<?xml version="1.0" encoding="UTF-8"?> <html xmlns="http://www.w3.org/1999/xhtml" xml:lang="de" > <head> <title>Literarischer Stil</title> <link href="../style/style.css" type="text/css" rel="stylesheet"/> </head> <body> <p class="chapauth"><a id="page_119"></a>Susanne Bürkle</p> <h2 class="chapname" id="head030"><span class="bold">Der Meister-Diskurs in der volkssprachlichen Literatur um 1200</span></h2> <p class="abs">Handwerkliche Kompetenz und artistische Valorisierung</p> <p class="epigraph">Swer siner kunst meister ist<br/>der hat gewalt an siner list. (Herbort von Fritslâr, <span class="italic">Liet von Troye</span>, V.1f.)<a href="36_Footnote03.html#fn07-314" id="fn07_314"><span class="sup">315</span></a></p> <p class="topnoindent">Vor vielen Jahren hat H<span class="small">UGO</span> K<span class="small">UHN</span> mit der instruktiven Begriffsprägung des ‚artistischen Meistertums‘<a href="36_Footnote03.html#fn07-315" id="fn07_315"><span class="sup">316</span></a> auf ein bedeutsames Phänomen der literarischen Kommunikation im Bereich der höfischen Kultur aufmerksam gemacht und hat es in den verschiedensten Zusammenhängen punktuell angesprochen und umkreist, ohne es in letzter Konsequenz zu profilieren.</p> <p class="indent">Einerseits konstatierte K<span class="small">UHN</span> bei seiner überlieferungsgeschichtlichen Untersuchung der Manesseschen Liederhandschrift um 1230 als Folge eines medienhistorischen Umbruchs von der ‚Aufführung‘ zur ‚Schriftlichkeit‘ für die „deutsch-literarische Gebrauchskunst der Laien“ (Epik, Spruchsang, Minnelied), die bis dahin „noch ganz […] für die Aufführung“ gelebt und „ein irdisches Heil für das irdische Laienleben“ diskutiert habe, ein neues „Kunstbewusstsein mit neuer soziologischer Funktion: des Meistertums.[…] [G]anze Künstler-Generationen“ hätten sich von da an als Nachfolger, als „‚Nach-meister‘“ der „Meister-Künstler Gottfried von Straßburg, Wolfram von Eschenbach, Walther von der Vogelweide“ empfunden und „statuierten eben damit erst ihre Vorbilder zu Autoritäten, zu Klassikern, zu ‚Meistern‘<a href="36_Footnote03.html#fn07-316" id="fn07_316"><span class="sup">317</span></a> Andererseits wandte er sich mit der Betonung artistischer Meisterschaft in seinem programmatischen, jedoch äußerst verdichteten Aufsatz „Determinanten der Minne“ gegen die damals virulenten anachronistischen Verabsolutierungen sozialgeschichtlicher Deutungen, die die höfische Literatur insgesamt als „naturalistische Abbildung“ begriffen oder an ihren Autoren eine „sozialpsychologische Mechanik“ festgemacht <a id="page_120"></a>hätten.<a href="36_Footnote03.html#fn07-317" id="fn07_317"><span class="sup">318</span></a> Da weder die Texte die Herrschaftsstrukturen der adligen Oberschicht als Realität reproduzierten noch die Autoren ständespezifisch eindeutig zugeordnet werden könnten, vielmehr Texte wie Lebenswelt das Beherrschen von „den <span class="italic">artes liberales</span> der lateinischen Kirche“ analogen, man könnte sagen, höfischen ‚Künsten‘<a href="36_Footnote03.html#fn07-318" id="fn07_318"><span class="sup">319</span></a> einforderten, wie „ein Heer führen, […] Recht sprechen, aber auch Fechten, Reiten, Jagen, Fischen, Tischzucht […], Tanzen, Singen, literarische Unterhaltung“, sei die geburtsständische Struktur von Herrschaft und Dienstbarkeit „überdeckt durch […] die freie Konkurrenz der ‚artistischen‘ Kompetenz, eine Interaktion von Meisterschaft und Schülerschaft“.<a href="36_Footnote03.html#fn07-319" id="fn07_319"><span class="sup">320</span></a> Im Blick auf die ‚schönen Künste‘ behielten diese, wie die höfische Literatur des 12. und 13.Jahrhunderts, zwar „im aristokratischen Gebrauch den systemerhaltenden Luxus-Charakter“ bis weit in die Neuzeit hinein und stabilisierten als „Luxus-Kunst“ die Herrschaftsstrukturen des Adels, doch auch hier, wie schon bei den ‚höfischen <span class="italic">artes</span>‘, setze „die freie Konkurrenz im ‚artistischen‘ Meistertum eine wenn auch vage Autonomie der ‚Kunst‘ frei“.<a href="36_Footnote03.html#fn07-320" id="fn07_320"><span class="sup">321</span></a> Produzent solcher Kunst könne „jeder sein, der die ‚artistische‘ Kompetenz für aristokratische Privilegien besitzt […], d.h. ihre Techniken, in der Kunst also bildnerische, musikalische, literarische Techniken, praktisch beherrscht“.<a href="36_Footnote03.html#fn07-321" id="fn07_321"><span class="sup">322</span></a></p> <p class="indent">Meisterschaft impliziert demnach hier zunächst einmal Könnerschaft und ist, auch wenn K<span class="small">UHN</span> gelegentlich zwischen adligen Laienund Berufsmeistern, ja sogar bürgerlichem Meistertum<a href="36_Footnote03.html#fn07-322" id="fn07_322"><span class="sup">323</span></a> differenziert, gerade nicht sozial fixiert. Das Können zählt, nicht etwa Geburt oder Herkunft, und dies verbindet oder trennt die Meister der jeweiligen <span class="italic">ars</span> und könnte als Ferment einer Art Gruppenidentität jenseits der eingespielten Ordnungen gedeutet werden. Dass Meisterschaft keineswegs exklusiv für die Dichtkunst reserviert, sondern in den verschiedenen, historisch variierenden <span class="italic">artes</span>-Reihen verankert ist, die K<span class="small">UHN</span> quasi um die Reihe genuin höfischer <span class="italic">artes</span> erweitert, bringt die Wendung ‚artistische Meisterschaft‘ prägnant auf den Begriff. Er bezeichnet, so könnte man sagen, die noch systemische Ungeschiedenheit bei gleichzeitiger Ausdifferenzierung der Ordnungen des Wissens, der <span class="italic">artes</span> und der später, in der Neuzeit, als ‚schön‘ bezeichneten Künste. Kuhns Überlegungen zur artistischen Meisterschaft sind eingespannt und gewissermaßen ein Baustein seiner forschungsgeschichtlich so <a id="page_121"></a>wirkungsmächtigen Theoreme zur höfischen Literatur und ihrer Funktion für die sich etablierende höfisch-laikale Kultur und Emanzipation der Laien aus der Deutungshoheit der Kirche. Mit der Ablösung der höfischen Dichtung aus ihrer unmittelbaren Gebrauchssituation und den praktischen Lebensvollzügen und mit der allmählich sich stabilisierenden Interaktion von Meisterschaft und Schülerschaft scheint sich für K<span class="small">UHN</span> ‚Literatur‘ in Richtung auf einen emphatischen Begriff von ‚Kunst‘ zu wandeln. Ihr kulturhistorischer Status hätte sich damit entscheidend verändert: Von der ‚Literatur vor der Literatur‘,<a href="36_Footnote03.html#fn07-323" id="fn07_323"><span class="sup">324</span></a> so könnte man es mit einem Schlagwort der gegenwärtigen Diskussion reformulieren, würde sie allmählich zum sozialen System und zum ästhetischen Artefakt umfunktioniert. Diese sich anbahnende funktionale und strukturelle Differenz<a href="36_Footnote03.html#fn07-324" id="fn07_324"><span class="sup">325</span></a> zwischen einer höfischen Literatur und den praktischen Vollzügen von Herrschaft und Dienst wird nicht zuletzt auch durch eine sich verselbstständigende und Kontinuitäten stiftende Meisterschaft kompetenter und konkurrierender Experten der Wortkunst begründet.