Vorwort

Seit über 40 Jahren kooperieren britische und deutsche Altgermanisten im institutionalisierten Rahmen des alle zwei Jahre stattfindenden Anglo-German Colloquiums. Der internationale Austausch fand vom 7. bis 11. September 2011 im Kardinal Schulte Haus in Bensberg seine Fortsetzung. Thema des nunmehr schon XXII. Anglo-German Colloquiums war „Literarischer Stil im Mittelalter. Deutschsprachige Literatur zwischen Tradition und Innovation“. Die Vorträge sind bis auf einzelne Ausnahmen in diesem Band versammelt.

Entscheidend für die Themenwahl war die Beobachtung, dass in den aktuell virulenten Diskussionen um die Poetik, Ästhetik und Artifizialität der volkssprachigen Literatur des Mittelalters Fragen der sprachlichen Formgebung bisher eine eher untergeordnete Rolle spielen und dort, wo diese in den Blick geraten, eine gewisse Zurückhaltung gegenüber dem eher in älteren Forschungsdiskursen verankerten Stilbegriff geübt wird. Ziel des geplanten Colloquiums war entsprechend die Klärung, ob ein unter neuen methodischen und theoretischen Vorzeichen konturiertes Stilkonzept mit daraus abgeleiteten Beschreibungsund Analyseverfahren geeignet sein könnte, eine Leerstelle im Bemühen um ein besseres Verständnis poetischer Praxis und poetologischen Selbstverständnisses mittelalterlicher Literatur abzutragen. Immerhin lenkt die Kategorie ‚Stil‘ nicht einfach nur den Fokus auf die Formgebung der sprachlichen Oberfläche und erscheint damit als eine sinnvolle (und vielleicht sogar notwendige) Ergänzung zur Analyse poetischer, rhetorischer oder narrativer Verfahren, sondern sie denkt die sprachliche Verfasstheit von Texten von vornherein in einem Schnittfeld von Tradition und Innovation, von Kollektivität und Individualität, von Kontinuität und Diskontinuität. Damit ist die Kategorie ‚Stil‘ in besonderem Maße geeignet, um die komplexen und sich gegenseitig überlagernden Prozesse von Normerfüllung, Normbrechung und Normsetzung greifbar zu machen, die gerade für mittelalterliche Literaturproduktion wie Literaturrezeption von kaum zu unterschätzender Bedeutung sind.

Aus der skizzierten Zielsetzung ergaben sich vorerst vier verschiedene Arbeitsfelder, allesamt innerhalb der germanistischen Mediävistik wenig sondierte Bereiche. Die Vorträge des Colloquiums bzw. Beiträge dieses Bandes stecken ausgehend von den vier entworfenen Untersuchungsinteressen mit den sich daraus ergebenden Fragestellungen neue Forschungsfelder ab, entwickeln alternative Zugänge oder aber adaptieren das in der älteren Forschung bereits Geleistete unter veränderten Prämissen:

1. Stilbegriff, Stiltheorie und Stilanalyse: Wo der Stilbegriff in aktuellen Diskussionen überhaupt Verwendung fand, geschah dies bis auf wenige Ausnahmen eher heuristisch. Ein klar konturiertes begriffliches Konzept der Kategorie ‚Stil‘ gab es innerhalb der mediävistischen Literaturwissenschaft ebenso wenig wie gut erprobte Verfahren der Stilanalyse. Der Weg zu einer elaborierteren Stiltheorie und Analysepraxis muss daher erst neu beschritten werden. Ebnen kann ihn u. a. eine historische Semantik mittelhochdeutscher Termini für Stilphänomenein unterschiedlichen Gattungen (z. B. blüemen, schîn, erniuwen, parieren, figieren), wie sie für zahlreiche poetologische Begriffe bereits erarbeitet wurde. Flankiert werden muss dies durch vergleichende Untersuchungen zu Stilbegriffen und Stilkonzepten in den relevanten lateinischen Theoriefeldern (z. B. ars dictaminis, ars poetriae, ars dictandi, ars praedicandi), um eine genauere Vorstellung von der Verwurzelung der volkssprachigen Literatur in lateinisch-gelehrten Traditionen sowie eigenständige Akzentuierungen zu erlangen. In umgekehrter Blickrichtung sind zudem aber auch die vielschichtigen modernen Ansätze zu einer Theoretisierung des Stilbegriffs aus linguistischer, soziologischer, psychologischer, kunsthistorischer und literaturtheoretischer Sicht auf ihre Historisierbarkeit und ihren möglichen Erklärungswert für die mittelalterliche literarische Praxis hin zu befragen. All diese Bemühungen um eine Konzeptualisierung der Kategorie ‚Stil‘ dürfen dabei Fragen der methodischen Operationalisierbarkeit nicht gänzlich aus den Augen verlieren, um einer Loslösung der Stiltheorie von der Stilanalyse, wie sie in den modernen Literaturwissenschaften an verschiedenen Stellen zu beobachten ist, Vorschub zu leisten. In diesem Sinne werden in den Beiträgen ganz basale Fragen angegangen: Welche Möglichkeiten bieten Stilanalysen überhaupt, mit welchen Erkenntnisinteressen können sie verbunden werden (bei poetischen Texten und bei Gebrauchstexten), und in welchem Verhältnis stehen sie zu anderen interpretatorischen Zugängen? Deutlich wurde dabei aber auch, welchen ganz praktischen Grenzen Sprachanalysen unterliegen, die einerseits auf die breit angelegte und detailreiche Beschreibungen der Gestaltung ganzer Texte zielen (Stil als Flächenphänomen), deren Besonderheiten gleichzeitig aber nur im Vergleich mit anderen Texten profiliert werden können (Stil als relationale Kategorie).

