Zum Verhältnis von iterativer Rede
und geistlichen Assoziationskontexten in Heinrichs von Morungen
In sô hôher swebender wunne (MF 125,19)*
Was unter ‚Stil‘ und ‚Stilisierung‘ zu verstehen sei, ob die Begriffe historisch brauchbar sind, wie sich Stilphänomene in älterer Literatur adäquat erschließen lassen, auch, worin die spezifische Leistung von Stilanalysen zu suchen ist – dies sind Fragen, die im Kontext aktueller Debatten um die deutsche Literatur im Mittelalter allenfalls am Rande auftauchen und auf den ersten Blick nach allem Anschein kaum direkt an sie anzuschließen sind. Denn „nachdem der Strukturalismus und ein aufkommendes Interesse an der Sozialgeschichte der Kultur die Stilforschung seit den 1960er Jahren in den Hintergrund gedrängt hatten“,150 ist gegenwärtig selbst die eigentlich naheliegende „Frage, was es denn sei und wie man es begrifflich fassen könne, was den Stil vormoderner Texte über Rhetorik und Stilistik hinaus denn nun eigentlich zum individuellen Werkstil mache“151, alles andere als selbstverständlich. Dies gilt auch für das methodische Problem, wie Stilanalysen der deutschen Literatur des Mittelalters mit ihren eigenen kulturellen Rahmenbedingungen so angelegt werden könnten, dass ihre Virulenz für Interpretationen der poetologischen, performativen und medialen Dimension volkssprachlicher Texte zur Geltung kommt.
Treffend hat HUGO KUHN bereits 1959 die Vorbehalte gegenüber „der stilistischen Arbeit der Philologie“152 charakterisiert, wenn er den Tenor der Kritik zu beschreiben versucht:
Sie möchte nicht mehr fragen, wie ist das gemacht?, also nach den einzelnen Stilmitteln, sondern: warum ist das so gemacht?, also sogleich nach ihrer Funktion. Das heißt, sie vermißt in der Philologie, oft mit Recht, das Bewußtsein von der ‚Gestalt‘, von der ‚Ganzheit‘ des literarischen Werks, vom funktionalen Zusammenhang aller Stilmittel und von der Einheit dahinter, sei diese Einheit die Idee, das Lebensgefühl oder die Absicht des Weltgeistes, die ökonomische Lage, sei es eine logische Struktur oder das Weltverständnis und wie immer die Schlagworte der philosophischen Mode heißen.153
Die Einwände richten sich also nicht gegen eine textphilologische Stilforschung, die der sprachlich-rhetorischen Formung des literarischen Werkes – ihrer Grammatik, Metrik, Lexik, Metaphorik, ihren rhetorischen Figuren, Textstrukturen – gilt. So gewinnt die mediävistische Lyrikforschung noch in jüngerer Zeit und gerade auch dort, wo sie das Verhältnis von Überlieferung und Autorschaft reflektiert, immer noch anhand sprachstilistischer und formaler Analysen Kriterien für die Zuschreibung einzelner Texte an einen Autor und sogar das Profil ganzer Autorœuvres.154 Denn selbst wenn man davon ausgeht, dass die Kennmerkmale, an denen sich Autorschaft bemisst, oft unsicher sind und im Einzelfall immer erst ermittelt werden müssen, ist die Annahme doch begründet, dass es auch im Mittelalter „die Aufmerksamkeit für eine autorspezifische Stilhaltung, für ein individuelles Sprachund Formverhalten“155 gibt. Während die ältere Stilforschung so aber bei aller Problematik als philologisches Arbeitsinstrument unverzichtbar scheint, weil sie tatsächlich „das breiteste Material für eine Stilgeschichte der deutschen Literatur im Mittelalter“156 liefert, müssen Stilanalysen literarischer Werke den Vorbehalt einkalkulieren, dass sie sich allzu oft mit der Beschreibung einzelner sprachlicher Details begnügen und die Sprachlichkeit der Texte auf Kataloge zählbar gemachter Ausdruckselemente reduzieren, deren variierende Verwendungen dann etwa als Beleg für artistische Könnerschaft dienen sollen. Für Interpretationen und die Arbeit an theoretischen Konzepten scheinen Stilanalysen auch insofern wenig herzugeben, weil sie sich auf einzelne Phänomene der sprachlichen Oberfläche konzentrieren, ohne die funktionalen