</p> <p class="indent">H<span class="small">UGO</span> K<span class="small">UHN</span> hat, so meine ich, mit artistischer Meisterschaft auf eine zentrale kulturelle Formation für die Dichtkunst und die <span class="italic">artes</span> des Mittelalters aufmerksam gemacht, und seine Ausführungen können als Versuch gelesen werden, Ansätze eines Institutionalisierungsprozesses der profanen Literatur der Vormoderne zu beschreiben und über die Kategorie der Meisterschaft zu erfassen, die dann als ein bedeutsamer Aspekt der Kommunikation in oder über Literatur und ihrer Urheber zu verstehen wäre. Derart kommentiert auch R<span class="small">AINER</span> W<span class="small">ARNING</span>: „Man kann also K<span class="small">UHN</span>s Hinweis auf das Interaktionsverhältnis von Meisterschaft und Schülerschaft im Minnesang als die historische Applikation und Konkretion einer Fundamentalkategorie fassen, über die sich Kunst generell als soziale Institution ausdifferenziert.“<a href="36_Footnote03.html#fn07-325" id="fn07_325"><span class="sup">326</span></a></p> <p class="indent">Freilich wird man K<span class="small">UHNS</span> weitreichende und vielschichtige Überlegungen zuallererst am Material verifizieren, aber auch kritisch hinterfragen müssen. Das betrifft nicht nur die großen, allerdings von ihm nur angedeuteten Thesen zu ‚Autonomie‘ und ‚Kunst‘, sondern weit bescheidener seine literarhistorischen Prämissen. Problematisch erscheinen mir sowohl die zu strikte Dichotomisierung volkssprachlich <a id="page_122"></a>laikaler versus lateinisch klerikaler Kultur, die, und zwar nicht allein im Blick auf Meisterschaft, die Abtrennung eines relativ engen Bereichs weltlicher Dichtung<a href="36_Footnote03.html#fn07-326" id="fn07_326"><span class="sup">327</span></a> aus der mittelalterlichen Textpraxis und literarischen Kommunikation bedeutet, als auch die kulturund literarhistorischen Implikationen des K<span class="small">UHN</span>schen Konzepts. Artistische Meisterschaft ist bereits Signum der höfischen Kultur und Literatur des 12. und 13. Jahrhunderts, sie markiert jedoch darüber hinaus literarhistorisch auch eine Art ‚Epochenschwelle‘, die am Übergang von der Aufführung zur Schrift, aber auch an der allmählichen Herauslösung der laikalen Literatur aus der lateinischen Schriftund Überlieferungskultur festgemacht wird.¹<a href="36_Footnote03.html#fn07-327" id="fn07_327"><span class="sup">328</span></a> Artistische Meisterschaft mutiert zur Meisterschaft der sog. ‚neuen kunstmeisterlichen‘ Literaten.¹<a href="36_Footnote03.html#fn07-328" id="fn07_328"><span class="sup">329</span></a> Als solche setzt K<span class="small">UHN</span> sie erst eigentlich in der Mitte des 13. Jahrhunderts an und situiert sie vornehmlich auf der laikalen Seite und vernachlässigt derart, zumindest in seinen mir bekannten, verstreuten Äußerungen, eine ganze Reihe von Texten geistlicher oder aber ‚gelehrter‘ Provenienz, die elaboriert am Meisterschaftsdiskurs partizipieren.¹<a href="36_Footnote03.html#fn07-329" id="fn07_329"><span class="sup">330</span></a> Der Begriff und Status von Meisterschaft, aber auch der Gegenstand seiner Überlegungen bleiben mithin vage: Ist es eine generalisierend eingesetzte und einsetzbare Metapher für Exklusivität und Können, eine spezifische Reihe an Texten oder das Lexem Meister in der höfischen Literatur, woraus K<span class="small">UHN</span> die artistische Meisterschaft der Literaten ableitet? Changierend zwischen verschiedenen Ebenen begreift er sie nämlich einerseits im Sinne einer besonderen Formkunst, als „artistische Brillanz“ verstanden als „‚Technik‘“<a href="36_Footnote03.html#fn07-330" id="fn07_330"><span class="sup">331</span></a>, oder als „stilistische[s] Experimentieren“, also als Stilkategorie zu <a id="page_123"></a>Zeiten von „Minnesangs Wende“,<a href="36_Footnote03.html#fn07-331" id="fn07_331"><span class="sup">332</span></a> andererseits als ‚soziologische‘ und insofern auch als soziale Praxis.</p> <p class="indent">Dagegen ist einzuwenden, dass Meisterschaft zunächst einmal als eine diskursive Formation der mittelalterlichen Texte und nur als solche zu betrachten ist. Dieser textimmanente Meisterschaftsdiskurs dürfte auch H<span class="small">UGO</span> K<span class="small">UHN</span> zu seinen Meisterschaftsüberlegungen inspiriert haben, insbesondere die spätmittelalterliche Lyrik und Spruchdichtung,¹<a href="36_Footnote03.html#fn07-332" id="fn07_332"><span class="sup">333</span></a> auch wenn er auf frühe Meistertitulaturen etwa bei Hartmann von Aue, Gottfried von Straßburg oder Wolfram von Eschenbach gelegentlich hinweist.<a href="36_Footnote03.html#fn07-333" id="fn07_333"><span class="sup">334</span></a></p> <p class="indent">Literarhistorisch, forschungsgeschichtlich und gattungsspezifisch ist es in erster Linie die spätere Spruchdichtung, die mit dem Begriff des <span class="italic">meisters</span> und der <span class="italic">meisterschaft</span> assoziiert wird und die, so K<span class="small">ARL</span> S<span class="small">TACKMANN</span>, auf dem Wege zur <span class="italic">meisterlichen kunst</span> sei. Bereits S<span class="small">TACKMANN</span> wollte dann auch bei seiner summarischen Sichtung der Meisterbelege spruchdichterischer Texte in der „Übernahme des Wortes <span class="italic">meister</span>“ geradezu das erkennen, was unhistorisch heute als Spruchdichter, also als Verfasser spruchhafter Strophen, bezeichnet werde, warnte jedoch zugleich vor der vereindeutigenden, letztlich abwertenden Gleichsetzung von Meisterschaft mit den „meistersingerische[n] Schulgesetze[n]“, im Sinne einer „pedantischen Befolgung mechanisch anwendbarer Dichtregeln“.<a href="36_Footnote03.html#fn07-334" id="fn07_334"><span class="sup">335</span></a> Im Gebrauch des „Fachwortes“ ,Meister‘ zeige sich allerdings eine historische Verschiebung: Meisterschaft komme erst im Laufe des 13. Jahrhunderts, nach Walther, in den Blick, bedeute zunächst ausschließlich – und das hat vor kurzem noch einmal K<span class="small">LAUS</span> G<span class="small">RUBMüLLER</span> betont – die legitimatorische Partizipation an der Autorität <span class="italic">„</span>der anderen“ und werde erst im Laufe des 14. Jahrhunderts zu einem Begriff der „Selbstermächtigung des Dichters“.<a href="36_Footnote03.html#fn07-335" id="fn07_335"><span class="sup">336</span></a> Die K<span class="small">UHN</span>sche Schwelle zur Meisterschaft scheint sich im Kontext der Spruchdichtung zu bestätigen. <a id="page_124"></a>Es ist deshalb kaum erstaunlich, dass etliche Studien, die in jüngster Zeit Meisterschaft in den Mittelpunkt rückten oder mit Meisterschaft argumentierten, sich auf die Lyrik oder die Spruchdichtung des Spätmittelalters konzentrieren. In der Applikation der Meisterterminologie als Analyseinstrument zeichnet sich freilich auch hier, wie schon bei K<span class="small">UHN</span>, eine gewisse Unschärfe, Verselbstständigung oder Ausweitung ab. Unabhängig vom faktischen Gebrauch des Wortes <span class="italic">meister</span> in den Texten oder nur noch in Anlehnung daran wird literarische Meisterschaft in aller Regel generalisierend für Kunstfertigkeit, metaphorisch für formal-rhetorische Versiertheit eingesetzt oder steht für ein spezifisch poetisches oder stilistisches Konzept.