst er nicht höhnisch in meine Richtung oder streckt die Finger zum Ackermann-V. Im Gegenteil tut er, als hätte er mich nicht gesehen, und verschwindet in Richtung seines Autos. Wieder habe ich Thomas falsch eingeschätzt.
Komplett freisprechen kann ich meinen Sohn dann aber doch nicht. Natürlich habe ich keinen Anspruch darauf, über seine jeweilige Beziehung informiert zu werden, und erst recht nicht, in dieser Hinsicht meine (ihm noch dazu unbekannten) Wünsche gegen die seinen abzuwägen. Aber er hat mir auch nicht über seinen Kontakt zu ihrem Bruder Julius berichtet, und das ist abgemacht gewesen. Ein wenig passen die Puzzleteile inzwischen zusammen beziehungsweise gibt es eine Möglichkeit, wie sie zusammenpassen könnten: Warum Julia bei unserer ersten Begegnung trotz Regen trockene Haare gehabt hat, warum sie ihren Bruder unbedingt noch vor der Weihnachtsauktion gefunden haben wollte, warum für den Kontakt zum Bruder ein Kripobeamter in inoffizieller Mission geeignet war, warum auch der Pascha den Bruder dringlich sehen will – und warum ich nicht nur auf der Vernissage neulich Kopfschmerzen bekommen habe. Eigentlich habe ich mir die Zusammenhänge schon seit ein paar Tagen zusammengereimt, bin aber einer endgültigen Klärung aus dem Wege gegangen. Warum wohl? Nun hat sich die Situation geändert und es ist an der Zeit, mir Klarheit zu verschaffen.
Die Tür zum Boden aufzubekommen, ist mit einem zurechtgebogenen Kleiderbügel nicht furchtbar schwierig, und was ich dort finde, nicht mehr furchtbar überraschend. Das fast fertige Bild dort, die kleine Szene mit der düsteren Häuserzeile, kenne ich inzwischen gut, habe ich es doch sowohl im Auktionshaus Keiser als auch zwischen den Reiseplakaten und Wandteppichen beim Pascha gesehen: der Pederowski aus dessen Berliner Periode, Star der kommenden Versteigerung! Dazu Staffeleien, Farbtuben und Paletten, Nitroverdünner, Tageslichtlampe, Firnis – und sofort setzen wieder die obligaten Firnis-Kopfschmerzen ein. Ich habe genug gesehen und leider bestätigt bekommen, was schon seit meinem Testtelefonat mit der Hausverwaltung gestern so gut wie sicher war. Nein, hat mir die Sachbearbeiterin dort gesagt, sie könne mir nicht erlauben, meine Wäsche auf dem Boden aufzuhängen. Da müsse ich die Dame fragen, die den Bodenraum gemietet hat: Frau Julia Baumgärtner.