Zusammenhänge der Stilmittel zu erfassen. Dass es bei diesen Vorbehalten immer schon um die grundsätzlichere Frage geht, wie ‚Stil‘ als literarische Formkategorie zu konzeptualisieren wäre, wird jedoch oft nicht mehr gesehen. Jedenfalls fehlt zumeist der Rekurs auf neuere Ansätze der Stilforschung, die den Stil eines Textes eben nicht atomistisch in diesem oder jenem auffälligen Ausdruckselement suchen, sondern, um einiges riskanter, ein Verständnis geltend machen, wonach sich der Stil literarischer Werke kontinuierlich in ihrer gesamten Textur mit allen sprachlichen Details sowie deren Zusammenspiel material und medial manifestiert.157
Unter den Prämissen eines solchen ‚integrativen‘ Stilkonzepts bezieht man sich zwar explizit auf textuelle Oberflächenphänomene, doch in den Blick kommen mit ihm neben den Strukturen jedes einzelnen Ausdruckselements stets Beziehungen verschiedener Ausdruckselemente, die konstitutiv für das jeweilige Redeund Textgefüge und dessen Dynamik in der literarischen Kommunikation sind. Denn was der Stil zur ästhetischen Gestalt und Sinnbildung eines Textes beiträgt und wie er kommunikativ im Kontakt mit Hörer und Leser wirken will, hängt so nicht von einem Stilmittel allein ab, sondern von allen sprachlichen Mitteln zusammen. Umgekehrt erlaubt dieses Stilverständnis die Interpretation unterschiedlicher funktionaler Möglichkeiten – von der kontextuellen Analyse einzelner Stilfiguren über die funktionale Deutung literarischer Texte bis hin zu stilgeschichtlichen Schlussfolgerungen. Dass ein solches Verständnis dabei aktuellen poetologischen und literarästhetischen Fragestellungen zuarbeiten könnte, liegt nahe, da sich gerade auch in der Sprachlichkeit literarischer Texte – anders als in abstrakteren Textstrukturen – „das Ästhetische als sinnliches, wahrnehmbares, erscheinendes konkret manifestiert“.158 Fragt man so nach Anschlusspunkten für die Erforschung der deutschen Literatur des Mittelalters, wäre eine Reihe älterer wie neuerer Ansätze – so beispielsweise die für volkssprachliche Literatur kontrovers beurteilte Verbindlichkeit und Mächtigkeit der Tradition er lateinischen dRhetorik und Poetik159 – zu beachten, doch scheinen mir letztlich vor allem zwei jüngere Diskussionen in der germanistischen Mediävistik fruchtbar zu sein:
1. Materialität des Textes: Schon PAUL ZUMTHOR hatte in der frühen Diskussion um die Materialität der Kommunikation gefordert, Stil im Spannungsfeld zwischen Aufführung und Schrift zu verorten. Nicht allein „die linguistischen Formen, deren Gesamtheit den Text ausmacht“, seien zu berücksichtigen, sondern auch „alle nichttextuellen Bestandteile, die mit der Körperlichkeit der Teilnehmer und ihrer gesellschaftlichen Existenz als Mitglieder einer Gruppe und als Individuen in einer Gruppe zusammenhängen“.160 Für die Analyse mittelalterlicher Werke sei daher auch die „Materialität der Stimme“161 nicht weniger zentral, als es die Vorschriften und Muster der lateinischen Rhetorik sind. Auch unabhängig von diesem Konzept hat die jüngere Forschungsdiskussion nach der Pragmatik der Texte und ihrer kontextuellen Bindung an Aufführungssituationen gefragt und für Interpretationen genutzt.162 Doch anders als bei Zumthor erhalten Fragen nach Sprachstil und Redegestus zumeist noch zu wenig Aufmerksamkeit, auch wenn man dies insbesondere für den nachklassischen Minnesang bis Frauenlob differenziert sehen muss.¹163 Jedenfalls kann der Erkenntnisanspruch, der sich in der Frage vorwagt, welche Effekte der im Lied textierte ‚Ton‘ und ‚Klang‘ der Stimme haben und wie sich die Modalitäten des Vortrags im Redegestus manifestieren,164 nicht abgewiesen werden; und vielleicht ist es bemerkenswert, dass der jüngste Versuch über den Begriff der „Stimmung“165 als einziges lyrisches Beispiel Walthers von der Vogelweide Lieder und Sprüche beizieht.