<a href="36_Footnote03.html#fn07-336" id="fn07_336"><span class="sup">337</span></a></p> <p class="indent">Wenn inzwischen Meisterschaft zum ‚Schlüsselbegriff‘ für die Literatur des Spätmittelalters avanciert, so gilt das nicht nur für Minnesang und Spruchdichtung, sondern evidentermaßen auch für die Epik, in der, wie etwa in den ambitionierten Prologen Konrads von Würzburg oder Rudolfs von Ems,<a href="36_Footnote03.html#fn07-337" id="fn07_337"><span class="sup">338</span></a> metapoetisch die eigene Dichtkunst in Relation zu anderen <span class="italic">artes</span> oder <span class="italic">meistern</span> reflektiert und verhandelt wird. Und wenn also über Meisterschaft „die Dichter ihr Selbstverständnis bestimmen“<a href="36_Footnote03.html#fn07-338" id="fn07_338"><span class="sup">339</span></a> stellt sich im Blick auf die vorausgegangenen Perioden der volkssprachlichen Texte die Frage, in welcher kulturellen Formation der sich im 13. Jahrhundert zunehmend ausdifferenzierende Meisterschaftsdiskurs verankert ist und seinen Anfang genommen hat und welche Konzepte und Geltungsansprüche in der frühen Textpraxis, v.a. der höfischen Epik, sich mit dem Lexem Meister verbinden. Methodisch sollte dabei vom konkreten literarischen Verwendungszusammenhang der Meisterbelege ausgegangen werden, um so strikt den Logiken und Semantiken der Selbstbeschreibungen der literarischen Texte zu folgen.</p> <h3 class="section1" id="head031"><span class="bold"><a id="page_125"></a>Zur Semantik der Bezeichnung ‚Meister‘</span></h3> <p class="noindent">Die Meisterbelege vor allem der frühen volkssprachlichen Texte haben bislang in der Forschung nur wenig Beachtung gefunden, obgleich man auf einen Terminus trifft, der wie <span class="italic">schrift</span>, <span class="italic">rede</span>, <span class="italic">buoch</span>, <span class="italic">hoeren</span>, <span class="italic">lesen</span> zu jenen im ‚Wortfeld des Textes‘<a href="36_Footnote03.html#fn07-339" id="fn07_339"><span class="sup">340</span></a> zu gehören scheint, über die die volkssprachliche Literatur ihre Praktiken von Produktion, Rezeption und Distribution thematisiert und reflektiert, vor allem aber Anspruch und Geltung des Literarischen programmatisch einfordert und ausstellt. Wie für jene wurde auch für das Lexem <span class="italic">meister</span>, <span class="italic">meisterschaft</span>, <span class="italic">meisterlich</span> eine „diffuse Semantik“ konstatiert, die, so K<span class="small">URT</span> G<span class="small">äRTNER</span>, eine bloße eins zu eins Übertragung von <span class="italic">meister</span> ins Neuhochdeutsche verunmögliche, da die Semantik des Lehnwortes – von lat. <span class="italic">magister</span> – zwischen Lehrer, Gelehrtem und Verfasser oszilliere.²<a href="36_Footnote03.html#fn07-340" id="fn07_340"><span class="sup">341</span></a> Dementsprechend überging die Forschung häufig stillschweigend die volkssprachlichen Meistertitulaturen, klopfte sie allenfalls je nach der situativen Verortung der Texte sozial-ständisch fest. Beim prominentesten Beispiel, Meister Gottfried von Straßburg, der – ganz im Gegensatz zu Wolfram von Eschenbach – in den metapoetischen Vorläuferberufungen etwa Rudolfs von Ems, Konrads von Würzburg, Konrads von Stoffeln, Heinrichs von Freiberg<a href="36_Footnote03.html#fn07-341" id="fn07_341"><span class="sup">342</span></a> nahezu ausnahmslos als Meister tituliert wird, wollte die ältere Forschung darin den gelehrten Magister oder aufgrund der vermuteten stadtbürgerlichen Herkunft sogar den Handwerksmeister erkennen. Die neuere Forschung betont hingegen, dass das Meister-Attribut „in einen Diskurs über den Rang“ Gottfrieds und über ihn „als Leitfigur“ der höfischen Dichtung platziert sei.<a href="36_Footnote03.html#fn07-342" id="fn07_342"><span class="sup">343</span></a></p> <p class="indent">Die semantische Unschärfe von Meisterschaft oder eigentlich besser ihr offenes Referenzpotential scheint in der Tat ein intrikates Problem zu sein. Doch ist diese vermeintliche ‚Schwäche‘ des Lexems womöglich geradezu seine Stärke.</p> <p class="indent"><a id="page_126"></a>Sichtet man die frühen bereits signifikant häufig vorkommenden<a href="36_Footnote03.html#fn07-343" id="fn07_343"><span class="sup">344</span></a> Meisterbelege und zieht die älteren, freilich noch immer einschlägigen Studien<a href="36_Footnote03.html#fn07-344" id="fn07_344"><span class="sup">345</span></a> heran, zeigt sich, angefangen bei den althochdeutschen Texten, eine sukzessive Extension der Meisterbezeichnungen im 12. Jahrhundert: Ist im Althochdeutschen in Anlehnung an die biblische Verwendung die Bezeichnung nahezu ausschließlich für Magister/Lehrer/ Herr/Christus reserviert, erstreckt sie sich in zunehmender Erweiterung im Mittelhochdeutschen und in der höfischen Literatur um 1200 auf alle <span class="italic">artes</span>-Reihen. Symptomatisch dafür scheint Gottfrieds <span class="italic">Tristan</span> zu sein, in dem das Wort Meister ebenso auf einen Dichter wie auf den Erzieher und Lehrer, den Harfner und Musiker, den Jägermeister, Waffenmeister, Schiffsmeister und auf die Heilkundige appliziert wird. Meisterschaft hat <span class="italic">artes</span>-übergreifende Relevanz und Geltung. Der Terminus erweist sich somit als flexibel und anpassungsfähig an die jeweiligen pragmatischen Situationen und kann die verschiedensten, auch sozialen Konnotationen eingehen, grundsätzlich aber, und das ist das Entscheidende‚ bringt er Übertreffen, Überlegensein und damit Autorität zum Ausdruck. Das trifft für den gelehrten Magister ebenso zu wie für die etwa bei Konrad von Würzburg im späten 13. Jahrhundert zitierten Meister anderer <span class="italic">artes</span> und Handwerke.<a href="36_Footnote03.html#fn07-345" id="fn07_345"><span class="sup">346</span></a> Ihnen wird Können, Kompetenz und Rang attestiert, mithin eine verbindliche <span class="italic">auctoritas</span> zugebilligt, d.h. eine „absolut höchste Überlegenheit, die jemand in seinem Umfeld erreichen kann […], den obersten Punkt der Hierarchie“,<a href="36_Footnote03.html#fn07-346" id="fn07_346"><span class="sup">347</span></a> und damit auch ein Qualitätsurteil über ihre Artefakte getroffen. Deshalb sollte man auch in ‚Kunstkontexten‘ Meisterschaft weder einseitig mit Gelehrtheit noch allein mit dem Handwerk und dessen technischen Fertigkeiten verrechnen, sondern mit der <a id="page_127"></a>Fusion beider Momente, wie auch die zeitgenössischen Diskurse dem <span class="italic">artifex</span> durchaus göttlich inspirierte <span class="italic">sapientia</span> und <span class="italic">ars</span> gleichermaßen bescheinigen.