Als ich mit Max aus dem Kneipenmief hinaus in die kalte Nachtluft trat, empfingen uns, mindestens zwei Tage zu spät, dicke Schneeflocken. Über eine dünne Schneedecke stapften wir die Weserstraße entlang in Richtung Heimat. Die Weihnachtsdekoration in den Schaufenstern wirkte jetzt eher deprimierend. Ihre Zeit war vorbei, sie erinnerte nur noch an ein wieder einmal nicht eingelöstes Versprechen. Und mich an die unausweichliche Tatsache, dass ich nächstes Weihnachten ein weiteres Jahr älter sein würde. Wäre ich dann noch mehr alter Mann, der nicht in Würde alt werden konnte?
Immerhin war ich da nicht ganz allein, auch einige unserer Politiker hatten ihr Interesse an jungen Frauen zum Teil sogar wiederholt ausgelebt: der mal dicke, mal dünne Joschka Fischer, der immer schlanke Franz Müntefering, der immer dicke Kohl. Lebten wir gemeinsam in einer Vorstellung vom Jungbrunnen durch jüngere Partner? Unterstanden wir vollends den Befehlen unserer Gene, die noch nicht gemerkt haben, dass Beischlaf und Fortpflanzung sich längst entkoppelt haben? Oder waren wir, ein häufiges Argument von Frauen, einfach nie richtig erwachsen geworden, unfähig zu einer »reifen« Beziehung?
Ich finde mich gerade damit ab, dass ich sicher nur den Befehlen meiner Gene ausgeliefert bin, als ich Schritte hinter mir wahrnehme. Junge, athletische Schritte, deutlich schneller als meine. Ich bin ich noch in der Weserstraße, gerade am Mardin-Grill vorbei. Die Schläger vom Pascha? Das wäre der krönende Abschluss des Weihnachtsfestes!
Wenigstens den Kopf wenden, um mir Klarheit über meinen Verfolger zu verschaffen? Lieber nicht, könnte ich doch so eine eventuelle Unsicherheit hinsichtlich meiner Identität endgültig auflösen. Wegrennen ist mir zu peinlich, aber ich beschleunige meine Schritte. Wenn ich es rechtzeitig an die Ecke schaffe, kann ich mich vielleicht in einem Hauseingang verstecken. Doch auch die Schritte hinter mir werden schneller. Habe ich Verhandlungsmasse? Ich könnte anbieten, das Pederowski-Bild zurückzugeben, schließlich hat Julia genug davon gemalt. Es ist allerdings zu bezweifeln, dass der Pascha seine Hiwis zum Verhandeln geschickt hat. Höchstens, dass sie mich auf ihre Art verhandlungsbereit machen sollen. Ich verfluche Herbert und seine Sportwette.
Fast habe ich die Ecke erreicht, da legt sich eine kräftige Hand auf meine Schulter.
»He, warum so eilig, alter Mann?«
Die Stimme!
»Thomas, hast du mir einen Schreck eingejagt!« Mit zitternden Knien setze ich mich auf die Stufen des Hauseingangs neben mir. »Warum hast du nicht gerufen?«
Mein Sohn wedelt mit meinem Portemonnaie, das ich offensichtlich im Krumpelbumpel vergessen habe.
»Hat dein Partner Herbert verboten. Keine Ahnung, was da läuft zwischen euch. ›Aber mach auf keinen Fall irgendwelchen Lärm‹, hat er ausdrücklich gesagt, und dass ihr in dieser Straße nicht nur Freunde hättet. Ziemlich geheimnisvoll.«
»Wirklich geheimnisvoll fände ich es, wenn ich überall nur Freunde hätte.«
Thomas kann sogar lächeln über meinen kleinen Scherz, aber schnell gewinnt seine ernsthafte Natur wieder Oberhand.
»Ich denke, die Anzahl der Freunde hat auch etwas damit zu tun, wie man auf die Menschen zugeht.«
Vorsichtig erhebe ich mich, nicht sicher, ob meine Knie mich wieder halten. Sie tun es.
»Jedenfalls danke, dass du mir mein Portemonnaie gebracht hast.«
»Kein Problem.« Thomas wendet sich in Richtung Krumpelbumpel, zurück zu Manuela. Ich habe noch eine Frage.
»Sag mal … wegen Julia …«
»Ja?«
»Ich meine … weiß die Bescheid? Über Manuela … und dich?«
»Klar. Ist doch nur fair, oder?«
Das stimmt, mein Lieber. Aber wer ist schon immer fair? Dein Vater zum Beispiel war nicht immer fair in solchen Angelegenheiten.
»Außerdem, mach dir keine Sorgen«, fährt Thomas, schon im Gehen, fort. »Ich habe deiner Nachbarin sicher nicht das Herz gebrochen. Es war nur eine Affäre.«
Da allerdings könntest du irren, mein Sohn. Ein bisschen was bricht immer. Schön, dass du das offenbar noch nicht erfahren musstest.
Ich erinnere mich, wie schlecht Julia am Morgen vor ihrem Flug nach München ausgesehen hat, und schaue Thomas nach, wie er zunehmend vom rieselnden Schnee verschluckt wird.