2. Performativität der Literatur: Das Stilkonzept, so wird man sagen können, entspricht den kulturellen Rahmenbedingungen der volkssprachlichen Literatur des Mittelalters: ihrer Bezogenheit auf Traditionen, ihrem reflektierten Sprachverständnis, aber auch ihren noch kaum institutionell regulierten Kommunikationsverhältnissen, deren Geltung immer neu auszuhandeln ist. Diese Virulenz des Stilkonzepts bestätigt sich dann, wenn man neuere Zugänge zur literarischen Sprache als Ereignis und Handlung einbezieht und damit nach dem performativen Charakter von Rede und Schrift fragt. Für die sprachliche Formgebung mittelalterlicher Literatur ist dabei der Hinweis entscheidend, dass sprachliches Handeln „nicht nur in dem Einmaligen oder Ereignishaften einer bestimmten Aufführung oder Lektüre“ besteht, sondern zugleich „in der Wiederholbarkeit eines Aktes, der auf paradoxe Weise den Eindruck der Einmaligkeit“166 erzeugt. Denn es ist diese Wiederholbarkeit, die eine sprachliche Handlung stets in die Reihe mit den vorausgegangenen Sprachhandlungen stellt, die aber auch die Möglichkeit eröffnet, Wiederholungen als literarisches Mittel zu verwenden, um sich nicht zuletzt in der Sprachgestaltung auf eine Tradition zu beziehen, von ihr abzuweichen oder sie bewusst auszustellen.167 Vor diesem Hintergrund leuchtet ein, wenn Stilanalysen mittelalterlicher Literatur den wiederholten Gebrauch sprachlicher und rhetorischer Ausdrucksmittel in den Blick nehmen und dabei fragen, welche Faktoren die Wahl dieser Mittel bedingen und wie sie sich in neuen Kontexten verändern. Es spricht aber auch einiges dafür, speziell den iterativen Redegestus älterer Texte näher zu analysieren.
Diese zwei Diskussionszusammenhänge ließen sich durch einen Vergleich mit der stilistischen Praxis der lateinischen Schriftkultur des Mittelalters noch stärker profilieren. Anders als dies für die Volkssprache gilt, ist der Sprachgebrauch im Lateinischen institutionell reguliert, so dass man Stil „aufgrund der starken Verbindlichkeit rhetorisch-stilistischer Normen nicht als Individualstil fasst, sondern als spezifische Verwendung überpersonal geprägter bzw. kollektiv verfügbarer sprachlicher Mittel begreift“.168 Statt nun aber zu erörtern, inwieweit Stilmittel und Stilmodelle der lateinischen Rhetorik und Poetik in die volkssprachliche Literatur ausstrahlen, will ich im Folgenden an einem Gattungsbeispiel, der höfischen Lyrik und dem Ich-Lied der Hohen Minne, nach dem Wiedergebrauch sprachlicher Mittel und deren stilistischer Differenzqualität fragen. Meine Ausgangsbeobachtung ist, dass den Minnesang Stilphänomene kennzeichnen, die nicht nur stark traditionsgebunden, sondern zugleich mit einem hohen Maß an literarischer Sprachmodellierung und poetologischer Selbstreflexion verbunden sind. So loten gerade die Liedautoren, die um 1200 dichten, neben dem Minnethema auch formale Spielräume aus und arbeiten gezielt an Verdichtungen und Verschiebungen der Sprache des Minneliedes. An Heinrichs von Morungen Freudenlied (MF 125,19) lässt sich dies beispielhaft beobachten, weil die iterative Ich-Rede des Liedes mit dem Aufbau geistlicher Assoziationskontexte einhergeht. Da Morungen die Grenze zwischen geistlicher und weltlicher Liebessprache verwischt, sein Lied aber auch die Unsagbarkeit der Gefühle des Ich reflektiert, stellt sich schließlich die Frage, inwiefern dieser religiös konnotierte Redegestus eine Stildifferenz markiert.
