Volker Mertens

‚Musikalischer Stil‘ in mittelalterlicher Literatur

Musikalität wird vielen literarischen Texten zugeschrieben – Gottfrieds von Straßburg Tristan,863 Clemens Brentanos Liedern,864 Rainer Maria Rilkes Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke,865 Thomas Manns Romanen.866 Viele Werke lassen sich aufführen, wenig Einheitliches findet man, was denn nun ‚Musikalität‘ sei. Ist es eine besondere Klanglichkeit, geht es um Melodisches und Rhythmisches wie bei den genannten Lyrikern? Intensiviert sie die Aussage durch lautsymbolische Klanglichkeit, das irisierend verführerische lange ‚i‘, wie es Goethe im Erlkönig tut?

‚Du liebes Kind, komm, geh mit mir!
Gar schöne Spiele spiel’ ich mit dir.867

Macht sich Arthur Rimbaud über solche Bedeutungsklänge lustig?

A noir, E blanc, I rouge, U vert, O bleu, voyelles,
Je dirai quelque jour vos naissances latentes.868

Welche ,Latenzen‘ werden offen gelegt, wenn wir die Klangdimension eines Textes mit der Stimme oder klingend im Kopf reaktivieren und nicht schriftfixiert eine bedruckte Seite stumm anstarren?

Oder geht es um eine, wie man annimmt, der Musik eigentümliche Bauart? Ist Musikalität also ein textstrukturierendes Mittel wie der Reim in Vers und Strophe?

Zwei Bedeutungsdimensionen von ‚Musikalität‘ zeichnen sich ab: eine klangbezogene und eine strukturbezogene, wobei, wie ich zeigen will, auch der Klang strukturbildend wirkt. Ich schließe jedoch die metaphorische Bedeutung von ‚Leitmotivtechnik‘ mit stehenden Redewendungen, Beiwörtern oder Charakterisierungen aus, wie Thomas Mann sie liebt, denn das ist keine spezifisch musikalische Technik. Entsprechendes gilt für Versuche, Erzählstrukturen mit musikalischen Termini zu bezeichnen.869 Ich grenze daher im Folgenden ein, verstehe ‚musikalischer Stil‘ als vokale (oder virtuelle) Klanglichkeit, also das, was man (reine) Oberflächenphänomene nennen könnte, was sie aber, wie zu zeigen sein wird, nicht sind. Ich nutze den Zugang, den der linguistische Stilbegriff eröffnet, leite also spezifische Bedeutungen des Klangs aus der Textgestalt ab. Die betrachtete Klanglichkeit bewirkt nicht allein die Entfaltung eines (Teil-)Sinns in der Performanz (wie im Fall des Erlkönig-Zitats), sondern schafft ebenso eine Strukturierung des sprachlichen Ablaufs. Ich grenze mich allerdings ab von weitgehenden semantischen Aufladungen des Klangs als „Erkenntnisweg“ zu den „orphischen“ höchsten Bedeutungen, wie sie ANNA SZIRÁKY für Gottfrieds Tristan unternimmt.870

Klanglichkeit steht, wie eingangs angedeutet, der Performanz nah; diese aktualisiert die Stimme in der Schrift, privilegiert damit das (innere) Ohr vor dem Auge. Diese Performanz kann, aber muss nicht vokal realisiert sein,871 sondern kann auch mit der ‚inneren Stimme‘ erfolgen im Sinn einer spezifisch performativen Frömmigkeitspraxis des canere sub silentio im hochmittelalterlichen Mönchtum.872 Die ‚innere Stimme‘ hatte eine höhere Selbstverständlichkeit in einer ‚gemischten Medialität‘, die auch für die Literatur des hohen Mittelalters gilt, wo der mündliche Vortrag von Lyrik noch selbstverständlich und der von Epik zumindest noch möglich war. Konrad von Würzburg spricht im Prolog des Partonopier von edele[n] doene[n] und edele[m] wort (V. 111)873 sowie von sanc unde süeze[r] rede (V. 159) und vergleicht sich im Trojanerkrieg mit der sonst als lyrischer Sängerin codierten Nachtigall.874

