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Während ich mit brennenden und triefenden Augen unser Dienstfahrzeug durch Neukölln steuerte, achtete Herbert darauf, so viel Abstand wie möglich zu mir zu halten. Was so viel nicht war bei den Dimensionen unseres VW Lupo.

Ja, ich zahlte auf Euro und Cent für meinen unbezahlten Nachteinsatz. In meinem Kopf hatte sich ein hungriger Specht eingenistet und hämmerte abwechselnd auf Groß- und Kleinhirn. Auf der Brust und an den Armen scheuerte mein Hemd, als rächten sich die unterbezahlten Akkordnäherinnen in Bangladesh mit der Verwendung von 40-Korn-Sandpapier als Hemdenstoff an der kik-Kundschaft, und sämtliche Gelenke schmerzten mit wie auch ohne Bewegung.

Natürlich, Herbert hatte recht, ich sollte zu Hause das Bett hüten. Im öffentlichen Dienst bedeutet Grippe vierzehn Tage Krankschreibung. Aber obgleich Herbert und ich im öffentlichen Dienst unterwegs sind, gibt es für uns keine Lohnfortzahlung im Krankheitsfall – und Lohnausfall kann ich mir nicht leisten. Also war Durchhalten angesagt. Nur noch diesen einen Tag, dann war Wochenende!

Während er auf weitest möglichen Abstand achtete, Gesicht von mir abgewandt, scrollte Herbert wie üblich die aktuellen Fußballergebnisse auf seinem Smartphone. Früher fand Fußball am Wochenende statt, inzwischen wird offenbar an jedem Tag der Woche irgendwo gespielt. Dementsprechend ist Herbert auf unseren Inspektionsfahrten immer gut beschäftigt. Trotzdem, plötzlich:

»Halt mal an. Das ist ja unglaublich. Der lernt’s wohl nie!«

Erstaunt, dass mein Partner neben dem Studium der Fußballergebnisse etwas Bemerkenswertes, gar etwas dienstlich Bemerkenswertes gesehen hatte, folgte ich Herberts Blick. Tatsächlich, ein Fall für uns! Und das an uns wohlbekannter Stelle.

Im Eingang zu einem Laden, in dessen verschmutztem Schaufenster schon seit Monaten ein Pappschild »Gewerbefläche zu vermieten! Provisionsfrei vom Eigentümer!« verkündete, türmten sich jede Menge leere Gemüsekisten und Obstkartons. Noch spiegelten die meisten Läden in der Anzengruberstraße das alte Neukölln: An- und Verkauf, Wohnungsauflösungen, das Soziale Kaufhaus von »Die Teller Gottes e. v.«. Wenn auch eher einfach gehalten, deuteten der Kinderladen »Highway« in Nr. 15 und, schräg gegenüber, die Heilpraxis in Nr. 12 (Craniosacral-Therapie, Magnetfeld-Therapie) auf die Bedürfnisse der neuen Bewohner hin. Dass unter anderem eine Umzugsfirma im Ladenfenster ihren Auszug ankündigte, bedeutete nicht den eingeläuteten Tod der Anzengruber als Geschäftsstraße, im Gegenteil. Ein wenig Geduld dürfte sich für den Ladenbesitzer mit Leerstand auszahlen, lange konnte es nicht mehr dauern, bis die Neuköllner Gentrifizierungswelle auch hier voll zuschlagen würde und in die Geschäftsräume trendige Bars, auf schick-rustikal gemachte Bioläden und weitere, mindestens bilinguale Kindergärten einzogen. Selbstverständlich zu deutlich höheren Mieten als bisher.

Uns war ohnehin ziemlich klar, auf wessen Konto dieser illegal entsorgte Abfall ging, aber gleich auf dem obersten Karton klebte auch noch die Lieferadresse. Gökhan Öztürk, stolzer Kleinunternehmer in Sachen Obst und Gemüse in der Sonnenallee, war ein guter Bekannter. Wie oft hatten wir ihm schon geraten, wenigstens die Lieferadresse zu entfernen, wenn er seinen Müll in die Gegend kippte! Herbert riss einen der Adressaufkleber ab und wir marschierten um die Ecke zu unserem Freund Gökhan.

Ein dicker BMW, dunkelblau, stand mit laufendem Motor verkehrsfreundlich in zweiter Spur vor Gökhans Laden und beschallte die Sonnenallee mit zeitgenössischem Liedgut. Das gelegentliche Hupen aus dem Stau hinter ihm ließ den Fahrer, der am Steuer auf was auch immer wartete, entweder unbeeindruckt oder es konnte sich einfach nicht durchsetzen gegen das endlose »Gangstarap g-g-g-gangstarap« aus seinen 600-Watt-Boxen. Eigenartig nur, dass sich niemand bei ihm beschwerte.

»Misch dich da nicht ein. Is’ nichts für uns«, hielt Herbert, der wusste, dass mein bürgerlicher Ordnungssinn über das Aufspüren illegaler Müllhaufen hinausging, auch mich prophylaktisch zurück.

