Caroline Emmelius

Mechthilds Klangpoetik

Zu den Kolonreimen im Fließenden Licht der Gottheit

1  Das Stilphänomen der Kolonreime zwischen Rhetorik und Poetik

Schon die ältere Forschung hat stets notiert, dass die Prosa des Fließenden Lichts der Gottheit einen besonderen Reimschmuck aufweist.758 HANS NEUMANN führt für dieses Stilphänomen, das im Mittellateinischen häufig, in der geistlichen Prosa des Mittelhochdeutschen vereinzelt anzutreffen ist,759 den Begriff des Kolonreims ein.760 Erüber nimmt ihn aus der Forschung zur lateinischen Reimprosa und bezeichnet damit die „lautliche Entsprechung der Satzeinschnitte (Kola)“.761 Sie bilden in den meisten Fällen Paarreime oder Reimketten, seltener Kreuzoder umarmende Reime.762 GISELA VOLLMANN-PROFE hat darauf aufmerksam gemacht, dass solche lautlichen Entsprechungen nur dann mit dem Begriff des Reims bezeichnet werden können, „wenn man diesen sehr weit faßt und nicht etwa die Maßstäbe der höfischen Dichtung zugrunde legt“.763 So wird eine Reimbindung häufig nur durch Vokalgleichklang erreicht (Assonanzen des Typs: minnestimme), durch unreine Reime (minnent – bekennent),764 durch Reim von Stammauf Nebensilbe (bereit – arbeit) oder durch Nebensilbenreime (vgl. Reimketten von Abstraktbildungen mit gleichem Bildungssuffix: stetekeit – miltekeit – beitekeit).765

VOLLMANN-PROFES einschränkende Bemerkungen zur Qualität der Reime im Fließenden Licht führen auf ein Problem des Neumannschen Begriffs: ‚Reim‘ konnotiert im Deutschen unweigerlich eine poetische Praxis, denn neben dem Metrum gilt der Reim seit Otfrid von Weißenburg als verskonstituierend.766 Vor dem Horizont dessen, was in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts als normativer Standard mhd. Reimpraxis gelten kann, erscheinen die Reime des Fließenden Lichts in der Tat als defizitär. Allerdings zielt NEUMANNS Begriff des Kolonreims gar nicht auf eine poetische Praxis, sondern er führt in den Bereich der rhetorischen Figuren und bezeichnet hier das Phänomen eines „gleichtönenden Ausklangs aufeinanderfolgender Kola“, das in den antiken Rhetoriken als Homoioteleuton eingeführt ist.767 Als solches ist es ein fakultativ verwendetes Stilmittel der Rede bzw. von Prosatexten, das erst im leoninischen Hexameter der mittellateinischen Literatur zu einem konstitutiven Textmerkmal der Versdichtung wird.768 Vor dem Hintergrund der antiken Literatur, die den Endreim als poetisches Mittel nicht kennt, hat die rhetorische Figur des Homoioteleuton naturgemäß deutlich größere Lizenzen als der poetische Reimgebrauch in deutschen Texten des 13. Jahrhunderts.769 Die Irregularitäten des Reimgebrauchs bei Mechthild lassen sich demnach durchaus mit dem Hinweis begründen, dass ihre Reime rhetorisches Stilmittel der Prosa, nicht poetische Praxis der Versbildung sind. Indes kann eine solche Zuordnung zu einem systematischen Ort der rhetorischen Elocutio das irritierende Potential dieses Stilmittels doch nicht restlos aufklären. Denn bei der Frage nach seiner Funktion kehrt jene Konnotation des Poetischen zurück, die schon dem Begriff des Kolonreims eigen ist: Als rhetorisches Mittel der syntaktisch geordneten phonetischen Wiederholung kommen dem Homoioteleuton einerseits pragmatische Funktionen in Bezug auf den Rezipienten zu. Der Gleichklang intensiviert die Wahrnehmung des Ausgesagten, er vermag Worte hervorzuheben, zu verbinden oder zu kontrastieren. Andererseits entfalten die Gleichklänge zugleich eine ästhetische Wirkung: Denn in einer Kultur, in der die Reimbindung als zentrale poetische Praxis etabliert und daher Dichtungsmarker par excellence ist, wird die Wahrnehmung kaum zwischen rhetorischer Funktion und ästhetischer Wirkung des Reims trennen können. Ein Prosatext, der partiell reimt, mag daher zwar produktionsseitig eine rhetorische Strategie verfolgen, rezeptionsseitig aber fallen im Kontext einer reimenden Dichtungskultur rhetorische Funktion und ästhetische Wirkung zunächst einmal in eins. Pointiert formuliert: Ein Prosatext, der sich in einer literarischen Reimkultur des Reims bedient, nutzt unweigerlich ihr zentrales poetisches Verfahren, selbst wenn er die verskonstituierende Funktion des Reims ignoriert.

Von dieser ambigen Position der Kolonreime zwischen Rhetorik und Poetik geht der folgende Beitrag aus, wenn er sowohl ihre rhetorische Funktion als auch ihre ästhetische Wirkung zu bestimmen sucht. Das setzt zunächst grundsätzliche Überlegungen zur formalen Gestalt des Textes voraus, denn mit der Bestimmung des Textes als Reimprosa ist – wie sich am Beispiel der drei Editionen zeigen lässt – die Frage nach den Versen im Fließenden Lichts keineswegs erledigt (Abschnitt 2). Die anschließenden Untersuchungen versuchen die Verwendung der Kolonreime zu systematisieren, ihre Funktion als rhetorisches Stilmittel (Abschnitt 3) und das Prinzip ihrer ästhetischen Wirksamkeit zu ermitteln (Abschnitt 4). Abschließend wird zu überlegen sein, ob die Art und Weise des rekurrenten Gebrauchs der Kolonreime lediglich auf den Stil des Textes führt,770 oder ob er sich nicht vielmehr als Teil eines Verfahrens beschreiben lässt, das als ‚Klangpoetik‘ den Text in spezifischer Weise zum Klingen bringt (Abschnitt 5).