2. Spannungsfeld von Rhetorik, Poetik, Narrativik, Ästhetik und Stil: Die Kategorie ‚Stil‘ ist nicht trennscharf gegenüber anderen Ebenen und Eigenschaften literarischer oder poetischer Gestaltung abgegrenzt. In verschiedenster Hinsicht ergeben sich Analogien, Interdependenzen oder Überschneidungen etwa zur Ästhetik, Rhetorik, Poetik oder auch Narrativik literarischer Texte, die es genauer zu beleuchten gilt. Von Interesse ist in diesem Zusammenhang nicht allein, welche Phänomene und Gestaltungselemente in einem spezifischen Sinne als Stileigenschaften oder Stilmerkmale verstanden werden können; notwendig sind vielmehr weit über solche klassifikatorischen Zugriffe hinaus Beobachtungen zum Zusammenspiel verschiedener Gestaltungsebenen und den dahinter stehenden Strategien oder poetologischen Konzepten (z. B. Sprachstil und Gattungspoetik; poetologische Reflexion und sprachliche Gestaltung im höfischen Roman; Motivund Sprachvariation im Minnesang; Pragmatik rhetorischer Sprechweisen in der Sangspruchdichtung; Reduktion von Rhetorik und Sprachästhetik im frühneuhochdeutschen Prosaroman etc.). In den Beiträgen werden sowohl die methodischen Konstellationen diskutiert als auch in Fallbeispielen die Praktikabilität der Zugriffe erprobt.

3. Voraussetzungen und Bedingungen von Stilbildung und Stilwandel: Gedacht als im Kern relationale Kategorie, kann die Frage nach ‚Stil‘ nicht losgelöst von literarischen, sozialen, institutionellen und medialen Kontexten der Literaturproduktion wie Literaturrezeption gestellt werden. So sind etwa Prozesse der Stilbildung in der volkssprachigen Literatur des Mittelalters nur im Zusammenhang mit übergreifenden Überlegungen zum kulturellen Transfer aus der lateinischen Bildungswelt wie zur Anlehnung an die französische Hofkultur zu verstehen und im Zusammenspiel aller Faktoren zu betrachten, die eine erste Institutionalisierung eines mehr oder minder eigenständigen literarischen Feldes erst ermöglichen. Auf einen solchen Hintergrund rekurrieren die Beiträge, die gegenseitige Beeinflussungen von Sprachwandel und Stilwandel untersuchen, die mediale Entwicklungen und Stilbildung betrachten, die der Bedeutung literarischer Stilbildung als Mittel gesellschaftlicher Identitätsstiftung und/oder Abgrenzung nachspüren, aber auch diejenigen, die Strategien der Verknüpfung und Hierarchisierung von Künsten und Diskursen in den Blick nehmen.

4. Urteil und Bewertung: All diese Überlegungen dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Beschreibung oder Zuordnung von Stileigenschaften in aller Regel nicht auf eine wertneutrale literarästhetische Kategorisierung zielt. Stilurteile dienen mehr oder weniger explizit immer der Bewertung einzelner literarischer Texte oder Gattungen, zählen aber auch zu den Techniken und Strategien der Valorisierung von Literatur. Zum besseren Verständnis solcher Strategien bleibt es zentral, die mit zeitgenössischen Benennungen von Stileigenschaften oder auch Stilidealen (z. B. aptum, decorum, claritas, brevitas, perspicuitas, variatio, elegantia, meisterlîchen, cristallînen, bickelworte) implizit verbundenen Maßstäbe und Kriterien der Wertung genauer zu erfassen und in Bezug zu modernen wissenschaftlichen Begrifflichkeiten (Wortzauber, Sprachästhetik, Artistik; aber auch Nachklassik, Epigonalität, Manierismus) mit ihren je eigenen Möglichkeiten und Grenzen zu setzen. Zu berücksichtigen sind schließlich auch die historischen, sozialen, institutionellen und kulturellen Voraussetzungen für die Formierung von ‚Geschmack‘ sowie die Verfahren, über welche bestimmte literarische Qualitäten in Geltung gesetzt werden. Gerade für diesen letzten Teilbereich ist es in mehreren Beiträgen gelungen, ältere Forschungspositionen zu revidieren und Autoren bzw. Werke von stigmatisierenden Bewertungen zu befreien.