Die Entwicklung des Minnesangs bis auf Walther wird […] durch etwas Anderes deutlicher als durch die Vergleichung der Lieder auf ihren Gedankengehalt hin: nämlich durch die Betrachtung ihrer sprachlichen Form, ihres Stils und ihrer poetischen Technik.169
KONRAD BURDACHS thesenhafte Überlegung aus dem Jahr 1880 wirkt im Kontext jüngerer Diskussionen zum Minnesang als poésie formelle und als artistischer Variation fast schon trivial. Dem heutigen Verständnis des Minneliedes hat sie, wie es auf den ersten Blick scheint, wenig zu bieten, was man nicht schon wüsste. So fragt sich etwa auch, ob die in seiner Untersuchung praktizierte Beschränkung der „sprachlichen Form“ auf die Ebene der Syntax – „Parataxe, Temporalsätze, Causalsätze, Consecutivsätze, Conditionalsätze“ – und die Ebene der poetischen Technik, unter der er rhetorische Figuren wie Antithese, Revocatio, Parallelismus oder Responsion versteht,170 heutigen Stilkonzeptionen überhaupt zu entsprechen vermag. Näher zugesehen fällt allerdings auf, dass es bei BURDACH nicht um den Nachweis kunstvoller Variation im Sinne einer poésie formelle geht. Seine Fragestellung richtet sich auf ein anders gelagertes stilanalytisches Problem, darauf, in der sprachlichen Form der Texte die Ebenen des Überindividuellen und des Individuellen zu unterscheiden, um überhaupt erst beobachten zu können, was zur kollektiv verfügbaren Sprache des Minneliedes gehört und wie spezifisch sich ein Autor dazu verhält. Schon hier tritt also ein Frageinteresse hervor, das, obwohl riskant, auf das von Fall zu Fall anders austarierte Spannungsfeld zwischen dem Aufrufen von Tradition und deren individueller Gestaltung zielt, und zwar mit der Perspektive auf eine Engführung von Literaturund Stilgeschichte. Selbst an Sprachdetails wie den grammatischen Formen der Syntax und des Verbmodus tut sich so die Möglichkeit auf, typischen Sprachmustern und ihrer Verwendungsweise auf die Spur zu kommen:
Im späteren Minnesang treten die temporalen Sätze zurück hinter complicierteren Satzformen: man hat da eben nicht mehr Sinn und Empfänglichkeit für die in Raum und Zeit sich abspielenden Vorgänge der Aussenwelt, sondern man grübelt allein über seine Empfindungen.171
Die im hohen Minnelied seit Friedrich von Hausen „mit allen möglichen Färbungen“ präsente „hypothetische Satzform“ erweist sich dabei als Stilphänomen, weil die Autoren nach Hausen sie schon wie „eine längst geprägte und umlaufende Münze“ behandeln und man deshalb nach dem jeweils spezifischen Sinn der „conditionalen Redeweise“172 fragen kann. Beobachtbar wird so auch, wann sich eine Sprachform wiederholt und vielleicht sogar so häufig wird, dass sie als Redeund Denkfigur typisch ist. Hausen und Reinmar greifen in ihren Minnekanzonen auf ein solches Sprachmuster zurück, wenn sie hypothetische Reflexionen in Szene setzen, in denen das Ich des Liedes einen Ausweg aus der nicht erfüllten Liebe sucht und daraufhin als möglich annimmt, was der Wirklichkeit aber gerade nicht entspricht:
Hete ich sô hôher minne
mich nie underwunden,
mîn möhte werden rât.
ich tet ez âne sinne;
des lîde ich ze allen stunden
nôt, diu mir nâhe gât.
Mîn staete mir nu hât
daz herze alsô gebunden,
daz sî ez niht scheiden lât
von ir, als ez nu stât. (MF 52,7–16)173
Ime ist wol, der mac gesagen,
daz er sîn liep in senenden sorgen lie.
nu muoz aber ich ein anderz klagen:
ich gesach ein wîp nâch mir getrûren nie.
Swie lange ich was, sô tet sie doch daz ie.
diu nôt mir underwîlent
reht an mîn herze gie.
und waere ich ander iemen
alse unmaere manigen tac,
deme het ich gelâzen den strît.