2  Prosimetrum oder Reimprosa? Die formale Gestalt des Fließenden Lichts und das Problem ihrer editorischen Darstellung

HANS NEUMANN hat die Kolonreime des Fließenden Lichts nicht nur auf den rhetorischen Begriff gebracht und den Text damit in eine Tradition lateinischer und volkssprachlicher Reimprosa gestellt.771 Er hat sich als Editor eines kritischen Textes zu gleich in besonderer Weise um die Wahrnehmbarkeit dieser Prosa bemüht, indem er sämtliche Kolonreime im Text sperrt,772 ein Verfahren, das an ältere Editionen von Reimprosatexten anknüpft.773 In den Prolegomena zu NEUMANNS Edition begründet VOLLMANN-PROFE die Reimkennzeichnung: Während die Erstausgabe von GALL MOREL mit der satztechnischen Unterscheidung von Vers- und Prosapartien den Eindruck vermittele, das Fließende Licht sei ein Prosimetrum, betone Neumanns Edition den Charakter einer Reimprosa, welche die eindeutige Differenzierung zwischen gebundener und ungebundener Rede gerade unterlaufe.774 Um diesen Konzeptwandel hinsichtlich der formalen Einschätzung des Fließenden Lichts nachzuvollziehen, ist es notwendig, sich Rechenschaft darüber abzulegen, was im Fließenden Licht nach Ausweis der Überlieferung und nach Ansicht der drei Herausgeber überhaupt als Vers, was als Prosa zu gelten hat.

Die in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts entstandene Einsiedler Handschrift bietet einen weitgehend fortlaufend geschriebenen Text, dessen primäres Ordnungsprinzip die rubrizierten Kapitelüberschriften sind. Innerhalb der Kapitel gibt es zwei optische Verfahren der Textgliederung: Zum einen mit rotem Strich ausgezeichnete Großbuchstaben, die Absatz- und häufig auch Satzanfänge markieren, zum anderen auf der Mitte der Zeile gesetzte Punkte, die Satzenden und Satzeinschnitte angeben, aber auch kleinere Wortgruppen abtrennen können.775 Sie sind – so NEUMANN – weniger als schriftliche Interpunktions-, denn als Pausezeichen aufzufassen, die Gliederungshinweise für „Leser und Vorleser“ der Handschrift bieten.776 Die Markierung lesbarer Satzeinheiten durch Punkte kann mit der Kolonreimverwendung in eins fallen, von Reimpunkten lässt sich gleichwohl nicht sprechen, da die Kola in der Regel nicht metrisch homogenisiert sind.777 Ausnahmen von der fortlaufend geschriebenen Prosa stellen zeilenweise abgesetzte Satzketten dar, die syntaktisch parallel konstruiert und durch Anaphern verbunden sind.778

Angesichts dieser Ausgangslage gesteht der erste Herausgeber des Fließenden Lichts, GALL MOREL, in der Vorrede zu seiner 1869 erschienenen Ausgabe:

Eine eigenthümliche Schwierigkeit ergab sich aus der Bestimmung[,] was vom Texte in Versen auszusetzen sei, da in der Handschrift Alles als Prosa fortläuft, obschon viele Abschnitte entschieden auf Verse hindeuten, während anderseits nur schwache Anklänge an solche bemerkbar sind. Entscheidend war hiebei [sic] für mich, nebst dem Reim, der höhere Schwung der Rede oder des Gefühles, der in den meisten Fällen auch die Sprache poetischer macht.779

Enstprechend bietet MORELS Text neben fortlaufender Prosa eine Fülle von Formen: Außer zeilenweise abgesetzten Anaphernreihen vor allem Versgebilde, die durch unterschiedlich weite Einrückung optisch hervorgehoben sind. In Ermangelung eines metrisch begründeten Versbegriffs gelten ihm vor allem Anapher, Parallelismus und Endreim als versbildend, wobei er den Endreim leicht privilegiert.780 Seine Beobachtung, dass sich Reime in Dialogpassagen häufen,781 lässt ihn den Prosatext eines Kapitels vielfach durch Verspartien unterbrechen.782 So entsteht jener prosimetrische Charakter des Textes, von dem sich HANS NEUMANNS Edition programmatisch abzusetzen sucht.783

Dessen lang erwartete, im Jahr 1990 postum erschienene Ausgabe784 stellt die Mechthild-Forschung erstmals auf eine verlässliche philologische Basis, indem sie den Text der Einsiedler Handschrift ohne die zahlreichen Fehler und Verlesungen des MORELSchen Abdrucks bietet und die lateinische und deutsche Parallelüberlieferung in die Textherstellung einbezieht.785 Ziel ist ein kritischer Text, der die Überlieferung von E wo immer möglich auf Grund von Parallelüberlieferung und Herausgebereinsicht begründet bessert und auf seine Vorlagen hin durchsichtig macht.786 NEUMANN bietet den Text nicht länger als Prosimetrum, sondern als durch die Sperrung der Reime optisch wahrnehmbare Reimprosa. Entsprechend reduziert er den Anteil an Versauszeichnungen im Vergleich zu MORELS Ausgabe erheblich. Gleichwohl kennt auch seine Ausgabe Unterbrechungen des Prosatextes. NEUMANN nutzt hierfür die linksbündige Absetzung von Zeilen und die Einrückung von Versen. Die Prinzipien, nach denen diese Differenzierung erfolgt, werden nicht expliziert. Sie lassen sich zwar weitgehend aus der Praxis erschließen, eine in jedem Einzelfall konsistente Systematik ergibt sich daraus allerdings nicht: Wo die Handschrift syntaktisch parallel konstruierte Satzketten zeilenweise absetzt,787 übernimmt Neumann dieses Satzprinzip und verfährt in analogen Fällen ebenso.788 Anaphorisch gebundene Aussagen oder Sätze wertet er hingegen teils als Prosa, teils als Verse.789 Wo Anapher790, Endreim791 oder beides zugleich Satzabschnitte mittlerer Länge einleiten oder beschließen, die sich durch einen gleichmäßigen Rhythmus oder sogar annähernd identische Hebungen auszeichnen, konzediert NEUMANN Verse, die er durch Einrückung von der Prosa absetzt. Verse setzt er auch dort, wo die Kapitelüberschrift eine lyrische Form wie liet, sang oder klage ankündigt.792 Das ist indes ein problematisches Kriterium, denn auch diese Partien bieten in der Regel allenfalls freie Rhythmen, kein festes Reimschema und keine strophische Gestalt. Anders als Morel sucht Neumann den optischen Eindruck des genus mixtum zu meiden und bevorzugt die Zuordnung je eines Kapitels zu einer Form. Das prosimetrische Nebeneinander der Formen innerhalb eines Kapitel abschnitts ist in seiner Edition die Ausnahme.793