Auch wenn sich bisweilen in den Einzeluntersuchungen Affinitäten zu ein oder zwei der skizzierten Zugriffskoordinaten erkennen lassen, haben doch stets alle vier hier entworfenen Forschungsfelder für ‚Stil‘ das Frageinteresse der Beiträger geleitet. Erkennbar wird daher nicht nur eine nuanciertere Wahrnehmung der ‚Stil‘-Kategorie, sondern es entfalten sich neue bzw. partiell neuartige Zugangsmöglichkeiten zu altbekannten Gegenständen. Dabei hat sich eine selbst wiederum aufschlussreiche Konzentration auf bestimmte Denkzusammenhänge und Analyseoptionen ergeben: Einzelne Beiträge wenden sich insbesondere dem schwierigen Bereich zeitgenössischer und moderner Terminologie für die Benennung und Wahrnehmung von Stil zu und besprechen die mit verschiedenen Selbstoder Fremdbezeichnungen verbundenen Ansätze zu einer Theoretisierung des Stilbegriffs. Einen weiteren Schwerpunkt bilden textnahe Beispielanalysen ganz spezifischer Form-Funktion-Korrelationen in unterschiedlichen Werken, Gattungen und literarischen Feldern, die letztlich Fragen der Interpretierbarkeit von Stilbeobachtungen nachgehen. Als besonderes Anliegen erkennbar ist außerdem die Konturierung des ausgesprochen verzweigten literarischen wie außerliterarischen Bezugssystems für Stileigenschaften, die erst die Grundlage für eine Verständigung über die Traditionalität oder Innovativität, aber auch die Funktionalisierung konkreter Gestaltungselemente bildet. In der Zusammenschau vermitteln die Beiträge des vorliegenden Bandes damit einen ersten wichtigen Eindruck von den vielschichtigen Anforderungen und Aufgaben einer literaturwissenschaftlichen Stilforschung innerhalb der germanistischen Mediävistik. Im Folgenden seien nur einige Leitlinien und Perspektiven des im Entstehen begriffenen Gespräches über Stil in der volkssprachigen Literatur des Mittelalters skizziert.