<a href="36_Footnote03.html#fn07-347" id="fn07_347"><span class="sup">348</span></a></p> <p class="indent">Ausgehend von diesem der Meisterschaft inhärenten Qualifizierungsdiskurs, mit dem zugleich unterschiedlich semantisierte Normierungs-, aber vor allem auch Abgrenzungsvorgänge und damit in personaler Konkretisierung auch Rangstreit und agonale Strukturen einhergehen, zeichnen sich meiner Ansicht nach zwei Aspekte ab, die bereits für die Meisterdiskussion der volkssprachlichen Texte vor und um 1200 konstitutiv und für das Potential des Wortes und des Konzepts von Meisterschaft distinkt sind. Zum einen der für das Medium des Literarischen zentrale Aspekt: Meisterschaft als Akt der Zuschreibung und Valorisierung, worüber sich Meisterschaft als grundlegender Terminus textueller Praktiken erweist. Zum anderen: Meisterschaft und die <span class="italic">artes</span>, d.h. der interartifizielle Aspekt, bei dem der Diskurs der ‚Künste‘ in der volkssprachlichen Literatur im Vordergrund steht. So gesehen, reiht sich die Dichtkunst oder die <span class="italic">ars versificatoria</span>, die in der gelehrten Wissensordnung traditionell Grammatik und Rhetorik der <span class="italic">septem artes</span> zugeschlagen wird, also keinen genuinen systematischen Ort hat, seit dem 12. Jahrhundert in das weite Feld der <span class="italic">artes</span> ein. Die ‚weiteren‘ <span class="italic">artes</span> werden zudem in den variierenden Reihen der <span class="italic">artes mechanicae</span> sowie der <span class="italic">artes magicae</span> systematisiert,<a href="36_Footnote03.html#fn07-348" id="fn07_348"><span class="sup">349</span></a> womit die Abgleichung ihrer jeweiligen Vermögen und Kriterien provoziert, zuvorderst aber der <span class="italic">artes</span>-Charakter der Dichtkunst profiliert und Meisterschaft offenkundig artistisch konnotiert wird.</p> <h3 class="section1" id="head032"><span class="bold">Meisterschaft und die <span class="italic">artes</span> – der interartifizielle Aspekt</span></h3> <p class="noindent">Der Gottfriedsche <span class="italic">Tristan</span> mit seinem Aufgebot an Meistern der <span class="italic">artes</span>, die in ihrer Auffächerung das weite Spektrum der <span class="italic">artes</span>-Reihen nahezu abdecken und teils wie etwa Musik oder Jagdkunst in praxi vorgeführt werden, ist um 1200 sicherlich singulär und <a id="page_128"></a>stellt in der mhd. Literatur ein Novum dar, so dass Meisterschaft und Artifizialität geradezu als zentrales Thema des Textes betrachtet werden können, das bislang in der Forschung allenfalls unter dem emphatisch aufgeladenen Signum ‚Tristan als Künstler‘ Beachtung fand. Die Präsentation von Künsten im Medium des Literarischen ist jedoch kein Spezifikum des <span class="italic">Tristan</span>; spezifisch für diesen Text ist der forcierte Diskurs von Meisterschaft und <span class="italic">artes</span>, der in der Figur Tristans kulminiert.</p> <p class="indent">Vernachlässigt man einmal die gattungstypologischen Differenzen und die in den literarischen Texten auch durch ihre Stoffe und Vorlagen bedingten imaginierten Welten, die spezifische Themenbereiche favorisieren, zeigt sich im 12. Jahrhundert zunächst eine Präferenz für die im weitesten Sinne ‚bildnerischen Künste‘ mit ihren materialisierten Objekten, die mehr oder weniger ausführlich thematisiert und beschrieben werden: zuvorderst die Kleinkunst, u.a. mit Textilien oder Goldschmiede-, überhaupt Schmiedekunst, dann Architektur und schließlich Malerei, Bildhauerei.<a href="36_Footnote03.html#fn07-349" id="fn07_349"><span class="sup">350</span></a> Man hat solche im Medium Literatur simulierten ‚Kunstobjekte‘ bereits ausführlich diskutiert, und zwar im Kontext von <span class="italic">descriptio</span> und Ekphrasis, von Präsenzund Visualisierungsstrategien.<a href="36_Footnote03.html#fn07-350" id="fn07_350"><span class="sup">351</span></a> Im Zusammenhang solcher Artefakte trifft man dann auch auf die signifikante Verbindung von <span class="italic">ars</span> und Meisterschaft. Diese Koinzidenz unterstreicht den <span class="italic">ars</span>-Charakter, fungiert als Auszeichnung und Valorisierung und akzentuiert in personaler Konkretion der Bindung eines Werks an seinen Urheber, einen Meister, den Akt der Kreation oder Herstellung.</p> <p class="indent">Eine solche Koinzidenz von Meisterschaft und ‚Bildkunst‘ findet sich bereits in der <span class="italic">Kaiserchronik</span>.<a href="36_Footnote03.html#fn07-351" id="fn07_351"><span class="sup">352</span></a> Semantisch bewegt sich der Text mit seiner Fülle an Meisterbelegen bis auf wenige Stellen noch in den Konventionen des Althochdeutschen. In der umcodierenden Relektüre einer seit der Antike vielfach variierten Erzählung ‚vom ehernen Stier‘ des Tyrannen Phalaris und dem Künstler Perillus jedoch, die in der <span class="italic">Kaiserchronik</span> dem römischen König Nerva (96–98 n. Chr.) zugeschrieben ist, wird ein <span class="italic">listwurchære</span> <a id="page_129"></a>(V.5686)<a href="36_Footnote03.html#fn07-352" id="fn07_352"><span class="sup">353</span></a> – ein Artifex –, und zwar eines <span class="italic">pildes maister</span> (V.5772), thematisiert, der in einem speziell dafür eingerichteten <span class="italic">unmâzen michel gadem</span> (V. 5717) mit <span class="italic">werchliute</span>[<span class="italic">n</span>] (V.5728) gemeinsam ein <span class="italic">werch</span> (V.5732), hier ein automatenartiges, gusseisernes Pferd, erschafft. Zwar stehen in der <span class="italic">Kaiserchronik</span> die <span class="italic">ars</span> und der Artifex unter dem negativen Vorzeichen der <span class="italic">crudelitas</span>, weshalb das Werk und des <span class="italic">listes meister</span> schlussendlich verbrannt werden; dennoch wird der Herstellungsprozess eines Artefakts in durchaus einschlägiger Terminologie detailliert geschildert und dem in der <span class="italic">Kaiserchronik</span> namenlos bleibenden Meister ausdrücklich <span class="italic">maisterscaft</span> (V. 5789) im Sinne einer <span class="italic">urmære list</span> / [die] <span class="italic">noh hiute unrefunden ist</span> (V.5827f.), attestiert. Meisterschaft impliziert hier das auch – arkane – Herstellungswissen und die praktische Ausführung dieser <span class="italic">wunderlîchen list</span> (V.5688), die allerdings ebenso wie ihr Urheber dem Untergang geweiht ist.</p> <p class="indent">Im Zuge der Extension von Meisterbezeichnungen auf weitere und andere <span class="italic">artes</span> in den frühen höfischen Epen<a href="36_Footnote03.html#fn07-353" id="fn07_353"><span class="sup">354</span></a> kommt Meisterschaft, anders als etwa in der <span class="italic">Kaiserchronik</span>, dann auch zunehmend für die Dichtkunst in den Blick und fungiert als verbindendes – interartifizielles – Moment zwischen den Künsten.