Noch einmal anders verfährt schließlich die dritte, 2003 im Deutschen Klassikerverlag erschienene Ausgabe des Fließenden Lichts von GISELA VOLLMANN-PROFE, die den Text der Einsiedler Handschrift in den Mittelpunkt stellt. Der Herausgeberin geht es darum, den einzig vollständigen deutschen Textzeugen des Fließenden Lichts zu präsentieren, der jene sprachliche und stilistische Form bietet, in der „Mechthilds Schrift […] volkssprachlich rezipiert wurde und gewirkt hat“.794 Mit dieser Position deutet sich eine behutsame Reserve gegenüber NEUMANNS editorischem Konzept und den daraus folgenden weitreichenden Texteingriffen an. Damit leistet VOLLMANN-PROFES Ausgabe zugleich die Anbindung an die seit den 1970er Jahren stark veränderte editionsphilologische Fachdiskussion, von der in der NEUMANNSchen Ausgabe noch gar nichts zu bemerken ist.795 Ihre Ausgabe nimmt sowohl von NEUMANNS Reimrekonstruktionen als auch von seinem Verfahren der optischen Visualisierung der Reimprosa Abstand.796 Über die Prinzipien der Formanalyse und der daraus resultierenden Texteinrichtung legt auch VOLLMANN-PROFES Ausgabe keine Rechenschaft ab.797 Die Kriterien, denen die Herausgeberin offenkundig folgt, unterscheiden sich gleichwohl von denen NEUMANNS. Als wichtigste Neuerung kann gelten, dass die Forschung zum Dialog im Fließenden Licht einen Niederschlag in der Textdarbietung gefunden hat.798 So werden einzelne Sprecherbeiträge in dramatischen Dialogen SoWie dramatische Sprecherwechsel in narrativen Textpassagen voneinander abgesetzt.799 Von fortlaufender Prosa sind im übrigen zeilenweise abgesetzte Textpartien unterschieden, wobei NEUMANNS Differenzierung zwischen abgesetzten Prosazeilen und eingerückten Versen nicht übernommen wird. VOLLMANNS Ausgabe macht insofern keinen Unterschied zwischen anapherierenden Reihen, Parallelismen und rhythmisch regelmäßigeren, endreimenden Versformen. Die Deutung dieses Verfahrens ist dem Nutzer überlassen: Entweder setzt es einen sehr weiten, nicht metrisch, sondern durch Anfangs- und Endreim definierten Versbegriff voraus, der in der typographischen Praxis allerdings nicht von dialogischen Sprecherreden unterschieden ist; oder aber es schafft den Versbegriff ganz ab und differenziert lediglich zwischen stilistisch weniger markierter fortlaufender Prosa und stilistisch stärker markierten zeilenweise abgesetzten Passagen. In dieser Perspektive wären dialogische, anapherierende, parallel konstruierte und reimende Passagen demselben Set von Stilphänomenen zuzuordnen.800 Im Vergleich mit der Ausgabe von NEUMANN setzt VOLLMANN-PROFE insbesondere in den ersten Büchern weit mehr Anaphernreihen ab. Auf diese Weise entsteht ein unruhiges Schriftbild, das wenigstens optisch den Eindruck des Prosimetrums restituiert. Der Charakter der Reimprosa ist dagegen, da die Kolonreime unmarkiert bleiben, optisch getilgt.801

Der knappe Überblick macht deutlich, dass die Form des überlieferten Textes die Herausgeber vor deutliche Herausforderungen stellt. Während MOREL seine Intuition hinsichtlich der Textpräsentation freimütig bekennt und so eher unwillkürlich eine Art Prosimetrum generiert,802 verdankt sich NEUMANNS Entscheidung, den Text als Reimprosa zu präsentieren, der Einsicht in gattungs- und stilgeschichtliche Zusammenhänge und ist somit literaturwissenschaftlich gut begründet.803 Gleichwohl ist es gerade nicht NEUMANNS Absicht, den generischen Status des Fließenden Lichts festzuschreiben804 und damit jenen Fehler zu wiederholen, den er MORELS Textpräsentation vorwirft. Vielmehr soll die Hervorhebung der Kolonreime es erleichtern, „die Übergänge von Prosa zu Vers und von Vers zu Prosa“ und damit gerade die ambige formale Gestalt des Fließenden Lichts wahrzunehmen.805 Es ist jedoch die Frage, ob NEUMANNS Verfahren dazu tatsächlich geeignet ist: Zwar machen es die markierten Kolonreime auf einen Blick möglich, Prosapassagen ohne bzw. mit nur gelegentlichem Reim von solchen mit intensiverer Reimverwendung zu unterscheiden. Über Aspekte wie Länge und Rhythmisierung der Kola, die in Verbindung mit dem Reim die besagten Übergänge zwischen Prosa und Vers erst schaffen, vermag die Sperrung der Reime allein jedoch noch keinen Eindruck zu vermitteln. Irritieren muss weiterhin, dass Neumann einerseits darauf verzichtet, dort Verse zu setzen, wo ausweislich der Prolegomena Kolonreime „aus der Prosa herauswachsen, um sich dann […] zu intensivieren und gegebenenfalls, rhythmisch gebunden in (relativ) regelmäßigen Versen zu enden“,806 andererseits passagenweise an der Verssetzung festhält, ohne dass die Kriterien hierfür expliziert würden.807 Auch wenn es also nicht in der Absicht des Herausgebers lag, den generischen Status des Textes zu fixieren, scheint die Texteinrichtung weniger die formale Ambiguität des Textes zu betonen, als vielmehr einen grundsätzlichen Konzeptwandel zu vollziehen, nach dem der Text primär als Reimprosa aufzufassen ist.