Eine erste Gruppe von Beiträgen widmet sich der Genese und den historischen Implikationen von Stilbegriff und Stilkonzept. Sie alle reflektieren aus unterschiedlichen Perspektiven und an unterschiedlichen Beispielen letztlich die Anforderungen, die aus dem Fehlen einer für die volkssprachige Literatur des Mittelalters gültigen, metaliterarisch explizierten Stiltheorie oder auch nur terminologisch gesicherten Bezeichnung für Stilphänomene resultieren. GERT HüBNER zeichnet die ganz heterogenen Beschreibungskategorien und Erkenntnisinteressen des vormodernen rhetorischen, des ästhetischen und des modernen linguistischen Stildiskurses nach, die in je unterschiedlicher Weise die Diskursgeschichte des modernen sprachtextbezogenen Stilbegriffs geprägt haben. Vor diesem Hintergrund plädiert er dafür, die konturierten Paradigmendifferenzen in sehr viel stärkerem Maße als hinlänglich üblich bei Stilanalysen vormoderner Texte zu berücksichtigen. Demnach eigneten sich rhetorische und linguistische Stilkonzepte vor allem dann, wenn es um die Funktionen klar erfassbarer stilistischer Praktiken gehe, wogegen Phänomenen mit weniger klarer Form-Funktion-Korrelation eher über ästhetische Stilkonzepte beizukommen sei. Die Genese des Stilbegriffs nimmt MICHAEL STOLZ in den Blick. Anders als Gumbrecht versteht er die Bedeutungsverschiebung von stilus als Schreibwerkzeug auf ein sprachliches Ausdrucksverhalten nicht als rein metaphorisch. Da stilus schon als Schreibwerkzeug für die Eigenart der in Schriftform encodierten Zeichen und Texte stehe, bestehe zwischen Instrument und Schrift eine metonymische Relation, die STOLZ von einer metonymisch geprägten Metaphorik des Stilbegriffs sprechen lässt. Wie er zeigt, bleibt in diesem Sinne die Materialität des Schreibens noch in der mittellateinischen und mittelhochdeutschen Literatur des 12. und 13. Jahrhunderts eng an den Stilbegriff gebunden. Die Beiträge von MANFRED EIKELMANN und ALMUT SUERBAUM verbindet die gemeinsame Frage, ob und wie Stil als funktional relevante literarische Formkategorie unter den ganz spezifischen kulturellen, poetologischen und materiellen Bedingungen mittelalterlicher Literaturproduktion und Literaturrezeption überhaupt greifbar sowie konzeptualisierbar ist. Exemplarisch ausgelotet wird der mit dieser Frage eröffnete ganz grundlegende Problemkomplex am Beispiel mittelalterlicher Lyrik, einem poetischen Feld also, das in ganz besonderem Maße traditionsgebunden wie durch den verdichteten Wiedergebrauch sprachlicher Mittel gekennzeichnet ist und schon deswegen die Grenzen der Beschreibbarkeit stilistischer Differenzqualität ausgesprochen klar zu markieren scheint. Allerdings weisen beide Autoren dann in den von ihnen in den Blick genommenen Liedern durchaus sehr unterschiedliche und auf Distinktion zielende Form-Funktions-Korrelationen nach, die jedoch gleichermaßen aus der Berührung von höfisch-weltlichen und geistlichen Sprachund Denkformen resultieren. So konturiert EIKELMANN für Morungens Freudenlied In sô hôher swebender wunne einen eigenen, von anderen Liedern unterscheidbaren Redegestus, der geistliches und weltliches Sprechen über Liebe engführt, ohne die jeweiligen Grenzen zu markieren oder klare Hierarchisierungen vorzunehmen. Gerade diese offene und virulent gehaltene Spannung zwischen den heterogenen Redeformen sei als Mittel stilistischer Profilierung wahrnehmbar. Demgegenüber geht es ALMUT SUERBAUM für die ‚Strophischen Lieder‘ Hadewijchs, die wie Morungen auf besondere Weise Elemente der unterschiedlichen Rede- und Denktraditionen kombinieren, um die Anbindung an eine kulturelle Praxis. Das Ineinandergreifen weltlicher und geistlicher Elemente sei hier nicht über moderne Konzeptionen individuellen Stilwillens zu fassen, sondern als Angebot an die eingeschriebenen Adressatinnen zu verstehen, sich über die vertraute literarische Diktion als Gruppe zu konstituieren und dabei eine Beziehung zu Gott zu artikulieren, wie sie sonst an die monastisch-lateinische Liturgie gebunden ist. Ebenfalls am Beispiel des Minnesangs führt ANETTE GEROK-REITER in das schwierige Verhältnis von Stilkonzept und Stilanalyse ein. Vor dem Hintergrund des zeitgenössischen Verständnisses von ars und artificium beschreibt sie Stil als eine Kunst der vuoge, als eine Beschreibungskategorie also für die Bezüge zwischen den einzelnen Bestandteilen eines sprachlichen Artefakts, für die tiefen internen Relationen und Proportionen. In diesem Sinne sei Stil keine über die Beschreibung einzelner Elemente fassbare Oberflächenkategorie, sondern betreffe die Substanz eines jeden Kunstwerks und offenbare sich damit letztlich nur im Blick auf den gesamten Diskurs. Aus der Perspektive eines sich zu Beginn des 13. Jahrhunderts ausdifferenzierenden Meisterschaftsdiskurses zeigt auch SUSANNE BÜRKLE die Verwobenheit stilistischer Ordnungen und Funktionen mit anderen Ebenen und Eigenschaften des Literarischen. Im Zusammenhang mit Verwendungsweisen des Meisterbegriffs und Selbstbeschreibungen von Dichtung konturiere sich kein eigenständiger Bereich sprachstilistischer Kompetenzen. Vielmehr sei Meisterschaft ein Akt der Zuschreibung und Valorisierung, der in der Reflexion des Literarischen als übergreifendem Konzept Vehikel und Indikator eines Institutionalisierungsprozesses sei. Speziell auf solche metapoetischen Kommentare, die das Verhältnis von Inhalt und Form betreffen, richtet MARKUS STOCK sein Augenmerk. Am Beispiel der mittelhochdeutschen Antikenepik beobachtet er, dass für analoge stoffliche Herausforderungen ganz verschiedene sprachliche Ausdrucksideale gleichermaßen selbstbewusst favorisiert werden können. Im Zuge der Abwägung unterschiedlicher Möglichkeiten der Gestaltung würden dabei Metaphoriken für Stilphänomene entwickelt, die, obwohl sie vorterminologisch blieben, doch geeignet seien, die Lücke zwischen der komplexen literarischen Praxis und den zeitgenössischen Möglichkeiten der Beschreibung zu schließen. Unter einer ähnlichen Fragestellung spürt ESTHER LAUFER dem Retextualisierungskonzept Konrads von Würzburg nach, wie es sich im Engelhard und im Trojanerkrieg mit der Formel maere erniuwen verbindet. Ausgangspunkt für ihre Überlegungen ist die Beobachtung, dass diese Formel zwar textund gattungsübergreifend Verfahren des Wiedererzählens indiziert, dass aber auch hier insofern ein vorterminologischer Gebrauch vorläge, als keine genau spezifizierbaren Retextualisierungsverfahren ausgewiesen würden. Für Konrad offenbarten die syntaktischen Bezüge von maere und erniuwen sowie die Kontextualisierungen beider Begriffe ein Selbstverständnis als Restaurator, dessen vor allem stilistische Bearbeitung natürlichen Verfallsprozessen entgegenwirken und das Alte wieder erblühen lassen solle.

