Das Treffen mit Julia Baumgärtner war erst ein paar Stunden her, als ich Herbert den Zeugen Max vorstellte. Max, dem ich vergangene Nacht das Leben gerettet hatte.
»Wie alt, meinst du, ist der?«
Nach einer eingehenden körperlichen Untersuchung heute Morgen hatte ich das Hundebaby Max genannt und ihm meinen Wäschekorb wohnlich hergerichtet. Eingekuschelt in ein paar alte Decken, schien sich Max ganz wohl zu fühlen. Da wollte ich ihm lieber nicht erzählen, dass wir gerade seine Brüderchen und Schwesterchen beerdigt hatten.
Im Gegensatz zu mir versteht Herbert etwas von Hunden.
»Nicht älter als ein paar Tage«, meinte er.
Durch den Anblick des kleinen Knäuels Leben war mein Partner etwas milder gestimmt, aber immer noch wütend. Vorhin, als wir die toten Welpen gefunden hatten, hätte er die Leute, die sich dieser Tierchen per Müllcontainer entledigt hatten, sicher auf der Stelle umgebracht. Nun aber konzentrierte sich seine ganze Wut auf mich.
»Du hast doch einen Sohn, oder? Habt ihr dem als Baby auch eine Untertasse mit Milch hingestellt und seid dann zur Arbeit abgeschwirrt? Hast du dir mal überlegt, woher der Begriff Säugetier kommt?«
Lahm verteidigte ich mich. Erstens war und sei ich übermüdet. Zweitens habe ich Kopfschmerzen, sicher mache es sich gerade die von Herbert vorhin angekündigte schlimme Grippe in mir gemütlich. Und drittens hatte ich Max noch heute Morgen tatsächlich ein wenig Milch mit der Pipette eingeflößt, die noch für irgendwelche Augentropfen im Bad herumlag.
»Was für ’ne Milch?«, fragte Herbert in einem Ton, der mir klarmachte: Pipette hin oder her, wahrscheinlich gut, dass ich Max nicht mehr davon gegeben hatte. Ich deutete auf den Tetrapack H-Milch.
»Na, wunderbar. Schon mal was von Laktose-Allergie gehört?«
Hatte ich, wiederholt. Von Lena, meiner Getrennten. Von Laktose-Allergie und noch ein paar exotischeren Unverträglichkeiten, die sie im Laufe unseres Zusammenlebens entwickelt hatte. Schließlich auch gegen mich.
»Wie – Hunde auch?« Kein Wunder, dass die Erzeugerpreise für Milch ständig fallen, wenn die ganze Welt keine Kuhmilch verträgt. Ich hatte für Max zwischen der H-Milch und, wegen mehr Kalorien, dem Rest sprühfertiger Schlagsahne im Kühlschrank geschwankt. Bei Schlagsahne hätte mir Herbert jetzt sicher den Kopf abgerissen.
»Gib mir mal Geld. Und rühr den Hund nicht an, bis ich zurück bin, klar?«
Ich nickte schuldbewusst und gab Herbert einen Zehn-Euro-Schein, immerhin ein beträchtlicher Teil meines aktuellen Barvermögens. Ich hätte ihm auch mein Gesamtvermögen anvertraut, um wenigstens eine Weile von seiner vorwurfsvollen Miene befreit zu sein. Dann saß ich da, betrachtete das schwarze Wollknäuel und hielt mich an Herberts Nicht-Anfassen-Gebot. Neben vielen anderen Dingen ist eines gut an Hundebabys: Sie schauen dich nicht vorwurfsvoll an. Können sie gar nicht, weil sie blind und taub sind in ihren ersten Lebenswochen und nur schlafen, die Augen fest geschlossen. Das tat auch Max, unterbrochen von einem leisen Fiepen von Zeit zu Zeit. Das war wahrscheinlich nicht als Vorwurf gemeint, ging aber trotzdem ans Herz. Ich nahm mir vor, nicht auch als Hundevater zu versagen.