Auch die Ausgabe von VOLLMANN-PROFE entzieht sich einer expliziten Diskussion um die Unterscheidbarkeit von Vers und Prosa. Hinsichtlich der Textpräsentation wählt sie indes einen dritten Weg, indem sie von fortlaufender Prosa nurmehr abgesetzte Zeilen differenziert, die sowohl reimende und metrisch annähernd regulierte Verse, aber auch andere stilistisch auffällige Partien wie dialogische Wechselreden und anapherierende Reihen hervorhebt. Dem erweiterten Blick auf die stilistischen Besonderheiten des Fließenden Lichts fällt in dieser Ausgabe allerdings die Visualisierung der Reimprosa zum Opfer.808

Es lässt sich festhalten, dass sich alle drei Editionen auf je eigene Weise um die optische Visualisierung der formalen Gestalt des Fließenden Lichts bemühen. Sie entsprechen damit zumindest partiell jener Forderung, die Friedrich Ohly für die Edition geistlicher Kunstprosa aufgestellt und in seiner Ausgabe des St. Trudperter Hohelieds aufwändig umgesetzt hat, nämlich, „die in der Handschrift oft versteckte dichterische Kunstgestalt eines Texts nicht selten gegen alle Überlieferung durch Formkritik ans Licht zu bringen.“809 Zugleich unterscheiden sie sich aber auch von seinem Programm einer formanalytischen Editionspraxis: Erstens nehmen sich sowohl NEUMANNS als auch VOLLMANN-PROFES Ausgabe im Vergleich mit Ohlys St. Trudperter Hohelied optisch sehr zurückhaltend aus, was sich vor allem mit der Absetzung von der optisch unruhigen, lediglich durch Intuition begründeten Texteinrichtung bei MOREL erklären lässt. Zweitens ist allen drei Editionen des Fließenden Lichts der Vorwurf zu machen, dass sie die Kriterien für ihre jeweilige formanalytische Interpretation des Textes nur eingeschränkt offenlegen.810 Das gilt insbesondere für das Problem der Verspartien des Fließenden Lichts,811 in geringerem Maße aber auch für die Prosareime. Denn obwohl sich NEUMANN und VOLLMANN-PROFE darin einig zu sein scheinen, dass das Fließende Licht kein Prosimetrum ist, gehen ihre Ansichten über den Status der Reimprosa und deren Darstellung deutlich auseinander. Der Grund hierfür liegt darin, dass beide Herausgeber stilistische Textbefunde mit überlieferungsgeschichtlicher Argumentation verknüpfen. So gelten ihnen die Kolonreime als Beweismittel für eine bestimmte Auffassung vom Gang der Überlieferung, aus der sie dann je unterschiedliche editorische Konsequenzen ziehen.

NEUMANNS kritischer Text ist bemüht, die mitteldeutsch-niederdeutsche Vorlage, besser noch, das ‚Original‘, hinter dem in Handschrift E überlieferten Text sichtbar zu machen. So kennzeichnet er nicht nur in E vorfindliche Reime, sondern auch solche, die nur durch syntaktische Umstellung des Textes von E zu gewinnen sind, sowie solche, die nur dann reimen, wenn man die entsprechende mitteldeutsche oder niederdeutsche Form zugrunde legt,812 und drittens Reime, die er aufgrund der lateinischen und deutschen Parallelüberlieferung in den Text von E einsetzt oder auf der Basis seiner Textkenntnis und seiner Vorstellungen von einem ‚mechthildischen Stil‘ konjiziert.813 Im Hintergrund dieses Vorgehens steht die Annahme, dass E zwar einen qualitätvollen, aber doch stilistisch reduzierten Text biete, den es im Blick auf das Original, auch wenn dies sprachlich nicht zu erreichen sei, zumindest zu bessern gelte.814 Die Visualisierung der in E vorhandenen und der hinter E vermeintlich zurückweisenden Kolonreime steht somit in engem Zusammenhang mit NEUMANNS textgeschichtlichen Prämissen815 und versteht sich als Hinweis auf den Personalstil Mechthilds.816

VOLLMANN-PROFE teilt die textgeschichtlichen Annahmen NEUMANNS, zieht hieraus für ihre Ausgabe jedoch andere Konsequenzen.817 Sie argumentiert, dass die offensichtliche, da in vielen Fällen leicht zu behebende Vernachlässigung des Reimschmucks in E darauf hinweise, dass „er den Übersetzern ins Oberdeutsche gleichgültig war“.818 Entsprechend ihrem Fokus auf die Materialität von E übernimmt sie NEUMANNS Reimrekonstruktionen nicht und verzichtet darüber hinaus auch auf die Kennzeichnung der in E vorfindlichen Reime.

Neuerdings hat BALáZS NEMES den Beweiswert der Reime für die textgeschichtliche Rekonstruktion und damit auch für den Personalstil der ‚Autorin Mechthild‘ kritisch hinterfragt. Er legt dar, dass die in der lateinischen und zum Teil auch deutschen Parallelüberlieferung819 im Vergleich mit E bisweilen konsequentere Handhabung des Kolonreims nicht notwendig Ausweis eines stilistischen Defizits in E sein muss, sondern ebenso gut den jeweiligen Bearbeitern zuzutrauen ist, die stilistische Tendenzen ihrer jeweiligen Vorlagen aufnehmen und fallweise produktiv entfalten.820 Das, was Neumann aufgrund der gesamten deutsch-lateinischen Überlieferung als ‚mechthildischen‘ Stil auffasste und dem Original zuschrieb, wäre in dieser Perspektive lediglich die Summe von Stileigenschaften, die sich am Ende eines diachronen Prozesses aus einzelnen Überlieferungszeugen bilden lässt. Der Stil des Fließenden Lichts wäre dem zufolge eine variable und dynamische Größe, der an den verschiedenen Punkten der Überlieferung jeweils unterschiedlich realisiert wird. Dabei wird man mit den verschiedensten Varianten einer solchen dynamischen Arbeit am Stil zu rechnen haben: mit konservativer Bewahrung ebenso wie mit vernachlässigender Gleichgültigkeit oder eben auch mit produktiver Intensivierung.

Die Untersuchung der rhetorischen Funktionen, ästhetischen Wirkungen und ggf. poetologischen Implikationen des Stilphänomens der Kolonreime für den Text des Fließenden Lichts hat der vorstehenden kritischen Einwände eingedenk zu sein und die Grundlage der Argumentation vorab zu präzisieren. Ihre Prämissen lauten:

– Grundlage der Untersuchung ist der in Handschrift E überlieferte und von Gisela VOLLMANN-PROFE edierte Text. Analysiert und interpretiert werden Reime, die in Handschrift E erhalten sind.821

– Untersucht wird somit ein Stilphänomen, wie es sich im einzig vollständigen, gleichwohl späten Überlieferungszeugen des Fließenden Lichts zeigt. Die Reich weite der Aussagen muss zunächst auf diesen beschränkt bleiben. Ob das Fließende Licht in den E vorausliegenden Fassungen ebendiese, mehr und sogar weniger Reime aufwies und von welcher exakten klanglichen Qualität diese waren, darüber können keine verlässlichen Aussagen getroffen werden.822 Es wird jedoch auf der Basis der überlieferten Textzeugen angenommen, dass die Kolonreime in E an eine stilistische Tendenz anknüpfen, die auch die vorausliegenden Fassungen des Textes kennzeichnete.