KLAUS GRUBMÜLLER, CHRISTOPH HUBER und ALBRECHT HAUSMANN nähern sich am Beispiel von Gottfrieds Tristan Friktionen zwischen Stilpraxis und Stilideal an, Spannungen also zwischen poetologischer Reflexion und konkreter sprachästhetischer Gestaltung. Von grundlegendem Interesse sind solche Friktionen nicht zuletzt deswegen, weil die begrenzte Umsetzbarkeit von stiltheoretischen Überlegungen in literarischer Praxis wie wissenschaftlicher Analyse bis in neueste Diskussionen hinein (vgl. auch GEROK-REITER) zu den virulentesten Problemen einer literaturwissenschaftlichen Stilforschung gehört. GRUBMÜLLER und HUBER setzen beide bei der Konturierung eines Stilkonzepts im Literaturexkurs des Tristan an und reflektieren, inwiefern Gottfried den Anspruch erhebe, einem Ideal der perspicuitas zu folgen. Im Gegensatz zu weiten Teilen der Forschung liest GRUBMüLLER den Unfähigkeitstopos im Eingang des Exkurses nicht als ironisch. Gottfried erkläre tatsächlich auch für sein eigenes literarisches Schaffen das lateinische Stilideal des perspicue loquendum zur Orientierungsgröße, formuliere aber gleichzeitig das Bewusstsein des eigenen Versagens, das sich allerdings nicht in fehlender artistischer Kompetenz begründe, sondern in den besonderen Anforderungen des Gegenstandes. Die Aporien, Dilemmata und Widersprüche, die das Ideal sprachlicher Klarheit brechen, erfüllen nach GRUBMüLLER gerade das aptum eines Erzählens von der Unmöglichkeit, wahre Liebe im Rahmen gesellschaftlicher Normen zu erfüllen. CHRISTOPH HUBER stellt die Frage nach der Bedeutung des Bildes von den cristallînen wortelîn ausgehend von den zeitgenössischen Implikationen der Kristallmetapher. Da der Kristall zwar als durchsichtiges, gleichzeitig aber auch den Gegenstand der Betrachtung brechendes oder zumindest doch modifizierendes Medium verstanden werde, plädiert er dafür, Gottfrieds Bild nicht auf das lateinische Stilideal der claritas oder perspicuitas zu beziehen, sondern als Bekenntnis zu einem sprachästhetischen Entwurf jenseits der Tradition zu verstehen. Im Zentrum dieses Entwurfes stünde eine zwar transparente Sprache, die aber gleichwohl einer Ästhetik semantischer Mehrschichtigkeit folge, ihren Gegenstand also zur Erscheinung bringe, ohne dabei aber in der Erkenntnis dieses Gegenstandes Eindeutigkeit zu evozieren. Die von GRUBMÜLLER und HUBER fokussierte semantische Uneindeutigkeit der Sprache im Tristan konfrontiert ALBRECHT HAUSMANN mit einer aus seiner Sicht gegenläufig verwendeten Dimension von Sprache. Der Klang der Worte und syntaktischen Einheiten suggeriere im Tristan eine Zwangsläufigkeit und Gerichtetheit des Erzählens, die auf der Ebene des Gesagten immer wieder unterlaufen und konterkariert werde und fungiere so als eigenständige Ebene der Sinnkonstitution.