diz ist ein dinc, des ich mich niht getroesten mac. (MF 155,5–15)174
Diese Strophen sind Beispiele dafür, wie sich im Minnelied erste Formen der Ich-Reflexion entwickeln. Die Wendung nach innen führt so wie hier dazu, dass sich das Ich sozial isoliert, zugleich aber die lebensbestimmende Bedeutung der Minne erfährt. Während bei Hausen ein Ich hervortritt, das den hypothetisch vorgestellten Ausweg aus dem Anspruch der Hohen Minne sogleich verwirft und sich selbst korrigiert (ich tet ez âne sinne), um sein Begehren aufzuschieben und den Dienst für die Dame als staete zu rechtfertigen, greift das Ich in Reinmars Lied wiederholt auf Vorstellungen aus, die eine Alternative zur Not der nicht erwiderten Liebe bieten könnten (Ime ist wol, der […] und waere ich ander ieman). Doch jedes Mal erweisen sie sich als kontrafaktische Lösungen, die der Wirklichkeit gar nicht entsprechen und am Ende nur dazu beitragen, dass das Ich in ein auswegloses Dilemma gerät. Gerade für Reinmar muss man weiterfragen, wie diese Redeund Denkfigur, die erwünschte Vorstellungen mit der Wirklichkeit konfrontiert, die Textur des gesamten Liedes175 prägt und insofern einen unverwechselbaren ‚Reinmarton‘ erzeugt, als sie auf ein exemplarisches Ich verweist, dass die Paradoxien des im Lied inszenierten Minnedienstes im Modus höfisch kultivierter Zurücknahme von Affekten, Gefühlen und Gedanken artikuliert.176
Für das Ich-Lied der Hohen Minne, die Minnekanzone,177 sind der außergewöhnliche Rang und Anspruch seines Themas konstitutiv. Das Konzept einer höfischen Liebe, in dem der Mann klagend, reflektierend, preisend, beteuernd um eine Frau wirbt, die höher gestellt ist als er, wird dabei als monologische Ich-Rede in Szene gesetzt, die sich meist nicht an die Geliebte richtet, nicht direkt dem geliebten Du gilt, sondern sich primär als Interaktion zwischen dem Ich und den Zuhörern entfaltet. Die Redesituation der klassischen Minnekanzone entwickelt sich stets aus der Distanz zur Frau, setzt nie eine Situation gegenseitiger Verständigung voraus, und die Ich-Rede ist immer die des einseitig betroffenen Mannes, in dessen Empfindungen und Reflexionen sich die Liebe zum absoluten Wert potenzieren kann. Wenn man dabei aber nicht nur Lieder sieht, die solche Liebesklagen eher variierend inszenieren, sondern gerade diejenigen, in denen die Paradoxien der Hohen Minne sprachlich verdichtet und zugespitzt werden, zeigt sich, wie diese Spielart des Minneliedes durch „die Intensität der Sprache und die Differenziertheit der Argumentation“178 spezifisches Profil gewinnt. Dazu gehört es, wie man längst weiß, dass sich die Ich-Rede des Minneliedes in zwei Sprecherrollen spaltet und, indem neben dem liebenden Ich das Ich des Sängers hervortritt, sowohl als Minnedienst wie auch als Diskurs über das Singen realisiert.179 Nicht selten geraten diese zwei Sprecherebenen in Spannung zueinander, und sie sind sogar bis zum Selbstwiderspruch aufeinander bezogen, wenn sich das liebende Ich, das sein Begehren auszudrücken sucht, an den Widersprüchen der Hohen Minne abarbeitet und dabei dem Spott anderer ausgesetzt ist, während für den Sänger die im Lied inszenierte Liebesklage der Freude der Gesellschaft dient. Die Sprache der Liebe, mit der die Lieder auf diese oftmals hochgetriebenen Spannungen reagieren, ist pathetisch und exorbitant. Gekennzeichnet ist sie durch antithetische, hyperbolische und reflexive Formen der Rede. Stilistische Prägnanz gewinnen diese Redeformen dann, wenn sie im Liedvorgang gesteigert und intensiviert werden – sei es um die Grenzen des Sagbaren bis ins Religiöse auszuloten, sei es um „die hohen Töne“180 spielerisch oder parodistisch zu konterkarieren. Unbestreitbar ist hier wie dort der Anspruch, das Minnelied artistisch zu variieren, zugleich treten aber auch grundsätzlichere Stildifferenzen zutage, wenn sich die Sprache des Liedes zum einen dem Gestus religiöser Rede annähert und zum anderen auf das Pathos der Hohen Minne verzichtet und ostentativ „Meta-Minnesang“181 sein will.