– Welcher Textinstanz die Reime in E zuzuschreiben sind, muss ebenfalls offen bleiben. Entsprechend kann es nicht darum gehen, Aussagen über einen Personalstil zu treffen – auch wenn der Titel des Beitrags dies aus rhetorischen Gründen behauptet –, sondern Ziel kann es allein sein, die Praxis der Reime in E als punktuelle Realisierung eines dynamisch zu denkenden Werkstils in progress zu beschreiben.

3  Verwendung und rhetorische Funktion der Kolonreime im Fließenden Licht

Zum Vorkommen des Kolonreims im Fließenden Licht gibt es bislang keine systematischen Untersuchungen, es liegen lediglich zwei Beobachtungen hierzu vor, die beide auf MOREL zurückgehen.823 Die erste besagt, dass Kolonreime vor allem zum Ende eines Kapitels gehäuft auftreten und dort „gegebenenfalls rhythmisch gebunden, in (relativ) regelmäßigen Versen […] enden“.824 Ein Beispiel hierfür bietet der Schluss des Kapitels I,2:

Disen gruos mag noch muos nieman enpfan, er si denne úberkomen und ze nihte worden. In disem gruosse wil ich lebendig sterben. Das moegen mir die blinden heligen niemer verderben, das sint die do minnent und nit bekennent. (I,2; 24,6–9)825

Diesem Abschnitt geht ein Kapitel in Prosa voran, das unregelmäßig verwendete Kolonreime aufweist, die sich in den beiden letzten Sätzen zu zwei Reimpaaren verdichten. Ähnlich zeigt dies auch das Kapitel I,5, das mit dem Reimpaar endet: „Dise qwale muesse dich bestan, niemer muessest du ir entgan!“ (I,5; 28,23 f.). In Kapitel I,22 wird ein Dialog zwischen der Seele und Maria durch einen Satz mit dreifachem Tiradenreim beschlossen:

Eya, darnach [nachdem Maria die Kinder Gottes bis zum Jüngsten Tag an ihrer Brust gestillt hat, C. E.] soellen wir bekennen und sehen in unzellicher lust die milch und ovch die selben brust, die Jhesus so dikke hat gekúst. (I,22; 44,1–3)

NEUMANNS Ausgabe restituiert den Rückumlaut in gekúst,826 aber auch ohne diesen Eingriff ist die klangliche Hervorhebung des Satzes durchaus wahrnehmbar. Die Beispiele ließen sich leicht vermehren.827

Die Funktion des Prosareims ist in diesen Fällen vergleichsweise konventionell. Zum einen verleiht er dem jeweiligen Abschnitt durch den Gleichklang und die Rhythmisierung der Syntax ein hörbares Ende.828 Zum anderen vermag er – insbesondere wenn es sich um resümierende Aussagen handelt – zentrale Stichworte des Kapitels hervorzuheben, so etwa im letzten Beispiel, dessen Dreireim lustbrust und gekúst auf die Figur der die Christenheit tränkenden Maria lactans zielt, die in diesem Kapitelzentral ist.829 Die Memorierbarkeit als eine der Kernleistungen des Reims arbeitet in diesen Fällen einer Memorierbarkeit der Inhalte zu.

Aufschlussreicher ist eine zweite dominante Verwendung des Kolonreims, die ebenfalls MOREL beobachtet hat: Er notiert, dass reimende Partien insbesondere dort zu finden seien, „wo Personen redend eingeführt werden.“830 Und in der Tat lässt sich zeigen, dass der Kolonreim ein Stilmittel des dramatischen Dialogs ist. Schon das erste Kapitel des ersten Buches, ein Dialog zwischen Minne und der als kúneginne apostrophierten Seele, macht dies deutlich.831 Hier sind jeweils der Redeimpuls der Seele und die Antwort der Minne durch Reim verbunden.832 Ganz grundsätzlich wird so die dialogische Bezogenheit der Aussagen betont. Besonderes Profil gewinnt dieses Verfahren jedoch dort, wo der Dialog zu einer dialektischen Verlust-Gewinn- Bilanz für die Seele wird: So steht dem Verlust der unschuldigen Kindheit der Gewinn der himmlischen Freiheit gegenüber (kintheitvriheit, I,1; 18,28 und 30), dem Verlust der Jugend der Gewinn heiliger Tugenden (jugenttugent, 20,1 und 3), körperlichen Gebrechen (krankheit) der Gewinn von Erkenntnis (bekantheit, 20,11 und 13). Die kör- perliche Aufopferung erwirkt der Seele schließlich die Aufnahme bei oder in Gott (bluotgot, 20,14 und 16). Auch der energischen Bitte der Seele, die Minne möge diese Verluste noch einmal aufwiegen, wird im Reim entsprochen, wenn sich die Minne der Seele selbst anbietet (geltenselben, 20,18 f.). Der abschließende Sprecherwechsel setzt schließlich der ausgeglichenen Bilanz in ertriche (20,20 f.) die Gewinne im Reich Gottes entgegen (got und alles sin riche, 20,22 f.). Der Endreim bindet hier nicht nur die Sprecherwechsel von Seele und Minne aneinander, sondern pointiert über die Reimworte auch die Dialektik der Positionen.833