Die besondere Nähe von Stil und Klang bzw. solche Form-Funktion-Korrelationen, die auf der Klanglichkeit von Sprache beruhen, untersuchen neben ALBRECHT HAUSMANN auch TIMOTHY R. JACKSON, ALMUT SCHNEIDER, CAROLINE EMMELIUS und VOLKER MERTENS. Für eine ganze Reihe erzählender geistlicher Texte zeigt JACKSON, wie formal markierte Wechsel von Narration in einen Modus des Lyrischen, der sich in einem emotional gesteigerten Stil fassen ließe, genutzt werden, um die Beteiligung der Rezipienten an der Figurenhandlung zu erhöhen. Im Zuge aktueller Diskussionen im Bereich der historischen Emotionsforschung seien neben der Ebene inhaltlicher Darstellung solche Verfahren der Rezeptionssteuerung stärker zu beachten. ALMUT SCHNEIDER diskutiert das Verhältnis von Musikreflexion und poetologischem Selbstverständnis, wie Konrad von Würzburg es in der Goldenen Schmiede entwickelt. Ihrer Lektüre nach markiert sich im interartifiziellen Diskurs gerade nicht die Begrenztheit dichterischen Schaffens. Ganz im Gegenteil evoziere Konrad in einer ohne Ziel bleibenden Dynamik und über Metaphernketten, die eine Gleichzeitigkeit von Stillstand und Bewegung erzeugen, eine Zeitlosigkeit, die zumindest partiell an die musikalischen Bewegungen des Engelsangs heranzureichen vermöge. Auf diesem Weg bilde Konrad mit den eigenen Mitteln des poetischen Sprechens den Engelsang ab und fokussiere somit das Zentrum der Sprache selbst, nämlich ihre erkenntnisstiftende Funktion. Am Beispiel der Kolonreime entwirft CAROLINE EMMELIUS die Grundzüge einer Klangpoetik für Mechtilds Fließendes Licht der Gottheit. Insbesondere in den Figurenreden ließe sich eine doppelte Funktionalisierung dieser Gestaltungselemente erkennen, die einerseits über eine ästhetische Wirkung verfügten, indem sie dem geschriebenen Wort eine deutlich wahrnehmbare stimmliche Qualität verliehen, andererseits aber auch als rhetorisches Mittel des dramatischen Dialogs eingesetzt würden, um die Bezogenheit verschiedener Aussagen aufeinander zu markieren, semantische Einheiten auszuweisen oder die Gegensätzlichkeit von Positionen hervorzuheben. Um die unterschiedlichen hermeneutischen Impulse, die im Tristan und im Jüngeren Titurel durch Klangkonfigurationen gegeben werden, geht es VOLKER MERTENS. Während Albrechts Text durch eine musikalische Verdichtung zur Evokation und Verheißung des Engelsangs werde und durch musikalisch generierte Empathie eine Poetik der transzendentalen Harmonie entstehe, evoziere die Klanglichkeit bei Gottfried nicht nur die Ambiguität sprachlicher Zeichen, sondern auch eine Semantik der Kontingenz.

Die konkretisierenden Beschreibungen sprachästhetischer Eigenarten einzelner Autoren und Werke sind Gegenstand einer weiteren Gruppe von Beiträgen, welche die Intertextualität und Traditionalität von Stilphänomenen fokussieren. Schon für das frühmittelhochdeutsche Gedicht Die Hochzeit weist SARAH BOWDEN Rekurrenzen auf Traditionen des mehrsinnigen Verstehens nach. Traditionelle Elemente scheinen dabei so strukturiert und kombiniert, dass sie den Leser dazu anhalten, in der Auslegung des nur Angedeuteten die Kohärenz des Expliziten erst herzustellen. Einer ungleich konkreteren intertextuellen Konfiguration wendet sich ANNETTE VOLFING zu, wenn sie die Frage stellt, ob Texte, die einen Wolfram-Erzähler entwerfen, auch den Stil des historischen Wolfram nachzuahmen versucht seien. Sie zeigt, dass es ganz verschiedene Verfahren, Techniken und Strategien der Bezugnahme gibt, stilistische Korrespondenzen dabei aber insgesamt eine eher untergeordnete Rolle spielen. Allein für den Jüngeren Titurel seien Analogien in der sprachlichen Komplexität zu erkennen, allerdings setze Albrecht dem freizügigen Sprachverhalten Wolframs eine normative, durch Regelmaß und Musterhaftigkeit geprägte Gestaltung entgegen, die das Erzählen letztlich entdynamisiere. In einem ähnlichen Untersuchungskontext erklärt ALASTAIR MATTHEWS das Erzählkonzept in den Schlussstrophen des Lohengrin als produktive Auseinandersetzung mit verschiedenen Prätexten (Sächsische Weltchronik, Prosakaiserchronik, Wolframs Parzival), von denen keiner einfach nachgeahmt würde und die es nicht erlaube, den Sprachund Erzählstil der Passage undifferenziert als chronikartig zu bezeichnen. Neu zu bewerten sei vor allem aber die Charakteristik der Nachfolgerschaft Wolframs. Die Durchlässigkeit zwischen den Stimmen des Wolfram-Erzählers und des Lohengrin-Dichters könne MATTHEWS zu Folge darauf hinweisen, dass nicht nur ein Vorbild nachgeahmt würde, sondern dieses mit der eigenen dichterischen Identität verschmolzen werden solle. Vor dem Hintergrund älterer ästhetischer Urteile werfen CORDULA BÖCKING und MICHAEL WALTENBERGER die Frage nach einem greifbaren Stilwissen und einem eventuellen Stilwillen bei Hugo von Montfort auf. Während BöCKING für Hugo in Anspruch nimmt, sich nicht nur metapoetisch mit Konzepten des geblümten Stils auseinander zu setzen, sondern auch in der bewussten Verweigerung konventionalisierter Schreibweisen zugunsten inhaltlicher Kohärenz den Bruch mit der Tradition selbst zum eigenen Stilmittel werden zu lassen, perspektiviert WALTENBERGER etwas anders. Er erkennt in Hugos Dichtung eine bewusste Relativierung konträrer poetologischer Horizonte, die letztlich auf eine deutliche Abschwächung des Geltungsanspruchs poetischer Meisterschaft verweise.