</p> <p class="indent">Heinrichs von Veldeke <span class="italic">Eneas</span><a href="36_Footnote03.html#fn07-354" id="fn07_354"><span class="sup">355</span></a> kann als eines der frühesten Beispiele dafür gelten. Am Werke sind dort drei namentlich ausgewiesene Meister,<a href="36_Footnote03.html#fn07-355" id="fn07_355"><span class="sup">356</span></a> die das ganze Feld der <span class="italic">artes</span> besetzen:<a href="36_Footnote03.html#fn07-356" id="fn07_356"><span class="sup">357</span></a> der prominente Schmiedgott Volcân,<a href="36_Footnote03.html#fn07-357" id="fn07_357"><span class="sup">358</span></a> der die Rüstung des <a id="page_130"></a>Eneas herstellt (V.5595–5830) und die <span class="italic">armatura</span> (Waffenschmiedekunst) der <span class="italic">artes mechanicae</span> vertritt, der ‚<span class="italic">sapiens architectus</span>‘ Gêometras (V. 9385–9574), der das Grabmal der Königin Camilla verantwortet und gleichermaßen der <span class="italic">armatura</span> (Architektur) wie dem Quadrivium zugehört, und schließlich, im Epilog (V.13429–13528), der für das Trivium zuständige Meister des Buches, <span class="italic">Heinrîch,</span> / <span class="italic">derz û</span>zer <span class="italic">welschen bûchen las,</span> / <span class="italic">da ez von latîne getihtet was</span> […] <span class="italic">diu bûch heizent Êneide,</span> / <span class="italic">diu Virgiljûs dâ von screib</span> (V. 13506–13511). Zudem finden sich noch zwei Meisterinnen, die beiden ironisch relativierten Göttinnen Pallas und Arachne, die einst im Rangstreit beim Weben der Fahne, die Venus ihrem Sohn überließ, um die <span class="italic">meisterschaft</span> (V.5811) konkurrierten. Den Meisterdiskurs hat in den entsprechenden Passagen, die den <span class="italic">artes mechanicae</span> zuzurechnen sind, bereits die altfranzösische Vorläuferversion, der <span class="italic">Roman d’Eneas</span>, eingeführt. Der deutsche Text jedoch setzt auch im Blick auf Meisterschaft etwas andere Akzente. Wie in der Vorlage ist zwar auch Volcân zugleich Gott und <span class="italic">meister</span> (V.5603; V.5797), im französischen Text sogar explizit ein <span class="italic">maistre del mestier</span> (V.4359). Allerdings sind der die <span class="italic">descriptio</span> im <span class="italic">Roman d’Eneas</span> dynamisierende<a href="36_Footnote03.html#fn07-358" id="fn07_358"><span class="sup">359</span></a> Herstellungsprozess von Rüstung, Schwert und Schild in der Schmiedewerkstatt und die Erprobung der Schlagkraft des Schwertes auf dem Amboss bei Veldeke in seiner nun straffer strukturierten und am Detail orientierten Beschreibung nur noch angedeutet. Nicht dass die Werkherrschaft des göttlichen Meisters etwa zurückgedrängt würde, seine Vermögen sind vielmehr geradezu magisch umgelenkt in die einzelnen Teile der Rüstung. Im <span class="italic">Roman d’Eneas</span> inskribiert Vulcans sogar auf das Schwert in goldenen Lettern Merkzeichen und seinen Namen, hinterlässt also zugleich magisch seine Kraft qua Graphie und eine Signatur, die die Werkurheberschaft markiert. Dennoch liegt bekanntermaßen das Augenmerk in beiden <span class="italic">descriptiones</span> auf der unmittelbaren Präsenz der Gegenstände in ihrer materialen Kostbarkeit und ihrer funktionalen Bedeutung für die Unbezwingbarkeit des Helden.<a href="36_Footnote03.html#fn07-359" id="fn07_359"><span class="sup">360</span></a> Das Werk des Volcân, die außergewöhnliche Rüstung, rückt in den Mittelpunkt. Sie hebt sich deutlich von einer gewöhnlichen ab, indem sie funktional wie ‚ästhetisch‘ valorisiert erscheint und insofern auch zum Artefakt aufgewertet wird.</p> <p class="indent">Anders hingegen Meister Gêometras: Auch bei dem monumentalen, paganen Grab-Mirabilium der Königin Camilla liegt wie bei Vulcanus der Fokus zunächst auf der in Anlage und Proportionen äußerst genauen <span class="italic">descriptio</span> des architektonischen Artefakts.<a href="36_Footnote03.html#fn07-360" id="fn07_360"><span class="sup">361</span></a> Gegenüber dem <span class="italic">Roman d’Eneas</span>, der mit auszeichnender Funktion an <a id="page_131"></a>mehreren Stellen die <span class="italic">maistrie</span><a href="36_Footnote03.html#fn07-361" id="fn07_361"><span class="sup">362</span></a> als abstrakte Größe postuliert, die Beschreibung aber aus dem Blickwinkel der Herstellung des Bauwerks präsentiert,<a href="36_Footnote03.html#fn07-362" id="fn07_362"><span class="sup">363</span></a> personifiziert der deutsche Text Meisterschaft und Fabrikation in der Figur eines Meisters und macht das exorbitante Grabmal zu seinem Werk. Doch hier wird in der Personifikation nicht nur ein Abstraktum belebt, sondern auch das allgemeine Meisterschaftspostulat konkretisiert zur ‚Funktionsbezeichnung‘ des <span class="italic">werkes meister</span> (V. 9428),<a href="36_Footnote03.html#fn07-363" id="fn07_363"><span class="sup">364</span></a> der in der zeitgenössischen Architekturterminologie genau dem <span class="italic">magister operis</span>, dem technischen Leiter einer Baustelle, entspricht<a href="36_Footnote03.html#fn07-364" id="fn07_364"><span class="sup">365</span></a> und dazu noch mit dem biblisch konnotierbaren und ebenso in diesem Kontext belegten Attribut <span class="italic">wîse</span><a href="36_Footnote03.html#fn07-365" id="fn07_365"><span class="sup">366</span></a> versehen ist, so dass in Veldekes Text Funktionsbezeichnung und Auszeichnungsfunktion sich schillernd verbinden. Die deutsche Version geht indes noch ein Stück weiter, indem sie den Meister namentlich identifiziert, von den Entstehungsumständen des noch zu Lebzeiten der Königin initiierten<a href="36_Footnote03.html#fn07-366" id="fn07_366"><span class="sup">367</span></a> Bauwerks berichtet, die Beauftragung und Entlohnung des Meisters sowie den durch sein Artefakt erlangten Ruhm, aber auch seine Selbstgewissheit herausstellt: <span class="italic">ob ez lobeten diez gesâgen: / der meister lobetez selbe</span> (V.9462f.). Des Meisters Namen – Gêometras – gemäß dem für die Baukunst notwendigen Quadriviumfach der Geometrie bezeichnet nun genau, <span class="italic">nomen est omen</span>, jene technischen und rechnerischen Fertigkeiten, welche die <span class="italic">descriptio</span> mittels exakter Maßund Zahlenangaben für die bauliche Konstruktion illustriert. Auf jeden Fall gehört deshalb die bautechnische Ausführung zu den Aufgaben des Meisters. Nicht zuletzt lassen die namentlich eingeschriebene und ihm dazu noch attestierte <span class="italic">list von gêometrîen</span> (V.9409), aber auch die mit dem Wirken (<span class="italic">worhte,</span> V.9429) des Meisters verbundene komplexe Gesamtkonstruktion den Schluss zu, dass neben Ausführung auch Konzept <a id="page_132"></a>und Planung in den Kompetenzbereich des Meisters fallen. Veldekes <span class="italic">descriptio</span> führt das komplette Entstehungsszenario eines Bauwerks vor Augen: von der Idee zum Vorhaben über den Auftrag der königlichen Bauherrin bis hin zu Konzept und Durchführung des Baumeisters. Am Ende aber steht ein perfektes Werk aus dem Bereich der <span class="italic">artes mechanicae</span> als Ergebnis meisterlicher ‚Kunst‘.