»Sie sehen ja furchtbar aus!«
Es war Samstagabend. Seit Freitagnachmittag hatte ich im Bett gelegen, nur den kleinen Max und meine Grippe gepflegt. Nichts sonst, nicht einmal meine Eitelkeit. Eine Folge des Fiebers, denke ich.
Jetzt hatte ich zwar kein Fieber mehr, aber auch nichts zu essen im Haus. Weder für Max noch für mich. Die Knochen schmerzten noch gewaltig, inzwischen jedoch sicher mehr vom Liegen auf meiner Schlafcouch als von der Grippe. Obgleich etwas weich in den Knien, hatte ich es ohne Kreislaufkollaps hin und zurück zu Aldi geschafft und wollte mich gerade mit meiner Beute zum Hinterhaus schleppen, als mich Frau Baumgärtner im Durchgang stellte und mit einiger Besorgnis musterte.
Ich hatte mir mein nächstes Zusammentreffen mit Julia Baumgärtner anders ausgemalt. »Sie sehen ja furchtbar aus!« ist nicht unbedingt, was man von der attraktiven Nachbarin gerne hört. Andererseits, die Mutterinstinkte in einer Frau zu wecken, gehört unter Umständen sogar zu den besseren Kontaktwegbereitern. Ich musste nur ein wenig den taffen Mann, der sich von ein paar Millionen Viren nicht unterkriegen lässt, durchscheinen lassen.
»Hallo, Frau Baumgärtner«, krächzte ich mit einer Stimme, die unterstrich, dass allein meine Tapferkeit mich auf den Beinen hielt. »War nur ein bisschen Grippe, das Schlimmste ist vorbei.«
»Ich weiß nicht, Herr Buscher. Ich denke, Sie gehören ins Bett.«
Da hatte sie recht, die Frau Baumgärtner, denn – wie gesagt – stand ich noch auf ziemlich weichen Knien. Also folgte ich ihrem Rat und legte mich, nachdem ich auch die drei Stockwerke zu meiner Wohnung bezwungen hatte, gleich wieder hin. Natürlich erst, nachdem Max sein Fläschchen ausgenuckelt und ich seinen After massiert hatte. Aber kaum hatte ich mich unter meiner Bettdecke plus zusätzlichen alten Wolldecken verkrochen, musste ich schon wieder hoch. Es hatte geklingelt. Klapprig quälte ich mich zur Wohnungstür. Da stand Frau Baumgärtner mit einer Thermoskanne.
»Mittwochnacht haben Sie mir das Leben gerettet, jetzt rette ich Ihres. Und dafür marschieren Sie sofort zurück ins Bett.«
Es schien sie nicht zu kümmern, ob ich sie zum Eintreten auffordern würde oder nicht, mit der Thermoskanne vor der Brust schob sie mich mehr oder weniger vor sich her zurück in meine Wohnung. Also war ich brav und setzte mich auf die Kante meiner ebenso zerwühlten wie verschwitzten Schlafcouch, während die Nachbarin sich wie selbstverständlich geschirrklappernd in meiner Küche zu schaffen machte.
»Sie wohnen allein, was?«
Das war mit Blick auf meinen Bestand an Geschirr mehr Feststellung als Frage und rechtfertigte in ihren Augen wahrscheinlich die Verletzung meiner Privatsphäre. Und erklärte die Tatsache, dass sie mir das Leben retten wollte.
»Jedenfalls«, Frau Baumgärtner tauchte mit einem meiner beiden Kaffee-Tee-Goulaschsuppe-Brühe-heiße-Zitrone-Becher auf – »wieder runter unter die Bettdecke mit Ihnen und rein mit dem hier, solange es noch ordentlich heiß ist. Rezept meiner Mutter, hilft todsicher!«
Auch bei mir stellten sich beim Duft der Hühnerbrühe sofort Erinnerungen an Wintertage im Bett ein. Von draußen hörte man das Lachen und Rufen der Freunde … davon war man ausgeschlossen, dafür aber absoluter Mittelpunkt der Sorge von und der Umsorgung durch die Mutter zu sein, entschädigte reichlich, für ein paar Tage wenigstens. Und die Hühnerbrühe von Frau Baumgärtner konnte es mit der meiner Mutter allemal aufnehmen.
»Da ist Koriander dran, oder?«
»Richtig. Und Ingwer. Und Kurkuma. Schön, dass Sie das trotz der Grippe schmecken.«
»Ich sage doch, die ist fast vorbei.« Zur Bestätigung schlürfte ich noch einmal kräftig und grinste zufrieden.
In der nächsten Sekunde war es um Julia Baumgärtner geschehen, Handschellen hätten sie nicht fester an mich binden können. Aber das war nicht meinem attraktiven Lächeln/blöden Grinsen geschuldet.
»Ist der niiiiedlich!«
Klar. Julia Baumgärtner hatte Max entdeckt. Und absolut nichts kommt besser als ein Tierbaby. Dagegen kann kein die Welt umjettender Konzertpianist anstinken, kein Bruce Willis und kein Diamantcollier von Tiffany.
»Das ist Max. Es ist nicht Unhöflichkeit, dass er Sie nicht anschaut. Max ist erst ein paar Tage alt.«
Mit großen Kinderaugen betrachtete meine Nachbarin das Hundebaby und grinste nun mindestens ebenso blöde wie ich.
»Wie sind Sie zu so etwas Niedlichem gekommen?«
»Quasi beruflich.«
Ich gab Frau Baumgärtner eine deutlich gekürzte Version von meinem Nachteinsatz am Mittwoch. Für mich sprach nicht nur ein Hundebaby, was sicher schon gereicht hätte. Ich hatte auch noch ein unschuldiges Leben gerettet! Kaum zu toppen, aber mir fiel ein, wie ich noch einen draufsetzen konnte.
»Wenn Sie möchten, können Sie ihm das Fläschchen geben. Es ist wieder dran.«
Ich stand auf, um Frau Baumgärtner die Saugflasche und die angewärmte Spezialmilch zu holen. Sie grinste weiterhin, nun aber über mich – und auch ich musste lachen bei dem Bild, das ich hier abgab: ein Mann von (knapp!) über fünfzig in zerbeulten langen Unterhosen, verschwitztem T-Shirt und mit Schal um den Hals.
»Ich versuche mir gerade vorzustellen, wie Sie in Uniform aussehen.«
Ich reichte ihr das Fläschchen für Max.
»Und?«
»Ehrlich?«
»Ehrlich«
»Ich habe große Schwierigkeiten damit, aktuell wenigstens«, prustete sie hinter vorgehaltener Hand.
»Da habe ich aber Glück. Ich trage nämlich keine Uniform im Dienst.«
Ich ließ es bei diesem Ausschnitt der Wahrheit bewenden und beobachtete, wie die kleinen Rädchen in Frau Baumgärtners Hirn ineinandergriffen. »Ermittler«, »öffentlicher Dienst«, »keine Uniform«. Es ist sicher ganz nett, einen wackeren Polizeimeister im Haus zu wissen, der beruflich einen Familienstreit schlichten, einen Besoffenen aus der Eckkneipe schleifen oder einen Taschendieb in Gewahrsam nehmen kann, das schafft ein Gefühl von Sicherheit. Aber jemand von der Kriminalpolizei, das war mindestens zwei Nummern besser. Warum also sollte ich gerade jetzt, in diesem frühen Stadium unserer Bekanntschaft, meine Nachbarin mit traurigen Einzelheiten zu meinem Berufsleben enttäuschen?