Eine Entscheidung zwischen Herberts dringender Empfehlung und meiner Null-Toleranz-Einstellung entfiel, da in diesem Moment zwei Kerle mit südländischer Physiognomie ohne Hast aus Gökhans Laden kamen. Schon fast bei ihrem Freund im BMW, machte einer von ihnen kehrt, griff sich eine besonders schöne Apfelsine von Gökhans Auslage vor dem Laden und trat kräftig gegen einen der Holzböcke, sodass Apfelsinen, Grapefruits und Winteräpfel über den matsch- und streusalzbedeckten Bürgersteig rollten. Erst jetzt sprang auch er in den BMW, der mit durchdrehenden Reifen losspurtete. Was für mich weniger auf Flucht als auf mangelnde Penisgröße des Fahrers hinwies, der sich natürlich nicht ohne Stinkefinger aus dem Fenster von den Verkehrsteilnehmern hinter ihm verabschieden konnte. Unterstützt von einem riesigen Kampfhund im offenen Wagenfenster, der Stinkefingers Zeichensprache mit sonorem Bellen und Zähnefletschen übersetzte.

»Ziemlich eilige Kundschaft«, kommentierte Herbert, während wir den Gemüseladen betraten. »Gökhan?«

Kein Mensch zu sehen. Aber hier drinnen keine Zeichen von Vandalismus.

»Herr Öztürk?«, versuchte ich es auf die höfliche Tour. »Wir sind es, Herbert und Oskar.«

Keine Antwort.

»Na, wir können ja nachher noch einmal vorbeischauen. Oder morgen«, meinte Herbert.

»Pst!« Ich hielt den Zeigefinger an die Lippen. Der Stau vor der Tür hatte sich aufgelöst, das Protesthupen aufgehört.

»Hörst du das?«

»Hört sich nicht gut an!«

Gökhan war noch bewusstlos, als wir ihn fanden. Leise stöhnend lag er auf dem Boden in einem kleinen Raum hinter dem Laden, zwischen gestapelten Obstkisten und einem Tisch, auf den gerade einmal seine Thermoskanne, eine angeschnittene Dauerwurst und ein Kaffeebecher passten. Herbert zapfte kaltes Wasser in den Kaffeebecher und schüttete es Gökhan in bester Westernmanier ins Gesicht – was tatsächlich wirkte. Vorsichtig versuchte Gökhan die Augen zu öffnen. Das funktionierte allerdings nur mit dem linken, das rechte blieb hinter rotblau angeschwollenen Lidern verborgen. Der Obst- und Gemüsehändler versuchte aufzustehen, vorerst ohne Erfolg.

»Langsam, Gökhan. Was ist passiert?«

Keine Antwort.

»Was waren das für Männer eben?«

»Nein, waren keine Männer hier.«

Retrograde Amnesie? Gehirnerschütterung? Gemeinsam halfen wir Gökhan auf den Stuhl an seinem Tisch und gossen ihm einen starken Kaffee aus seiner Thermoskanne ein.

»Du stehst noch unter Schock. Trink erst mal was!«

Wir kannten uns inzwischen gut, das Du war beidseitig und ohne jeden abwertenden Hintergrund.

Der Mokka tat seine Wirkung, vorsichtig testete Gökhan die Beweglichkeit von Armen und Beinen. Offenbar war nichts gebrochen.

»Danke, meine Freunde.«

»Kein Problem. Aber wer waren diese Leute, die dich zusammengeschlagen haben?«

»Ich sage, keine Leute hier!«

»Aber wir haben sie doch gesehen, Gökhan, wie sie aus deinem Laden gekommen sind. Das ist was für die Polizei.«

Herbert zog sein Smartphone aus der Tasche.

Erschrocken hob Gökhan die Hände.

»Bitte! Nein! Nichts Polizei!«

Wir hörten, wie die Ladentür geöffnet wurde. Im Rahmen stand ein junger Mann, der den Kerlen mit dem BMW eben ziemlich ähnlich sah. Für Herbert war die Sache klar. Sein Smartphone wie einen Baseballschläger über den Kopf erhoben, stürmte er zur Tür.

»Bleib stehen, Mann!«

Daran dachte der Angesprochene aber ganz und gar nicht. Er drehte auf dem Absatz um, Herbert ihm hinterher. Ich hingegen schenkte Gökhan noch einen türkischen Mokka ein.

»Das nur Okan, mein Neffe. Hilft mir mit Geschäft. Hat Schule fertig.«

»Und warum rennt er dann weg?«

»Keine Ahnung. Aber bitte, Oskar: nichts Polizei! Ich bin hingefallen. Ganz alleine.«

»Sicher, Gökhan. Und dabei hast du dir gleich mal kräftig aufs Auge gehauen. Genauso muss es gelaufen sein!«

Hilflos schaute mich Gökhan an, aber die Botschaft war auch mit nur einem Auge klar: keine Polizei!

Nach ein paar Minuten tauchte Herbert wieder auf, ziemlich abgehetzt. Den angeblichen Neffen hatte er nicht eingeholt.

»Der war plötzlich wie vom Erdboden verschwunden.«

Wir beschlossen, Gökhans dringliche Bitte »keine Polizei« vorerst zu respektieren und rieten ihm nur noch, sein Auge mit reichlich Eis zu behandeln. Dann nahmen wir unsere Tätigkeit in den Straßen Neuköllns wieder auf. Wobei wir vergessen hatten, dass wir genau im Rahmen dieser Tätigkeit überhaupt erst zu Gökhan gekommen waren.