</p> <p class="indent">All diese Momente, die Valorisierung des Werks wie die den Urheber auszeichnende Meisterschaft, vereinigen sich nun beim dritten Meister: <span class="italic">meister Heinrîch</span>. Der variantenreich, allerdings in allen vollständigen Handschriften überlieferte, trotzdem noch immer umstrittene <span class="italic">Eneas</span>-Epilog<a href="36_Footnote03.html#fn07-367" id="fn07_367"><span class="sup">368</span></a> lässt sich bekanntlich auf unterschiedliche Weise lesen: als Buchentstehungsfabel, in deren Mittelpunkt der Diebstahl eines halbfertigen Textes steht, mit womöglich realhistorischen Anspielungen;<a href="36_Footnote03.html#fn07-368" id="fn07_368"><span class="sup">369</span></a> als Repräsentation gesteigerter mäzenatischer Literaturinteressen, indem die gesamte Thüringische Landgrafenfamilie, deren Geschlecht agnatisch aufgefächert wird,<a href="36_Footnote03.html#fn07-369" id="fn07_369"><span class="sup">370</span></a> in Verlust, Wiederfinden und Vollendung des Buches involviert ist;<a href="36_Footnote03.html#fn07-370" id="fn07_370"><span class="sup">371</span></a> aber schließlich auch als Demonstration artistischer und hier nun literarischer Meisterschaft von Buch und Dichter, wie dies vor kurzem auch S<span class="small">ILVIA</span> S<span class="small">CHMITZ</span><a href="36_Footnote03.html#fn07-371" id="fn07_371"><span class="sup">372</span></a> eindrucksvoll demonstriert hat. Bereits die Epilogeröffnung signalisiert mit <span class="italic">Nû solen wir enden diz bûch.</span> / <span class="italic">ez dûht den meister genûch</span> (V.13429f.), worauf der erste Teil des an sich zweiteiligen Epilogs den Fokus legt: der <span class="italic">meister</span>,<a href="36_Footnote03.html#fn07-372" id="fn07_372"><span class="sup">373</span></a> sein Buch und, wie es an späterer Stelle heißt, <span class="italic">daz getihte meisterlîch</span> (V. 13479), das offenbar schon vor seiner Fertigstellung eine Art ‚Textbegehren‘ auslöste. Darum ranken sich der Buchdiebstahl und das Gönnerlob. <a id="page_133"></a>Während die Geschichte über den topische neun Jahre andauernden Diebstahl das Buch durch die präzisen Angaben zu Ort und Zeitpunkt des Geschehens, aber auch zum Dieb, den sie sogar namentlich dechiffriert,<a href="36_Footnote03.html#fn07-373" id="fn07_373"><span class="sup">374</span></a> zum gesellschaftlichen und damit auch zum literarischen Ereignis stilisiert, verschaffen sich Meister Heinrich und das Grafengeschlecht wechselseitig Geltung. Das mit genau markierter Stelle<a href="36_Footnote03.html#fn07-374" id="fn07_374"><span class="sup">375</span></a> abgebrochene <span class="italic">mâre</span>, das während der neunjährigen Trennung vom Meister <span class="italic">wart gescriben anders</span> (V.13461f.), kann offenkundig nur vom Meister vollendet werden. Die Möglichkeit zur Vollendung,<a href="36_Footnote03.html#fn07-375" id="fn07_375"><span class="sup">376</span></a> und darum geht es dieser Gönnerpassage, bot der landgräfliche Auftrag. Die Anerkennung der Überlegenheit des Meisters erweist zugleich den Auftraggeber – Hermann I. von Thüringen – als Kenner und Experten ambitionierter Dichtkunst. Ein Meisterwerk bedarf eines Meisterdichters wie dieser wiederum eines kongenialen Mäzens. Der Diebstahl inszeniert das Buch als Faszinosum, dessen Einzigartigkeit und dessen Wertschätzung durch den prominenten Gönner und bindet das Werk unhintergehbar an seinen Urheber, der allein die konzeptionelle Vollendung des Artefakts zu garantieren vermag. Diebstahlgeschichten über Bücher setzte bereits die antike Literatur topisch zur Auratisierung von Autor und Werk ein,<a href="36_Footnote03.html#fn07-376" id="fn07_376"><span class="sup">377</span></a> und die in Thüringen endende ‚Irrfahrt‘ der <span class="italic">Eneide</span> (V.13510) könnte eine Reminiszenz und eine Art von Referenz an den Stoff und seine antike Herkunft sein.</p> <p class="indent">Die Präsentation unterschiedlicher <span class="italic">artes</span> im Eneasroman verdeutlicht ihre Gleichrangigkeit. Gemeinsam ist ihnen der Meisterdiskurs, der sie als solche formiert und dadurch auch der Dichtkunst sozusagen einen eigenen, von den <span class="italic">artes liberales</span> unabhängigen Ort verleiht. Ihnen gemeinsam ist auch die Profilierung singulärer ‚Künstlerinstanzen‘, die als Meister nicht nur die Herstellung eines Artefakts, sondern durchaus auch den kreativ-konzeptiven Prozess verantworten. Man könnte in diesem Zusammenhang die alten Überlegungen von J<span class="small">ULIUS</span> S<span class="small">CHWIETERING</span> aufgreifen, dass die Meistertitulaturen der Literatur als eine Art Ausstrahlungseffekt von den bereits relativ formierten Bereichen der <span class="italic">artes mechanicae</span> und der für diese schon einschlägigen Magister/Meisterterminologie ausgegangen seien.<a href="36_Footnote03.html#fn07-377" id="fn07_377"><span class="sup">378</span></a> Mit den Ausführungen von B<span class="small">ARBARA</span> H<span class="small">AUPT</span> zur „Aufwertung des Kunsthandwerks durch Theophilus Presbyter“<a href="36_Footnote03.html#fn07-378" id="fn07_378"><span class="sup">379</span></a> und von J<span class="small">OACHIM</span> H<span class="small">AMM</span>, der die Relevanz der <span class="italic">poeta faber</span>-Metaphorik für die Selbstbeschreibung der deutschsprachigen Texte betont,<a href="36_Footnote03.html#fn07-379" id="fn07_379"><span class="sup">380</span></a> erscheint S<span class="small">CHWIETERING</span>s Position bestätigt. Doch ist die applizierte Meisterbegrifflichkeit im literarischen Diskurs <a id="page_134"></a>kaum auf das bloß ‚Handwerkliche‘ zu reduzieren, sie erfolgt immer mit der eindeutigen Wendung zur Normierung oder Auszeichnung.