Auch in den sich anschließenden Beiträgen bleiben Formen und Funktionen der Traditionsbindung sprachästhetischer Gestaltung in der volkssprachigen Literatur des Mittelalters im Zentrum des Interesses. Allerdings kreisen die Analysen dabei insofern noch intensiver um ein Spannungsfeld von Stil und Hybridität, als sie verschiedene Formen von Brechungen und Neufunktionalisierungen traditioneller Darstellungsverfahren dokumentieren, die ihr Profil gerade in der gezielten Erzeugung von Friktionen oder Dissonanzen zum Erwartbaren entwickeln. Am Beispiel der Jeschute-Handlung des Parzival zeigt ELKE BRÜGGEN, dass Wolfram das Mittel der descriptio personae in einer ganz spezifischen Weise nutzt, indem er äußerst selektiv auf Topoi und Elemente traditioneller Beschreibungsmuster zurückgreift und diese gegen die Tradition funktionalisiert. Besonders signifikant erscheint ihr die gleichzeitige Verwendung des Farbkontrastes weiß-rot zur Inszenierung erotisch konnotierter Schönheit der schlafenden Jeschute im Zelt wie ihres durch Orilus’ Misshandlungen versehrten Körpers. Indem Jeschute in beiden völlig gegenläufigen Situationskontexten allerdings nicht nur auf der Ebene der Handlung zum Objekt männlicher Gewalt werde, sondern zudem in beiden Fällen einem durch den Erzähler evozierten voyeuristischen Blick als Form diskursiver Gewalt ausgesetzt sei, entstehe ein höchst eindrücklicher Konnex von erotischer Attraktivität und Leiden, von Schönheit und Gewalt, der als Novum in der Tradition der descriptio personae begriffen werden könne. Durchaus im Sinne eines Autorstils konzeptualisierbare Korrelationen von Form und Inhalt erkennt auch STEPHAN FUCHS-JOLIE in den unter dem Namen Wolfram von Eschenbach überlieferten Werken. In einem solchen Sinne typisch für Wolframs Sprache seien kontrastive Überblendungen metaphorischer und metonymischer Verfahren, bei denen metonymische Konnotationen in metaphorische Vergleiche hineinspielen und ein einmal metaphorisches evoziertes Bild metonymisch überlagern. Ergebnis solcher Überblendungen sei eine Mehrdeutigkeit durch simultane Sichtbarmachung von Verschiedenem, eine Ratio des Erzählens, nicht des Erzählten also, welche die Komplexität der Sprache und die Vielfalt der Signifikantenbeziehungen offenlege und zum poetischen Prinzip erhebe. In kritischer Auseinandersetzung mit älteren, auf überholten Erwartungen an Einheitlichkeit und Homogenität beruhenden Stilbewertungen wendet sich ANDREAS HAMMER noch einmal neu dem Zusammenhang von Erecund Mantelfragment im Ambraser Heldenbuch zu und plädiert dafür, beide Erzählkomplexe wenn auch nicht als organisches Ganzes, so doch aber als einen einzigen Text zu verstehen und konsequent als kulturelles Zeugnis des 15. Jahrhunderts zu bewerten. Im Fluchtpunkt dieser Überlegungen weist HENRIKE MANUWALD schon für das Mantelfragment einen durch und durch hybriden Stil nach, der sich u. a. in Brüchen und Disproportionen zwischen verschiedenen sprachlichen Registern sowie im unvermittelten Nebeneinander unterschiedlicher Form-Zitate dokumentiere, und sie deutet dies als sprachlich-formale Entsprechung zur schlechten Passform des Zaubermantels auf der inhaltlichen Ebene, welche letztlich die Kritik an den Interaktionsformen der Artusgesellschaft auch poetisch inszeniere.