Im Minnesang um 1200 sind es Heinrichs von Morungen Lieder, in denen sich die Sprache der Liebe dadurch differenziert, dass dieser Autor neben dem Reflexionslied den Frauenpreis bis in die verwendeten Stilmittel und diverse Stilebenen profiliert.182 Dass die Beschreibung der „sinnlichen Wahrnehmbarkeit der Frau und die ausgeprägt metaphorische Präsentation ihrer vor allem optischen Eindrücklichkeit“183 Morungens Minnesang spezifisch kennzeichnen, weiß man längst. Charakteristisch ist aber nicht allein schon die sinnliche Erfahrungsweise der Liebe, so sehr gerade auch die religiös konnotierte Lichtmetaphorik mit ihren im Inneren des Liebenden entstehenden Sichteffekten die Lieder prägt (vgl. etwa MF 129,20–24: Si liuhtet sam der sunne tuot / gegen dem liehten morgen. / ê was si verborgen. / dô muost ich sorgen. / die wil ich nû lân.).184 Ihre Visualität wird nämlich erst dann adäquat beschreibbar, wenn man auch die intrawie intertextuelle Dynamik der Lieder mit dem für sie bezeichnenden Spannungsverhältnis zwischen Anschauung, Reflexion und Narration sieht: Sinnliche „Erscheinung und [ihr] Entzug, Visualität und Abstraktion, Reden und Schweigen“, so betont CHRISTOPH HUBER, „fügen sich in ein Bündel von dialektisch-antithetischen Bezügen, die Morungens Minnelyrik in Bewegung halten“.185 Das zeigt sich beispielhaft, wenn das Sänger-Ich in einer hypothetischen Reflexion die Anschaulichkeit der Metapher vom Einwohnen im Herzen des Ich fast reduziert und das sinnliche Erscheinen der Frau aufschiebt:
West ich, ob ez verswîget möhte sîn,
ich lieze iuch sehen mîne schoene vrouwen.
der enzwei braeche mir daz herze mîn,
der möhte sî schône drinne schouwen. (MF 127,1–4)
Zugleich gilt aber auch, dass Visualität und Narration sich bei Morungen nicht etwa ausschließen, sondern in einem Wechselverhältnis stehen, so dass man fragen muss, wie Sichtbarkeit im Kontext mit narrativen und argumentativen Strukturen je neu entsteht.186 Unter diesen Voraussetzungen operieren Morungens Texte mit Ausdruckselementen und poetischen Verfahren aus unterschiedlichen rhetorischen und theologisch-spekulativen Wissenstraditionen (descriptio, Lichtästhetik), und die Effekte, die Kombination und Kontrast dieser durchaus heterogenen sprachlichen Mittel erzeugen, bestimmen wesentlich das stilistische Profil seiner Lieder.
In dem damit skizzierten Problemzusammenhang nimmt Morungens Freudenlied In sô hôher swebender wunne187 aus zwei Gründen eine Sonderstellung ein: Zum einen ist sie darin begründet, dass das Lied zu den ganz wenigen des klassischen Minnesangs gehört, die von gegenseitiger Liebe handeln. Ob das Ich in Morungens Lied „in der Erwartung eines von der Dame in Aussicht gestellten Schäferstündchens“188 spricht, ist allerdings wenig wahrscheinlich. Kaum zufällig ist im Text nur davon die Rede, dass daz wort gie von ir munde, / daz dem herzen mîn sô nâhen lac (MF 126,3 f.). Es könnte also auch nur ein Gruß oder die Annahme des Minnedienstes gemeint sein, doch bleibt wie in den Strophen zuvor auch hier das als höchstes Glück erfahrene Ereignis auffallend unbestimmt. Das Lied bezieht seine Wirkung wesentlich aus einem sprachlichen Gestus, der zwar wiederholend und steigernd den Glückszustand des Ich evoziert, Anlass und Grund für diese Erfahrung jedoch nur umschreibend und vage andeutet. Im Unterschied zum Minnelied sonst verschiebt sich bei Morungen damit aber die sprachliche Gestaltung von präzise sachlichen und argumentativen Differenzierungen auf konnotative Sprachqualitäten und Assoziationskontexte. Zum anderen macht der Ton „ekstatischer, hymnisch gepriesener Freude“189 die Besonderheit des Liedes aus. So findet der Text Möglichkeiten, den Zustand höchsten Glücks, den das Ich erfährt, durch den Rekurs auf religiöse Ausdruckselemente und Modelle zu artikulieren und hyperbolisch zu überhöhen. Doch so bestimmt die konnotativ hergestellten Bezüge erscheinen: Auch weil man das Lied nicht geradezu als „Kontrafaktur eines religiösen Hymnus“190 verstehen kann, stellt sich das Problem, wie im Text weltliches und religiöses Sprechen enggeführt werden und wie das Ineinander von Redeformen aus höfisch-weltlicher und geistlicher Tradition konstruiert ist:
In sô hôher swebender wunne
sô gestuont mîn herze ane vröiden nie.