</p> <p class="indent">In diesem Sinne hat die Meistertitulatur Heinrichs von Veldeke schon sehr bald zu ersten Kanonisierungseffekten geführt, wie bekanntermaßen in Gottfrieds ‚Literaturexkurs‘ im <span class="italic">Tristan</span>. Darin wird Heinrich von Veldeke ebenso wie den anderen Epikern zwar nur indirekt der Meistertitel zugeschrieben, doch erlangt er dort Geltung als ‚Begründer‘ der Literatur der Meister und fungiert insofern künftig als normative Instanz, mithin als Autorität, was die allseits bekannte Textstelle verdeutlicht:</p> <p class="epigraph">nu hœre ich aber die besten jehen,<br/>die, die bî sînen jâren<br/>und sît her meister wâren,<br/>die selben gebent im einen prîs:<br/>er inpfete daz êrste rîs<br/>in tiutscher zungen. (V.4734–4739)<a href="36_Footnote03.html#fn07-380" id="fn07_380"><span class="sup">381</span></a></p> <p class="topnoindent">Veldeke bildet im hier als Ordnungssystem evozierten Baum der Dichtung den – relativen – Anfang der Literatur in der Volkssprache. Für die deutsche Dichtung markiere er deshalb einen „Neueinsatz“, aber keine „Gründerrolle“,<a href="36_Footnote03.html#fn07-381" id="fn07_381"><span class="sup">382</span></a> so S<span class="small">ILVIA</span> S<span class="small">CHMITZ</span> im Rekurs auf U<span class="small">RSULA</span> S<span class="small">CHULZE</span>. Viel genereller aber scheint mir in dieser Passage der Aspekt der meisterlichen Dichtkunst akzentuiert. Auch bedeutet das gartenbauliche, einen künstlichen Vorgang ins Bild setzende Pfropfen eigentlich weder Ursprung noch Neueinsatz, sondern eine veritable Schnittstelle<a href="36_Footnote03.html#fn07-382" id="fn07_382"><span class="sup">383</span></a> zwischen Tradition und Innovation der Literatur der Meister, die im Exkurs im Blick auf die Nachmeister über die stilistisch-rhetorischen Kriterien der <span class="italic">perspicuitas</span> und <span class="italic">obscuritas</span> ausgehandelt wird. Als Figur eines ‚aufgepflanzten‘ Übergangs von Altem zu Neuem bringt es zwischen den – auch antiken – Vorläufern und Nachfolgern das Prinzip der Meisterschaft exakt auf den Punkt, nämlich Aufgreifen, Perfektionieren und Überbieten, das der <span class="italic">meister Heinrîch</span> mit seinem – auch – nach antiken Vorgaben gedichteten Text kongenial verkörpert.</p> <h3 class="section1" id="head033"><span class="bold"><a id="page_135"></a>Meisterschaft als Zuschreibung und Valorisierung</span></h3> <p class="noindent">In den volkssprachlichen Texten ist Meisterschaft vorrangig ein Akt der konkreten Zuschreibung und zumindest vordergründiger Valorisierung oder markiert eine abstrakte Normeninstanz (der/die <span class="italic">meister</span>), die überwiegend der Absetzung dient. Als Zuschreibungsphänomen ist Meisterschaft den Konstitutionsprozessen von Autorschaft in mittelalterlichen Texten vergleichbar und kann einen engen Konnex zu Autorschaft oder in anderen <span class="italic">artes</span>-Kontexten zu Werkurheberschaft eingehen, indem sich der Meistertitel mit Autornamen verbindet und darüber hinaus zur Profilierung der literarischen Autorschaftsentwürfe beiträgt. Im Verbund mit den Autornamen stellt die Meistertitulierung auch einen Bestandteil oder eine Form der „Künstlersignatur“ dar, so S<span class="small">CHWIETERING</span>, und es lassen sich quasi „Eigenund Fremdsignaturen“ der Meister unterscheiden.<a href="36_Footnote03.html#fn07-383" id="fn07_383"><span class="sup">384</span></a> Denn mehrheitlich sind es um oder vor 1200 in den topischen Quellenberufungen die literarischen Vorläufer, jedoch auch die Hersteller anderer Artefakte, die zum Meister deklariert werden. Die selbstreferenziellen Meistertitulaturen will S<span class="small">CHWIETERING</span> allerdings definitiv erst für das späte 13. Jahrhundert gelten lassen, da sie ein Verständnis von selbstbewusster Meisterschaft voraussetzten und der lange Zeit vorherrschenden Logik der Selbstbescheidung widersprächen. Meisterlich „ist der klassische Ausdruck, mit dem man die vorbildhafte Dichtung anderer rühmend hervorhebt“.<a href="36_Footnote03.html#fn07-384" id="fn07_384"><span class="sup">385</span></a> Das ‚selbstzweckhafte Eigenlob‘ des <span class="italic">meisters Heinrîch</span> im <span class="italic">Eneas</span>-Epilog könne deshalb nicht auf Heinrich von Veldeke zurückgehen, sondern sei ein sekundäres Produkt der Überlieferung.<a href="36_Footnote03.html#fn07-385" id="fn07_385"><span class="sup">386</span></a> S<span class="small">CHWIETERING</span> unterstellt den literarischen Meistersignaturen offensichtlich eine kontinuierliche Entwicklung von der demütigen Selbstbescheidung zur meisterlichen Selbstinszenierung. Allerdings verlaufen die Prozesse solcher Textstrategien wohl kaum nach evolutionären Mustern. Man wird gerade bei den literarischen Meistersignaturen mit Diskontinuitäten, Brüchen, vor allem aber mit kontextgebundener Stilisierung und intertextuellen Allusionen rechnen müssen. Insbesondere aber verschränken sich in der literarischen Inszenierung die dialektisch aufeinander bezogenen Entwürfe von Demut und Ermächtigung. Sie stehen in einem fragilen Spannungsverhältnis, das in den höfischen Texten subtil ausgespielt werden kann. Im Prolog zu Gottfrieds <span class="italic">Tristan</span> ist der Meistertitulatur des Vorläufers, Thômas von Britanje, eine solche Spannung eingeschrieben.</p> <p class="indent"><a id="page_136"></a>Im Gottfriedschen <span class="italic">Tristan</span> ist für den Texturheber weder eine Autornoch eine Meistersignatur überliefert. Nur eine versteckte, aber hoch artistische Anspielung auf den Autornamen vermutet man im Akrostichon der Vierreimstrophen.<a href="36_Footnote03.html#fn07-386" id="fn07_386"><span class="sup">387</span></a> Der Prolog allerdings profiliert zumindest eine vertextete Autorfigur, die ihre Selbstermächtigung im Rekurs auf die Meisterschaft des Vorläufers durch eine latente Überbietung gewinnt.</p> <p class="epigraph"><span class="bold">I</span>ch weiz wol, ir ist vil gewesen,<br/>die von Tristande hânt gelesen;<br/>und ist ir doch niht vil gewesen<br/>die von im rehte haben gelesen.<br/><span class="bold">T</span>uon aber ich diu gelîche nuo<br/>und schepfe mîniu wort dar zuo,<br/>daz mir ir iegelîches sage<br/>von disem mære missehage,<br/>sô wirbe ich anders, danne ich sol.<br/>ine tuon es niht: sî sprâchen wol<br/>und niuwan ûz edelem muote<br/>mir unde der werlt ze guote.<br/>[…]<br/>aber als ich gesprochen hân,<br/>daz si niht rehte haben gelesen,<br/>daz ist, als ich iu sage, gewesen:<br/>si’n sprâchen in der rihte niht,<br/>als Thômas von Britanje giht,<br/>der âventiure meister was<br/>und an britûnschen buochen las<br/>aller der lanthêrren leben<br/>und ez uns ze künde hât gegeben.<br/>als der von Tristande seit,<br/>die rihte und die wârheit<br/>begunde ich sêre suochen<br/>in beider hande buochen<br/>walschen und latînen<br/>und begunde mich des pînen,<br/>daz ich in sîner rihte<br/>rihte dise tihte.