Im Ausblick perspektivieren zwei Beiträge das auch an anderen Stellen immer wieder angesprochene enge Verhältnis von Materialität und Stil unter rezeptionsästhetischen Gesichtspunkten. JOHANNES M. DEPNERING erläutert, dass die volkssprachigen Ergänzungen in den lateinischen Sermones Bertholds von Regensburg in der Freiburger Handschrift Ms. 117 I/II den verständniserleichternden Gestus der lateinischen Texte erkennen und stützen und dass sich damit ein übergreifender Funktionsrahmen erkennbar abzeichnet. Für die Fachprosa des 15. und 16. Jahrhunderts problematisiert CHRISTINA LECHTERMANN gerade eine solche Vorstellung einer geschlossenen Konfiguration aus typographischem Erscheinungsbild, inhaltlicher wie stilistischer Gestaltung und pragmatisch-didaktischer Intention. Am Figurenkomplex der Schneckenlinien untersucht sie das Verhältnis von Text und Bild in Dürers Underweysung der Messung und Behams Kunst und Lere Bimagechlin. Während bei Dürer die Gestalt der Text-, Bild-, und Ziffernverbünde durch die Bedingungen der jeweiligen Instrumente determiniert würde und die stilistische Gestalt ähnlich wirkender Bilder oder Texte tatsächlich aber auf je unterschiedlichen Konstruktionsverfahren beruhe und dadurch äußerst komplex sei, büßten die Schneckenlinien bei Beham ihre didaktische Funktion ein und dienten nur noch als Verweis auf einen Wissenszusammenhang, der nicht mehr ausgeführt werde.

Mit den hier versammelten Beiträgen sind für die Literatur des deutschen Mittelalters Wege der künftigen Stilforschung aufgezeigt; dies betrifft gleichermaßen die methodische Orientierung, die Einzelpraxis der Analyse sowie das grundsätzliche Erkenntnisinteresse, aber auch die Grenzen dessen, was stilistische Untersuchungen leisten können. Die vorgelegten Interpretationen und Deutungen, die sich unter dem Vorzeichen einer – nunmehr neu fassbaren – Stilanalyse vollziehen, öffnen andere Perspektiven auf bekannte Fragen auch dort, wo endgültige Antworten spekulativ bleiben. Darüber hinaus macht die Zusammenschau der Beiträge deutlich, dass für eine auf Vollständigkeit angelegte Rekonstruktion historischer Textbedeutungen die Kategorie ‚Stil‘ in jedem Fall Berücksichtigung finden muss.

Die Herausgeberinnen danken an erster Stelle all denjenigen, die das hier nur in seinen Konturen skizzierte Gespräch über mögliche Perspektiven einer literaturwissenschaftlichen Stilforschung innerhalb der germanistischen Mediävistik mit ihren Vorträgen und Diskussionsbeiträgen erst ermöglicht haben. Ohne die großzügige Unterstützung durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft, die Gesellschaft von Freunden und Förderern der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, die Philosophische Fakultät der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, die University of Newcastle und die University of Nottingham wäre dies allerdings nicht in einem so komfortablen Rahmen möglich gewesen. Elisabeth Höpfner-Poleski, Veronika Hassel, Svenja Fahr und Susanne Kollmann haben im Vorfeld und während der Tagung die organisatorischen Aufgaben engagiert mitgetragen. – Allen Beiträgern danken wir für die Druckerlaubnis ihrer Aufsätze. Nicht zuletzt haben Bibliotheken zum Gelingen des Bandes beigetragen, indem sie Abbildungen und Digitalisate zur Verfügung gestellt haben. Für die Herstellung des Buches stehen wir beim Akademie Verlag, nun aufgegangen im Verlag De Gruyter, in großer Schuld. Er hat uns die Publikation ermöglicht und alle Entstehungsschritte mit Geduld begleitet. Für ihre Hilfe bei der Zusammenstellung des Registers danken wir Laura Bitnar, Martyn Gray und Jenny Lemke. Größter Dank gebührt Veronika Hassel, Nina Scheibel, Anne Florack und Romy Bittmann; sie haben die Drucklegung des Bandes mit großem Einsatz und besonderer Sorgfalt mitbetreut.

Elizabeth Andersen, Ricarda Bauschke, Nicola McLelland, Silvia Reuvekamp Juli 2015