In anderen Fällen ist die Verwendung des Kolonreims in direkten Reden zunächst einmal schlichter: Der Reim fungiert dann vor allem dazu, die Aussage eines Sprechers zu einer semantischen Einheit zu binden. Diese Praxis eines paradigmatischbindenden Reimgebrauchs lässt sich am Beispiel des Dialogs zwischen der Minne und der stumpfen Seele in Kapitel II,23 zeigen.834 Komplexer wird sie hier dadurch, dass bisweilen ein Stichwort aus der vorhergehenden Rede aufgenommen und für die Reimbindung der Folgerede produktiv gemacht wird: Die paradigmatisch-wiederholende Funktion des Reims wird auf diese Weise für die syntagmatische Verknüpfung der Sprecherbeiträge fruchtbar gemacht.835 Der Dialog II,23 macht sich diese beiden komplementären Prinzipien zunutze, indem er mit ihnen statische Beharrung oder aber dynamische Entwicklung im Dialoggeschehen unterstreicht. Auf die Aussage der Seele, sie sei durch ihr geistliches Leben und die asketischen Praktiken ausreichend auf das Bemühen um Sündenfreiheit verpflichtet (ich bin ane hovbtsúnde, ich bin gnuog gebunden, II,23; 114,32 f.), antwortet die Minne, indem sie das Stichwort der Bindung aufnimmt und mit dem Reimwort gedanklich weiterentwickelt:

Was hilfet, das man ein ital vas vil bindet und das der win doch us rinnet? So muos man es fullen mit steinen der uswendigen arbeit und mit eschen der vergenglicheit. (II,23; 116,1–3)

Die uneinsichtige, renitente Seele beharrt zunächst auf ihrer bisherigen Ausrichtung auf irdische mage und geistliche vrúnde, greift jedoch mit ihrer Frage nach der Erkenntnis Gottes die Einwände der Minne auf. Hörbar wird diese Einlassung auf die Gegenposition durch die Wiederaufnahme des durch binden und rinnen eingeführten Klangkomplexes:

Ich wonen in der wollust miner mage und miner lieben geistlichen vrúnden, und wie moehte ich den lustlich minnen, den ich nit erkenne? (II,23; 116, 4–6)

Die rhetorische Gegenfrage der Minne weitet den Paarzum Tiradenreim. Dabei macht sie den direkten Bezug zur Rede der Seele durch den grammatischen Reim besonders wahrnehmbar: „Owe, kanst du den herren nit erkennen, den man dir so dikke lieplich nemmet?“ (II,23;116,7 f.). Im Anschluss hieran formuliert sie ihren zentralen Vorwurf an die stumpfe Seele: „Du bist me bekúmbert mit dinem huntlichen lichamen denne mit Jhesu, dinem suessem herren; des gewinnestu vor sinen ovgen niemer ere“ (II,23; 116,8–10). Im Zusammenhang des Redebeitrags fällt dieser Vorwurf aus den klanglich gebundenen Aussagen von Anfang und Schluss (erkennennemmet; herrenere) heraus, denn lichamen erhält hier fürs Erste kein Reimwort. Die Schwere des Vorwurfs wird so durch die klangliche Sonderstellung des Wortes unterstrichen. Zugleich bewirkt der Vorwurf eine Verhärtung der Dialogpositionen, die das Prinzip einer klanglichen Verknüpfung der Sprecherbeiträge ganz aufgibt. Beide Sprecherinnen formulieren je einen durch Kolonreim gebundenen, apodiktischen Satz. Die kontrastive Klanglichkeit beider Aussagen hebt dabei ihre inhaltliche Gegensätzlichkeit hervor:

[Stumpfe Seele] „Ich leben mines eignen willen, das ich den gerne vollebringe.“

[Minne] „Wiltu got rehte trúwe leisten, so soltu in siner liebin volgen sinem geiste.“ (II,23; 116,11–14)

Die Gegenrede der Seele gibt die Reimbindung ganz auf.836 Die völlige Reduktion aller geistlichen Ambitionen stellt einerseits einen denkbar großen Gegensatz zu den Forderungen der Minne dar. Andererseits ist dieser Moment des stärksten Gegensatzes aber auch der der größten Übereinstimmung, denn die Seele schreibt sich den Vorwurf der Minne jetzt aus eigenen Stücken zu: Die Wiederholung des Leitstichworts lichamen, das in beiden Einzelreden zunächst klanglich erratisch bleibt, macht diese Verbindung trotz der Weiträumigkeit deutlich. Mit der Antwort der Minne erreicht der Dialog dann seinen Umschlagpunkt:837 Der programmatische Tiradenreim (schammennamenlichamen) nimmt die bisherige Reimpraxis wieder auf und knüpft zudem an das vorausliegende Kolon an. Zugleich wird die im Stichwort lichamen symbolisierte Selbstverhaftetheit der Seele in der klanglichen Engführung der Reimworte sowohl mit ihrem Gegenkonzept, dem (geistlichen) namen, konfrontiert als auch sozialmoralisch bewertet (schammen). Diese gleichermaßen argumentative und klangliche Einbindung des Leitstichworts lichame scheint seine geistliche Bewertung für die stumpfe Seele allererst wahrnehmbar zu machen: Jedenfalls nimmt ihr weiterer Weg zu Einsicht und Umkehr von diesem Passus seinen Ausgang.838

Die beiden Beispiele machen deutlich, dass die Verwendung der Kolonreime im Fließenden Licht zwar ungleichmäßig, aber nicht unsystematisch erfolgt. Aus der Perspektive rhetorischer Stilistik kommen dem Reimschmuck präzise Funktionen zu, indem er dazu beiträgt, semantische Zusammenhänge, syntagmatische Verknüpfungen und kontrastive Positionen zu pointieren.

4  Reim als stimmlicher Klang: Zur ästhetischen Wirkung der Kolonreime

Über die Befunde zu den konkreten rhetorischen Funktionen der Kolonreime hinaus ist im Sinne der Ausgangshypothese zu fragen, ob sich ein poetisches Prinzip benennen lässt, das die ästhetische Wirkung der Reime beschreibt. Der Vorschlag hierzu lautet, dass die Reimauszeichnung direkter Rede vorrangig darauf zielt, den sprachlichen Äußerungen der Sprecher eine sinnlich wahrnehmbare, stimmliche Qualität zu verleihen. Der Endreim im Fließenden Licht wäre damit als Möglichkeit aufzufassen, die klangliche Qualität von Stimmen auf eine Weise wahrnehmbar bzw. hörbar zu machen, die sich auch im schriftlichen Text fixieren lässt.