<br/>sus treip ich manege suoche,<br/>unz ich an eime buoche<br/>alle sîne jehe gelas,<br/>wie dirre âventiure was. (V.131–166)</p> <p class="noindent"><a id="page_137"></a>Die Quellenberufung erzählt erneut eine Buchentstehungsgeschichte, nämlich die des Gottfriedschen <span class="italic">Tristan</span>, aber auch diejenige der bereits davor geschriebenen Tristangeschichten als einen kontinuierlichen, permanent andauernden Lektürevorgang. Rezeption und Produktion bedingen sich gegenseitig. Der neue Text entsteht aus den Lektüren der Vorläufer, entsteht mit und gegen ihre Versionen. Eingeklagt wird deshalb die richtige Lektüre (<span class="italic">rehte haben gelesen</span>) und damit zugleich die adäquate Fassung der Tristangeschichte. Die <span class="italic">rihte</span><a href="36_Footnote03.html#fn07-387" id="fn07_387"><span class="sup">388</span></a> – die Spur, die Richtung – dafür hat <span class="italic">Thômas von Britanje</span> vorgegeben. Der Kritik ausgesetzt sind die vielen anderen, die zwar in guter Absicht<a href="36_Footnote03.html#fn07-388" id="fn07_388"><span class="sup">389</span></a> und wohl formuliert (<span class="italic">sprâchen wol</span>) gedichtet, aber nicht dessen Richtung eingeschlagen haben. Meisterschaft wird hier ausschließlich <span class="italic">Thômas</span> zugeschrieben. Er ist durch seine maßgebliche Version der <span class="italic">âventiure meister</span>, der Meister der Tristanstangeschichte, der, so könnte man sagen, die Diskurshoheit über diesen Stoff besitzt. Auch der überlegene Meister <span class="italic">Thômas</span> war zunächst einmal ein Leser. Die <span class="italic">britûnschen</span> Bücher seiner Lektüre, und mithin sein Text, werden hier freilich eher den <span class="italic">res factae</span>, der Geschichtsschreibung, zugeordnet, die von der <span class="italic">lanthêrren leben</span> […] <span class="italic">künde</span> geben. Sie garantieren die <span class="italic">rihte und die wârheit</span> und bilden legitimatorisch das Fundament für die Relektüre (<span class="italic">mîn lesen</span>, V.167) der Autorfigur Gottfrieds. Zweifellos fungieren hier der <span class="italic">meister</span> und sein Buch vorerst als personale und mediale Konkretionen der Autorität. Diese Relektüre begnügt sich allerdings nicht mit der vermeintlich richtigen Version, sondern treibt die Lektüre weiter, ergänzt und überprüft sie durch weitere Lektüren und ein vergleichendes Quellenstudium, <span class="italic">unz ich an eime buoche</span> / <span class="italic">alle sîne jehe gelas</span>, / <span class="italic">wie dirre âventiure was</span>, das die Fakten zu bestätigen scheint.</p> <p class="indent">Bestätigen und Weitertreiben scheint hier zunächst eine Grundfigur der Textproduktion zu sein. Damit weist die Quellenberufung Gottfrieds deutlich über die des Vorläufers, Thomas d’Angleterre, hinaus, auf die er sich erwiesenermaßen bezieht und wo es heißt, dass viele verschieden von Tristan erzählten, „aber sie erzählten es nicht Breri entsprechend, der die Taten und die Erzählungen von allen Königen […] wusste, die in der Bretagne gelebt haben“.<a href="36_Footnote03.html#fn07-389" id="fn07_389"><span class="sup">390</span></a> Bei Thomas wird demnach das Weitererzählen als Wiedererzählen von Breri arretiert. Breri ist die autoritative Vorlage. In der Interferenz der beiden Quellenberufungen wird bei Gottfried allerdings nicht nur eine Genealogie der Bücher entworfen, die zu ihrem Ursprung, <span class="italic">eime buoche</span> (V.164), führt, <a id="page_138"></a>sondern auch das Prinzip der Nachfolge in personaler Konstellation quasi als Abfolge von Schülern und Meistern umgesetzt: Breri (vermittelt über Thomas) – Thomas – Gottfried bzw. sein ‚auktoriales‘ Pendant. Die Logik einer solchen Konstruktion ist deshalb einerseits die Rückwendung zum Ursprung der autoritativen Version, andererseits aber diejenige der Perfektionierung und durchaus auch hierarchisch gedachten Überbietung: Die Gottfriedsche Autorfigur ist vorerst das letzte Glied in einer unabgeschlossenen Reihe von Lesern und Meistern der Wortkunst. Die Selbstermächtigung des Gottfriedschen Autors reicht indessen noch ein Stück weiter. Denn das eine Buch (V.164), das als Grundlage für das <span class="italic">senemære</span> (V.168) – d.h. <span class="italic">res fictae</span> – angegeben wird, ist entgegen der Forschung<a href="36_Footnote03.html#fn07-390" id="fn07_390"><span class="sup">391</span></a> weder das Thomassche noch das des Breri. Das eine Buch, das nur der Gottfriedsche Autor kennt, bleibt eine Leerstelle. Wir treffen mit dem einen Buch auf eine Art ‚Kyotkonstruktion‘, wie in Wolframs <span class="italic">Parzival</span> auf eine fingierte Quelle, die Gottfried als Metonymie der Übertrumpfung latent gegen Thomas ausspielt. Aber anders als diese dezidiert schriftliterarische Konstruktion von Meisterschaft Gottfrieds bringt Wolframs <span class="italic">Parzival</span> in der Potenzierung solcher Konstellationen gegen die Meister der Schrifttexte, gegen <span class="italic">meister Cristjân</span> und sogar gegen <span class="italic">meister Kyôt</span>,<a href="36_Footnote03.html#fn07-391" id="fn07_391"><span class="sup">392</span></a> schlussendlich Frau Aventiure in Stellung – eine Figur der Mündlichkeit und des Imaginären, die zu Beginn des 9. Buchs in das Herz des Erzählers dringen und ihn ‚erleuchten‘ soll.</p> <p class="topnoindent">Über solche Zuschreibungsdiskurse von Meisterschaft werden nicht nur Rang und Können, Kompetenz und Konkurrenz mittelalterlicher Dichter ausgehandelt und in Szene gesetzt, sondern ebenso kulturelle Auszeichnung und normative Konzepte der literarischen Artefakte. Insofern sind dem Meister-Diskurs ganz entscheidend auch Aspekte der Valorisierung inhärent, die innerliterarisch, wie es sich an den Beispielen zeigte, ganz verschieden ausdifferenziert werden: sei es der adäquate Umgang <a id="page_139"></a>mit der <span class="italic">materia</span>, wie im <span class="italic">Tristan</span>-Prolog, seien es die stilistischen Kriterien und sprachschöpferischen Vermögen der Dichter und damit die ‚Literarizität‘ ihrer hergestellten ‚Werke‘, so im Literaturexkurs Gottfrieds‚ oder die Ausstellung des Wertes und der Bedeutung eines noch unfertigen Buches und seines Autors als Meisterautor eines Meisterwerks, wie bei Veldeke.</p> <p class="indent">Analog zur ‚Funktion Autor‘ könnte man im Anschluss an F<span class="small">OUCAULT</span><a href="36_Footnote03.html#fn07-392" id="fn07_392"><span class="sup">393</span></a> von einer ‚Funktion Meister‘ sprechen. Meisterschaft übernimmt einerseits diskursive Ordnungsfunktionen, indem sie historische oder rhetorische Bezüge der Texte untereinander herstellt und historische Zusammenhänge zwischen Autoren stiftet. Andererseits hat Meisterschaft eine klassifikatorische Funktion, indem sie über Namen und Spitzenstellung, Ausund Eingrenzungen, aber auch Überund Unterordnungen, also Abgrenzungen vornimmt oder Differenzen einzieht, die ihrerseits Normierungen erzeugen, langfristig sogar kanonbildend wirken können. In diesem Sinne scheint Meisterschaft ein zentraler Terminus der literarischen Selbstbeschreibung mittelalterlicher Texte zu sein, über den systemische und poetologisch-stilistische, vielleicht sogar soziale Ordnungen, aber auch Kommunikationsund Interaktionsformen des Literarischen zur Sprache kommen, womit schließlich die ‚Eigengeschichte‘<a href="36_Footnote03.html#fn07-393" id="fn07_393"><span class="sup">394</span></a> der Dichtkunst thematisiert und zunehmend auf Dauer gestellt wird, also Institutionalisierungsprozesse in Gang gesetzt werden. Von vornherein aber ist dem Meisterschaftsdiskurs die Logik der auch agonalen Überbietung implizit. Im Augenblick der Zuschreibung wird sie zugleich in Frage gestellt.</p> </body> </html>