ich var, als ich vliegen kunne,
mit gedanken iemer umbe sie, Sît daz mich ir trôst enpfie,
der mir durch die sêle mîn
mitten in daz herze gie. (MF 125,19–25)191
Mit ganz anderem Ton als Lieder der Hohen Minne sonst setzen die Eingangsverse gleich im Aufgesang den Jubel des Ich über das erwartete Liebesglück so emphatisch wie kunstvoll variierend in Szene. Hervorgehoben ist das unvergleichliche Glücksgefühl, eines, wie es das herze noch nie erfahren hat. Bereits in dieser Redegeste zeigt sich auch die dichte Textur des Liedes, einmal weil die so nachdrücklich herausgestellte Vokabel wunne (1,1) zusammen mit vröide und liebe zu einem Geflecht von Leitwörtern192 gehört, das durch Responsionen auch klanglich verstärkt wird, zugleich aber auch, weil beide Stollen des Aufgesangs durch die Metaphorik des Fliegens und Schwebens stilistisch wie semantisch korrespondieren. Damit eröffnen sie die Rede des liebenden Ich, das sein Glücksgefühl wiederholend in verschieden gerichtete Vorstellungen räumlicher Bewegungen – das hochfliegende Glück des Herzens, das kreisende Umfliegen der Frau in Gedanken – übersetzt.193 Der Abgesang, in ihm wird der Grund für das Glücksgefühl eher abstrakt benannt, führt eine weitere Raumdimension ein, indem nun davon die Rede ist, dass ihre Zuwendung (ir trôst) durch die Seele in das Herz gelangt ist. Ob mit der Raummetaphorik, die hier das innere Bewegtund Ergriffensein des Ich bezeichnet, zugleich Anklänge an das Magnificat ins Spiel kommen,194 ist zwar nicht sicher zu entscheiden, doch legen der Text, sein Ton und seine Redeweise einen solchen Bezug durchaus nahe. Auffallend ist zudem von Beginn an, dass wunne und vröide des Ich mit der imaginativ kaum einzuholenden Vorstellung eines dynamischen Innenraums verbunden sind, der, frei von jeglicher Ambivalenz, als Ort innerweltlich erfahrenen Heils195 gedacht ist.
Jede der vier Strophen des Liedes umkreist das Glücksgefühl des Ich, ohne dass die Semantik der Freude in eine leidvolle Liebe umschlägt. Durchgespielt in wechselnden Figurationen, wird die evozierte Glücksfülle wiederholend und überbietend gesteigert:
Swaz ich wunneclîches schouwe,
daz spile gegen der wunne, die ich hân.
luft und erde, walt und ouwe
suln die zît der vröide mîn enpfân.
Mir ist komen ein hügender wân
und ein wunneclîcher trôst,
des mîn muot sol hôhe stân.
Wol dem wunneclîchen maere,
daz sô suoze durch mîn ôre erklanc,
und der sanfte tuonder swaere,
diu mit vröiden in mîn herze sanc,
Dâ von mir ein wunne entspranc,
diu vor liebe alsam ein tou
mir ûz von den ougen dranc. (MF 125,26–39)
Wenn das Ich in der zweiten Strophe sowohl an die von Gott geschaffene Welt (2,3 luft und erde) wie die amöne Natur (walt und ouwe) appelliert, sein Liebesglück freudig zu spiegeln und daran teilzuhaben, blendet der Text in knappen Anspielungen geistliche und weltlich-höfische Naturvorstellungen ineinander: die Anrufung der Natur, für die das Modell der kirchliche Osterhymnus ist,196 und versatzstückhaft inserierte Motive des Natureingangs, die Morungen nur äußerst selten verwendet. Eröffnet ist damit ein Anspielungshorizont, mit dem sich, folgt man den im Text signalisierten Bezügen, „der Raum um das sein Hochgefühl feiernde Ich wie in einem Schöpfungspreis weitet“,197 ohne dass die Verweise allerdings einen systematischen und in sich kohärenten Vorstellungszusammenhang evozieren. Ganz deutlich wird dies, wenn in der dritten Strophe von dem wunneclîchen maere die Rede ist, daz sô suoze durch mîn ôre erklanc (3,1f.). Für das Ich sind die Worte der Frau also die Botschaft, die inneres Entzücken und Tränen der Freude bewirkt; und lesbar ist dies einerseits nun als Verweis auf die Verkündigung der biblischen Maria-Gabriel-Szene, andererseits aber auch auf das dem Mittelalter als theologisches Wissen vertraute Bild der Empfängnis durch das Ohr, mit dem sich die Vorstellung der lebensschaffenden und lebenserneuernden Kraft des göttlichen Wortes verbindet.198