Dieses mit den Kolonreimen verbundene ästhetische Programm zeigt sich etwa am Schluss von Kapitel II,2. Dort wird besonders deutlich, dass Reime im Fließenden Licht stimmlichen Klang symbolisieren. Im Verlauf von Kapitel II,2 kommen die beiden oben skizzierten Verwendungszusammenhänge für Kolonreime zur Deckung, insofern hier, wie häufiger im Fließenden Licht, eine Aussage in direkter Rede das Kapitel beschließt.839 Kapitel II,2 bietet laut Überschrift zwei[…] liederen der minne (II,2; 76,12 f.). Zwei Lieder, besser: Strophen, lassen sich allerdings nur durch die Umstellung der folgenden Überschrift im Text von E generieren.840 Die zweite dieser Strophen ist eine Klage der Seele, die in einen Dialog mit dem Heiligen Geist einmündet. Er trägt ihr auf, sich zur Vorbereitung auf die Ankunft ihres Geliebten zu waschen, zu begießen, das Lager zu bereiten und Blumen zu streuen. Die Antwort der Seele ist zugleich der Abschluss des Kapitels. Sie beginnt in Prosa, die durch vier parallele Bedingungssätze strukturiert ist, und geht dann in rhythmische Reimprosa über, die man auch als Verse auffassen kann:

Wen ich wúsche, so muos ich mich schamen, so ich begússe, so muos ich weinen, so ich betten, so muos ich hoffen, so ich bluomen briche, so muos ich minnen. Swenne min herre kumt, so kum ich von mir selben, wan er bringet mir so mangen suessen seitenklang, der mir benimet allen mines fleisches wank, und sin seitenspil ist so vol aller suessekeit, da mit er mir benimet alles herzeleit. (II,2; 78,23–29)

Dieser abschließende Sang der Seele bildet das inhaltliche und formale Gegenstück zur vorherigen Liebesklage, mit der die Seele ihr Leid auf Grund der Abwesenheit des Geliebten zum Ausdruck bringt.841 Unter Anleitung des Heiligen Geistes findet die Seele ins musikalische Medium zurück, diesmal in hoffender Erwartung des Geliebten. Sie setzt damit jenes Programm des Singens und Liebens um, das sie in der Klage in loser Anlehnung an den Minnesang formuliert hatte: Die nahtegal dú muos ie singen, / wan ir nature spilet von minnen al; / der ir das beneme, so were si tot (II,2; 78,10–12). Rhythmus und Klang ihrer abschließenden Hoffnungsverse verweisen aber nicht nur zurück auf die überwundene Form der Klage, sondern deuten auch voraus auf die ebenfalls musikalisch medialisierte Ankunft des Geliebten, dessen suesser seitenklang das herzeleit der klagenden Seele für immer tilgen kann. Die Stimme der Sprecherin nimmt dabei den instrumentalen Klang der Ankunft des Herrn in ihren Reimen vorweg, so dass die Botschaft im Medium der Aussage bereits enthalten ist.842

5  Fazit: Stimmlicher Klang als wechselseitige beruerunge der Sprecher

Das gewählte Beispiel legt den Verdacht nahe, der Einsatz von Kolonreimen im Fließenden Licht sei ein Merkmal der ersten Bücher: Als poetisches Verfahren zur Auszeichnung klanglicher Stimmqualität flankiere und ergänze es dort die Vielfalt lyrisch-hymnischer Formen und die expressive, brautmystisch konnotierte Liebessprache.843 Das ist einerseits richtig, insofern die ersten Bücher besonders dialog- und damit stimmreich sind; andererseits aber ist eine solche Annahme verkürzend, denn Kolonreime finden sich ebenso in den späteren Büchern, denen man mit Gründen einen gesetzteren ‚Altersstil‘ zuschreibt.844 Auch hier markieren sie vielfach den stimmlichen Klang einzelner Figurenreden. Dass die Verwendung der Kolonreime nicht auf den brautmystischen Diskurs der ersten Bücher beschränkt ist, sondern sich auch auf jene Passagen erstreckt, in denen die minnende Seele die Nähe zu Gott aufgibt und in einem Akt selbstgewählten Absinkens größtmöglichen Abstand von ihm sucht, macht das Kapitel IV,12 augenfällig. Es beschreibt den Abstieg der Seele in die Finsternis der Gottferne, der gottes vroemdunge.845 Der Abstieg wird durchgehend von dialogischer Interaktion mit verschiedenen Gesprächspartnern (u. a. den creaturen, Gott selber, dem ungelovben, der pine) begleitet, die der Seele beständige Reflexion und als Boten immer wieder auch den Kontakt zu Gott ermöglichen. Die Reimverwendung in diesem Kapitel ist sehr uneinheitlich. Konsequente Markierung direkter Rede ist nicht zu beobachten, neben gelegentlichen Reimen intensiviert sich der Reimgebrauch jedoch in einzelnen Sprecherbeiträgen,846 so auch in der abschließenden Rede der Seele, in der sie zunächst die „selige gotz vroemdunge“ (IV,12; 264,24) apostrophiert, von der sie zuvor ganz umfangen wurde (IV,12; 262,15 f.):

Eya, selige gotz vroemdunge, wie minnenklich bin ich mit dir gebunden! Du stetigest minen willen in der pine und liebest mir die sweren langen beitunge in disem armen libe. Swa mitte ie ich mich me zuo dir geselle, ie got grossor und wunderlichor uf mich vallet. (IV,12; 264,24–28)

Die Seele umkreist hier das Paradox, dass Gott sie trotz ihrer zunehmenden, willentlichen Entfernung von ihm immer mehr überwältigt.847 Zwar nimmt die Gottferne die Stelle des göttlichen Geliebten ein, festigt ihren Leidenswillen und macht ihr das Ausharren im irdischen Körper angenehm. Aber gerade der liebevolle Umgang mit der gottes vroemdunge bewirkt doch nur, dass Gott umso grossor und wunderlichor über die Seele herfällt.848 Die Seele, die sich bislang gegen jeden Versuch der Tröstung verwahrt hatte, erkennt, dass sie Gottes Liebe nicht entkommen kann:

O herre, ich kan dir in der tieffi der ungemischeten diemuetekeit nit entsinken; ovwe ich dir in dem homuote lihte entwenke! Mere ie ich tieffer sinke, ie ich suessor trinke. (IV,12; 264,28–31)

Auch die Erkenntnis, dass man sich zwar von Gott im Hochmut entfernen, ihm aber nicht in Demut verloren gehen, entsinken, kann, mündet in ein Paradox: Die absin- kende Entfernung von Gott, der Verlust seiner unmittelbaren, liebenden und tröstenden Nähe, ist zugleich als körperliche Inkorporationserfahrung ein ästhetischer, süezzer Gewinn.849

Die sprachliche Form der Seelenrede, der Adressatenwechsel von der vroemdunge gottes hin zu Gott selbst und die Reimauszeichnung, arbeitet diesem paradoxalen Gottesverhältnis der Seele zu. Die Assonanzen und Reime wiederholen nicht nur die Leitstichworte des Kapitels (vroemdungebeitunge; pinelibe; entsinken – entwenken), sie pointieren auch die Paradoxe (gesellevallet; tieffer sinkesuessor trinke).