Schließlich tauchte Herbert wieder auf, mit einer großen Einkaufstüte unter dem Arm und mehr als nur Hundeersatzmilch in Pulverform. »Musst du in lauwarmem Wasser auflösen.« Stolz zauberte er ein Babyfläschchen mit auswechselbarem Saugnippel hervor, »immer vorher auskochen, verstehst du?«, und eine Flasche Lebertran, »einmal am Tag mit in die Ersatzmilch!«
»Dann noch die hier. Die setzt du auf, sobald du dem Hund auch nur nahe kommst!« Herbert reichte mir einen Mundschutz aus einer 25-Stück-Packung. »Jedenfalls so lange du hustest und niest! Der kleine Hund hat noch keine Abwehrkräfte. Die bekäme er normalerweise mit der Muttermilch.«
Seine Schulmeisterart begann mich zu irritieren. Aber Herbert hatte offensichtlich mehr als die zehn Euro ausgegeben, die ich ihm mitgegeben hatte. Also nickte ich brav und schaute zu, wie Max, der die Flasche ohne Klagen akzeptiert hatte, kräftig nuckelte. Herberts nächste Anweisung störte das herzerwärmende Bild jedoch nachhaltig.
»Also, so sechsmal am Tag sollte der Kleine seine Milch bekommen, alle vier Stunden.«
So viel zu meiner Nachtruhe. Herbert hatte noch jede Menge Anweisungen. Max täglich wiegen und die Gewichtszunahme protokollieren. Heizkissen, Rotlicht oder Wärmflasche, natürlich nicht zu heiß.
»Du hast doch ’ne Waage, oder?«
»Nee. Die ist auch bei Lena geblieben.«
»Gut, ich bringe dir eine von uns mit. Und übrigens: Der Hund bestimmt, wie lange er für eine Mahlzeit braucht. Nicht du.«
Herbert war glücklich, sein Wissen über Hundeaufzucht an den Mann bringen zu können. Er hatte mal versucht, mit der Aufzucht von Retrievern ein paar Euro extra zu machen. Trotz zunehmendem Stechen im Kopf und Schmerzen in den Gelenken notierte ich mental seine Ratschläge. Als Quittung für meine nächtliche Aktivität war eindeutig eine Grippe im Anzug.
»Du solltest morgen im Bett bleiben, Oskar. Ich melde dich auf der Dienststelle krank.«
»Sehr komisch. Ersetzt du mir auch den Verdienstausfall?«
In gespielter Verzweiflung hob Herbert die Arme.
»Dann bring wenigstens einen Mundschutz mit, oder besser ein paar davon.«
Meine Grippe interessierte Herbert jedoch deutlich weniger als das Wohlergehen von Max.
»Noch eines: Es geht nicht nur ums Füttern, ums Hinein. Hinaus damit können die auch am Anfang nicht alleine. Mal eine Hundemutti mit ihren Welpen beobachtet? Nach jedem Säugen wird der After kräftig geleckt.«
»Aber dazu darf ich den Mundschutz abnehmen, oder?«
Ein wenig indigniert bearbeitete Herbert Max’ After.
»Das machst du nach jeder Mahlzeit. So lange, bis es von selbst funktioniert. Kannst auch ein Papiertaschentuch oder einen Q-Tipp nehmen.«
Klar, dass Herbert zum Schluss alle Anweisungen noch einmal wiederholte. Die Hand schon auf der Klinke, hatte er noch eine letzte Frage.
»Wer ist eigentlich der heiße Feger, der mir eben an der Haustür entgegengekommen ist?«
Herbert war Julia Baumgärtner begegnet, andere heiße Feger gab es hier nicht. Da mich eine Antwort verraten könnte, nieste ich stattdessen ein paarmal kräftig, in Richtung Wohnungstür und ohne Mundschutz. Da schob mein Partner endlich ab.
Bevor ich mich fröstelnd und mit triefender Nase ins Bett verkroch, suchte ich nach dem Heizkissen, fand es endlich im Küchenschrank, kramte noch ein paar von den hübschen Strandtüchern mit Palmen und Tropensonne hervor, die Lena mir freundlichst gelassen hatte, packte Max – mit Mundschutz! – neu ein und beobachtete das kleine Knäuel Leben. Dann stellte ich den Wecker brav auf vier Stunden Schlaf.
Wahrscheinlich weil Herbert meine neue Nachbarin erwähnt hatte, erinnerte sich beim Einschlafen mein Hirn an die Situation gestern Nacht, und es fiel mir ein, was an dieser Frau Baumgärtner, die angeblich »eben mal draußen« gewesen war, nicht ins Bild gepasst hatte. Doch die Frage, was meine neue Nachbarin am frühen Morgen mit staubtrockenem Pullover und staubtrockenem Haar draußen getrieben hatte, wo der Novemberregen unvermindert pieselte, schien mir zu diesem Zeitpunkt nicht besonders wichtig.