1 Gottfried von Straßburg: Kontingenz der Liebe

Gottfrieds auffälliger Einsatz klanglicher Mittel hat ihm immer wieder den Ruf eingetragen, der ‚musikalischste‘ Dichter des deutschen Mittelalters zu sein.875 Bekannt ist zum einen der Einsatz klanglicher Mittel als Binnenreim, Vokalgleichklang und als Alliteration, zum anderen von Figura Etymologica und Annominatio, also der Verwendung eines Wortes in verschiedenen Flexionsformen beziehungsweise der Ableitung verschiedener Wortformen aus einer Wortwurzel. SZIRÁKY spricht im ersten Fall von Klangbrücken, im zweiten von Wortbrücken.876 Beide sind nicht nur äußerer Schmuck der Rede, sondern strukturieren sie auch, wie sich am Prolog zeigen lässt.

1.1 Prolog

Klangbrücken werden im Prolog vornehmlich und am deutlichsten wahrnehmbar durch die Reime gebildet. In den elf Strophen ist der ‚i-Reim‘ der häufigste. Er verbindet die Strophen 1; 3; 6; 9 und 11, bildet so neben Binnenkorrespondenzen auch den Rahmen. Der ‚a-Klang‘ schließt die Strophen 5 und 7 zusammen, der ege-Reim die Strophen 8 und 10.

1

Gedaehte mans ze guote niht,

3

Ich hoere es velschen harte vil,

6

Ere unde lop diu schepfen list,

9

Cunst unde nahe sehender sin

11

Trîbe ich die zît vergebene hin,

5

Tiure unde wert ist mir der man,

7

Rehte als daz dinc z'unruoche gât,
 

8

Ir ist sà vil, die des nu pflegent,

10

Hei tugent, wie smal sint dîne stege,

Schematisch sehen die Korrespondenzen so aus: 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11.

Die Wortbrücken (lautliche und lexikalische Nähe) sind ebenfalls klangliche Phänomene: man – als unbestimmtes Pronomen und als Substantiv – markiert die Verse 1; 5; 10; 12; 13; 17 und 19:

Gedaehte mans ze guote niht (V. 1)
Der guote man swaz der in guot (V. 5)
daz man doch gerne haben wil (V. 10)
dâ wil man, des man niene wil (V. 12)
Ez zimet dem man ze lobene wol (V. 13)
Tiure unde wert ist mir der man (V. 17)
der mich und iegelîchen man (V. 19)

Die Wortbrücke guot verbindet die Verse 1; 2; 4; 5 (zweimal); 6, dann, nach einer Lücke, Vers 17 sowie, wiederum unterbrochen, Vers 30 und 31:

Gedaehte mans ze guote niht (V. 1)
von dem der werlde guot geschiht (V. 2)
Der guote man swaz der in guot (V. 5)
und niwan der werlt ze guote tuot (V. 6)
swer daz iht anders wan in guot (V. 7)
der guot und übel betrahten kan (V. 18)
daz si daz guote z’übele wegent (V. 30)
daz übel wider ze guote wegent (V. 31)

werlt mit seinen Ableitungen zeichnet die Verse 2; 4; 6, dann 43; 44; 46; 49; 50; 55; 58 sowie 65 aus und bildet somit ebenfalls einen Rahmen.

All dies sind eher autonome Strukturierungen als semantische Auszeichnungen, denn das Thema man, guot, werlt, wie es bereits in der ersten Strophe aufgestellt wird, ist vergleichsweise banal. Wichtig erscheint mir vielmehr, dass der strophische Prolog nicht nur die Vierreime als klangliches Gliederungsmittel aufweist, sondern darüber hinaus weiträumig strukturiert ist. Die Musikalisierung wirkt also nicht nur auszeichnend und intensivierend. Zieht man vielmehr einen Vergleich aus der Musik heran, könnte man von formalen Strukturen wie in der Sonate sprechen, und zwar im Unterschied zur narrativ-semantischen im spätromantischen Kunstlied oder in der Wagnerschen Leitmotivtechnik. Um einen der Gottfriedzeit entsprechenden Vergleich zu bemühen, wäre das Rondeau zu nennen (so etwas singen beide Isolden: V. 8077;V. 19215): es handelt sich um eine Form mit vollständiger oder annähernder Wiederholung von Binnenzeilen (A), also: a A a b A b.