In wie hohem Maße Sprachgestaltung und Sinnbildung des Liedes verdichtet sind, zeigt sich im Blick auf das Verhältnis von iterativer Ich-Rede und jedes Mal nur assoziativ angedeuteten Bezugskontexten. Intensität gewinnen die jubilierenden Äußerungen des Ich nicht zuletzt durch Klangeffekte, wie sie insbesondere alliterierende Wortwiederholungen – wunne und trôst (1,1 und 5), hügender wân und wunneclîcher trôst (2,5f.), vröide, wunne und liebe (3,4–6) – erzeugen. In den Seligpreisungen, die als Eingangsverse die vierte Strophe rhetorisch und klanglich eröffnen, ist das noch einmal gesteigert:
Saelic sî diu süeze stunde,
saelic sî diu zît, der werde tac,
dô daz wort gie von ir munde,
daz dem herzen mîn sô nâhen lac,
Daz mîn lîp von vröide erschrac,
und enweiz von liebe joch,
waz ich von ir sprechen mac. (MF 126,1–7)
Stilfiguren wie Anapher, Parallelismus und Alliteration (Saelic sî diu süeze stunde,/saelic sî) leiten die Strophe rhetorisch so wirkungsvoll ein, dass sich die emotionale Intensität des erfahrenen Glücks im zunehmend intensivierten Klang der Worte vermittelt. Kaum zufällig erinnern der repetitive Stil und die sich steigernde Klanglichkeit der Verse an den gerade für hymnisches Sprechen konstitutiven Überbietungsgestus, und sie rufen konnotativ wohl auch Vorstellungen aus der Semantik des paschale gaudium auf, wie sie im Mittelalter mit dem die erlösende Kraft der Auferstehung und das erneuerte irdische Leben preisenden Osterhymnus Salve, festa dies199 verbunden sind. Auch dass das Mittelalter mit dem lateinischen Gesang aus kirchlicher Liturgie und dem österlichem Prozessionskult vertraut war, spricht dafür, den Hymnus als Assoziationskontext in Betracht zu ziehen.200 Bezogen ist er im Lied auf den Augenblick, dô daz wort gie von ir munde, / daz dem herzen mîn sô nâhen lac (4,3 f.), auf die Worte der Frau, deren Wirkung damit geradezu als heilbringendes Ereignis überhöht wird. Ob und inwieweit mit der Wendung vom Wort aus dem Munde der geliebten Frau zugleich die Verkündigung an Maria evoziert und sogar in ihren Grundzügen nachgebildet ist,201 wäre erst noch näher zu erörtern. Wie jedoch explizit gesagt ist, hat das Wort der Frau das freudige Erschrecken des Ich und bis in die Gegenwart der Redesituation sein Verstummen bewirkt (4,5–7), so dass zuletzt die Kommunizierbarkeit der Liebe zum Problem wird.
Obwohl sich die Ich-Rede in Morungens Lied mit einer iterativen Dynamik vollzieht, die wiederholend und steigernd die Intensität höchsten Glücks sprachlich einzuholen versucht, gelangt der Text am Ende an die Grenze dessen, was als innere Erfahrung und Emotion im Medium der Sprache sagbar und mitteilbar ist. Bei aller Kunst der sprachlichen Formgebung und aller Fülle der im Anspielungshorizont des Liedes aufgerufenen Kontexte zeichnet sich damit die Perspektive ab, die iterative Rede des Liedes in ihrer kommunikativen Begrenztheit auszustellen und zu reflektieren. Wie man längst weiß, öffnet Morungen diese Perspektive in seinen Liedern auch sonst. Der für sein Freudenlied konstitutive Redegestus zeigt aber auch, dass so eine Figuration der Rede gefunden ist, in der sich weltliches und geistliches Sprechen über Liebe berühren, überschneiden und sogar als untrennbar erweisen. Man wird daher auch noch fragen müssen, ob diese eindeutig hierarchisiert sind oder die Spannung zwischen den heterogenen Redeformen nicht doch in erstaunlichem Maße offen und virulent gehalten wird.202 Dass die Verweise auf den religiösen Anspielungshorizont stets konnotativ erzeugt werden, gehört dabei zum Redegestus und seinem stilistischen Gestaltungspotential. Denn obwohl immer wieder Ausdruckselemente aus der geistlichen Liebessprache anklingen, wird die Differenz zwischen weltlichem und geistlichem Sprechen nie explizit markiert. Gerade auch Minnelied und Hymnik kommen so in eine produktive Konfiguration, die das Entstehen neuer und auch stilistisch distinkter Sprachund Denkformen ermöglicht.