Mein ernsthafter Sohn hat erkannt und ausgesprochen, was ich zu verdrängen versuche – dass ich mich deutlich in Richtung Misantroph entwickele. Welche Freunde sind mir eigentlich geblieben? Ziemlich regelmäßig habe ich noch E-Mail-Kontakt zu meinem alten Studienkumpel Jakob, der irgendwo im Münsterland mit Ehefrau und Kindern und Eigenheim einem geregelten 48-Stunden-Job als Maschinenbauingenieur nachgeht. Und zu Franz, der sich freischaffender Journalist nennen kann, solange seine verbeamtete Frau das notwendige Familieneinkommen sichert. Hier in Berlin ist eigentlich nur noch Herbert ein Freund. Aber der ist mein Arbeitskollege – zählt das? Ja, entscheide ich, wir könnten auch Kollegen, aber nicht Freunde sein. Andererseits, wären wir auch unter anderen Umständen – ich als der erfolgreiche Ingenieur, er als Hartz-IV-Aufstocker – Freunde geworden? Wo sind meine anderen Freunde geblieben? Einige habe ich durch die Trennung von Lena verloren. Sie hat verlangt, dass sie sich zwischen ihr und mir entscheiden, was ich ziemlich blöde und unnötig fand. Und ich selbst habe den Kontakt auslaufen lassen zu ehemaligen Freunden, deren eventuelles Mitleid ich fürchtete – das Mitleid mit jemandem, der von ihren Steuergeldern lebt.
Plötzlich wird Max unruhig, zerrt für sein Alter erstaunlich kräftig an der Paketschnur, mit der ich mir noch immer bis zum geplanten Kauf einer ordentlichen Hundeleine behelfe. Aus der Richtung, in die er zieht, stürmt aus dem Schneetreiben heraus eine Dampfwalze oder eine Güterzuglokomotive, jedenfalls etwas sehr Großes und sehr Schwarzes auf uns zu und wird uns gleich gnadenlos überrollen. Über die Straße tönt es »Stopp!«. Diesmal leitet die Dampfwalze sofort eine Notbremsung ein, aber die Schneedecke erschwert das Vorhaben, sodass die Dampfwalze, Kopf voran, mit immer noch einigem Tempo an den Straßenbaum knallt, hinter den ich mich mit Max verzogen habe. So ist das Hundeungetüm, wenn auch nicht komplett k. o., so doch für den Moment desorientiert. Ich nehme Max unter den Arm und dampfe ab. Meine Sorge gilt weniger dem Verhalten des Kampfhundes, wenn der bald wieder voll orientiert ist – sein Verhältnis zu Max ist mir bekannt –, als dem Pascha, der jetzt über die Fahrbahn anmarschiert und sehen will, was los ist. Sein Verhältnis zu mir ist auch bekannt. Wie Herbert schon richtig bemerkt hat: Ich habe nicht nur Freunde in der Weserstraße.
Unbeschadet erreichen wir unser Zuhause. Vor der Wohnungstür liegt ein Päckchen, eingepackt in weihnachtliches Geschenkpapier.
»Was meinst du, Max? Ist das eine Bombe vom Pascha?«
Max schnüffelt aufgeregt, ist eindeutig der Meinung, wir sollten das Päckchen sofort öffnen. Auch ich halte eine Bombe für unwahrscheinlich und nehme es mit hinein.
Gespannt beobachtet Max, wie ich die rote Schleife öffne – vorsichtig, nicht wegen eventueller Bombe, sondern zwecks gelegentlicher Wiederverwendung. Habe ich doch noch mehr Freunde, als ich dachte? Wieder kommt mir mein Sohn in den Sinn. Ich mag Eltern nicht, die »Freunde« ihrer Kinder sein wollen. Eltern sind die Erziehungsberechtigten, mehr noch, die Erziehungsverpflichteten gegenüber ihren Söhnen und Töchtern. Ich habe versagt als Erziehungsverpflichteter, keine Frage, und inzwischen ist Thomas kein Kind mehr. Also: Ist es vielleicht an der Zeit, dass wir tatsächlich Freunde werden?
Viel zu langsam für Max’ Geschmack ist das Päckchen endlich geöffnet: Hundhalsband und passende Leine aus edlem Leder. Dazu ein Kärtchen.
Lieber Oskar, frohe Weihnachten Dir und Max und vielen, vielen Dank noch einmal!! Wie immer ich mich revanchieren kann, lass es mich wissen. Alles Liebe, Deine dankbare Nachbarin Julia.
PS: Ja, ich bin zurück aus München. Hast Du noch Lust, vorbeizuschauen? Habe tollen Wein mitgebracht!
Ich sehe auf die Uhr – zu spät wäre es nicht, bei Julia vorbeizuschauen. Das ist es doch, worauf ich hingearbeitet habe, oder nicht? Und jetzt wären meine Erwartungen keine Erpressung mehr wie neulich, wo es noch um meine Verschwiegenheit ging. Inzwischen geht es um Dankbarkeit, und Dank kann man doch entgegennehmen, oder?
»Max, Julia lädt uns ein. Sollen wir zu ihr hoch? Vorderhaus? Oder wäre das wie Schuldeneintreiben? Was meinst du?«
Max scheint jedenfalls nicht uninteressiert, aufmerksam schaut er zu mir auf.
»Du müsstest dich doch sowieso für das schöne Halsband bedanken, richtig? Und gegen ein gutes Glas Wein ist doch nichts einzuwenden …«
Jetzt zerrt Max an meinem Hosenbein, eine eindeutige Entscheidung, finde ich.
Natürlich, das ist geschummelt, gestehe ich mir ein, während ich wenigstens ein frisches Hemd anziehe. Denn wann wäre Max nicht zu einem neuen Abenteuer bereit!
Im Treppenhaus, noch unentschlossen, ob uns der Weg zu Julia führt oder nur zu einer letzten Pinkelrunde für Max, schauen wir noch am Hausbriefkasten vorbei. Vielleicht doch noch etwas Positives von Messtechnik Brandenburg?