Schließlich hebt der Eingangsreim vroemdungegebunden sowohl auf der Wort- als auch auf der Klangebene die verbindende Funktion der Sprache selbst hervor:850 Denn die Rede der Seele transformiert nicht allein eine gewonnene Einsicht in sprachliche Zeichen, vielmehr erweist sich deren klanglich-symbolische Vermittlung als das eigentliche Kontaktmedium zu Gott. Die durch Reimklänge in ihrer Stimmlichkeit ausgezeichnete Sprache der Seele korreliert mit der auch in der selbstgewählten Entfernung von Gott erfahrenen, unendlichen Liebe. Sofern die Seele nur ihre Stimme erklingen lässt, vermag sie einen unmittelbaren Kontakt zu Gott herzustellen;851 sie berührt ihn, so wie sie sich im Gegenzug durch seine Stimme rüeren lässt.852 Die Reimbindung macht insofern akustisch wahrnehmbar, dass die Seele und Gott einander auch in der größten Entfremdung über den Klang ihrer Stimmen verbunden bleiben.

Diese Auffassung des stimmlichen Klangs als Medium wechselseitiger Berührung von Gott und Seele stützt ein Abschnitt desselben Kapitels, in dem eine IchStimme, die vermutlich mit der Figur der Seele zu identifizieren ist, davon spricht, sie sei unwürdig, Gott zu loben.853 Stattdessen sendet sie alle Geschöpfe an seinen Hof, damit sie

got fúr mich loben mit aller ir wisheit, mit aller ir minne, mit aller ir schoeni und mit aller ir gerunge, als sie unverboeset von gotte waren geschaffen, und ovch mit aller ir stimme, als sie nu singent. (IV,12; 260,2–5)

Angesichts dieses umfassenden ästhetischen Gotteslobs empfindet die Seele zwar keinen Schmerz (IV,12; 260,6). Nachhaltig berührenden Trost vermag ihr jedoch nur der Geliebte selbst zu stiften,854 für den seinerseits gilt: „Got hat alles dinges genuog, sunder alleine der beruerunge der sele wirt im niemer genuog“ (IV,12; 260,10–12). Der perfekte Lobgesang der reinen, liebenden creaturen kann trotz seiner Schönheit somit nicht ersetzen, was für das Fließende Licht als das Proprium der (unwürdigen) min nenden Seele gelten muss: mit Gott in dialogischen Kontakt zu treten, der als sprachlicher vor allem auf die wechselseitige Berührung der Stimmen setzt.855

Die Kolonreime erfüllen im Fließenden Licht demnach nicht nur ganz spezifische rhetorische Funktionen in der dialogischen Interaktion, sie verleihen dem Text darüber hinaus eine ästhetische Dimension, indem sie die klangliche Qualität dialogisch verbundener Stimmen allererst sinnlich wahrnehmbar machen.856 Dabei lassen sich die Beobachtungen zur Reimverwendung gerade nicht mit der Frage nach den lyrischen Formen im Fließenden Licht verrechnen; im Gegenteil: Es könnte vielmehr lohnend sein, weiter darüber nachzudenken, ob über den Gebrauch von Anapher und Endreim nicht präziser als bislang angenommen zwischen dezidiert hymnischen Formen und Reimprosa unterschieden wird. Dass die Reimprosa dabei partiell in metrisch gebundene Reimverse übergehen kann, muss zu dieser Unterscheidung nicht im Widerspruch stehen. Reimverse sind zunächst einmal ein weiteres Ausdrucksmedium im Rahmen jener generischen Vielfalt, die Schreib- und Sprechweisen des Fließenden Lichts auszeichnet, freilich eines, das der dialogischen Reimprosa näher steht als der anapherierenden Apostrophe des Hymnus. Insofern wäre zu prüfen, ob der endreimende Vers im Fließenden Licht intertextuell nicht vor allem auf die reimenden Formen volkssprachlichen Sangs zu beziehen ist, während der anapherierende Vers auf biblische und liturgische Prätexte wie Psalter und Hymnus verweist.857 Entscheidend aber ist, dass alle drei Verfahren (anapherierende Verse, Prosareim, Reimvers), unabhängig davon, welchem generischen Diskurs sie zuzuordnen sind, die im Text vernehmbaren Stimmen poetisch aufwerten und auf diese Weise einer klanglichen Intensivierung des Textes zuarbeiten. In dieser Perspektive sind Reim und Anapher weder rein äußerlicher Ornat, noch Stilmittel, die allein rhetorische Funktionen erfül len. Mit der Auszeichnung stimmlichen, sanglichen und hymnischen Klangs symbolisieren sie vielmehr die dem Dialog der Stimmen verpflichtete Poetik des Textes.858

Dass eine solche dialogische Klangpoetik nicht nur philologisches Konstrukt ist, sondern schon von den historischen Rezipienten des Textes wahrgenommen wurde, lässt sich einer Äußerung Heinrichs von Nördlingen entnehmen, die in einem Brief an die Medinger Nonne Margaretha Ebner dokumentiert ist.859 Heinrich schickt Margaretha die obd. Bearbeitung des Fließenden Lichts, mithin eine Fassung, die hinsichtlich der klanglichen Qualität im Vergleich mit der niederdeutsch-mitteldeutschen Vorlage gravierend verändert worden sein dürfte.860 Der ästhetischen Wirkung des Textes kann dies in den Augen und Ohren Heinrichs keinen Abbruch getan haben,861 denn er bittet Margaretha, sie möge vor ihrer Lektüre dem Heiligen Geist, Gott und Maria Gebete entrichten, insbesondere aber sieben Paternoster und sieben Ave Maria sprechen für jene „junckfrouliche[] himelsche[] orgelkunigin, durch die got ditz himelschs gesang hat usz gesprochen“.862