Später sind auch längere Formen bezeugt, die Binnenrefrains stehen mitunter an anderen Stellen. In meinem Zusammenhang interessiert nicht die Tatsache, dass die Refrainzeilen oft Sprichwortcharakter besitzen, Rondeaus daher so etwas wie ein Stegreifspiel mit vorgegebenem Material sein könnten, sondern dass Gleichklänge hier zur Strukturierung benutzt werden. Aus dem deutschen Minnesang ließe sich die Rundkanzone einführen mit der Wiederholung der letzten Stollen Distinktion am Schluss. Ein Beispiel dafür ist Walthers Palästinalied: a b a b / c d / b.877

1.2 Markes Maifest (V. 538–584)

Gottfried nutzt Klangbrücken nicht nur strukturbildend, sondern auch im Sinn einer euphonischen Lautsemantik wie im Fall von Markes Maifest, wo nicht nur die cleinen waltvogelin (V. 549), sondern auch die Verssprache des Dichters des ôren vröude sulen sîn (V. 550). Der Klang des Diphthongs ie V. 538/39; V. 546/47; V. 564; V. 569; V. 576; V. 581/82/83/84 geht von Beginn an durch, die Nasale und Liquide V. 557/58/59/60/61/62 bilden einen Cluster. Dadurch wird die Semantik von süeze und senfte verklanglicht. Darüber hinaus gibt es eine Klangund Wortbrücke, die allerdings sehr weit gespannt und daher unmittelbar nicht wahrnehmbar ist: Der locus amoenus der Minnegrotte wird mit der gleichen Klanglichkeit dargestellt; das primordiale Glück der Liebe, die jedoch dem Tod anheim gegeben ist, verbindet beide Stellen.

1.3 Das Liebesgeständnis878

Deutlich semantisch aufgeladen sind die Klangbedeutungen in den Bezügen von lameir. Isolde sagt, dieses Phänomen sei ihrer Leiden Ursache. Die drei Bedeutungen, die Tristan kennt: die Liebe, das Bittere und das Meer, verwirren ihn: der meine der dûhte in ein her (V. 11996). Isolde setzt den Klang eines Wortes ein, ohne zu erklären, welche Bedeutung sie mit ihm verbunden wissen will. Sie kann so ein indirektes Liebesgeständnis machen; für den Fall, dass Tristan ihre Gefühle nicht erwidert, braucht er bloß lameir als das Bittere (die Trennung von den Eltern und der Heimat) oder das Meer zu interpretieren und entsprechend zu antworten. Der Erzähler zeigt die Uneindeutigkeit des Sprachklangs, der drei unterschiedlichen Wörtern gemeinsam ist. Da dies an einem Wendepunkt der Handlung geschieht, darf man annehmen, dass der Autor hier programmatisch arbeitet und die Unzuverlässigkeit der Sprache aufzeigen will, und zwar speziell der klingenden und gesprochenen, denn l’amour, l’ameir und la mer werden im Schriftbild eindeutig unterscheidbar.

Über diese Programmatik hinaus wird ein wesenhafter Zusammenhang der drei Bedeutungen signalisiert: die Liebe ist einerseits bitter, andererseits umfassend und bedrohlich wie das Meer. Wer, wie Tristan, bewusst in sie einwilligt, tritt eine gefährliche Reise ins Ungewisse an. Damit suggeriert der Erzähler eine Verbindung mit Tristans erster Seefahrt, auf welcher der Held wîselôs auf dem Meer swebt (V. 7504–7508).

Die Klanglichkeit ist hier hermeneutischer Impuls, sowohl intradiegetisch für die Figuren, die erkennen könnten, was ihnen bevorsteht, als auch extradiegetisch für das innere Ohr des Lesers, der die angeführte Verknüpfung mit Tristans Meerfahrt, ja mit der Lebensreise schlechthin herstellen kann und soll.

Von den drei Dimensionen in den untersuchten Passagen – der strukturierenden Klangkorrespondenz, der Lautmusikalität (Klangmalerei) bei der Darstellung von Markes Maifest und dem hermeneutischen Impuls – ist es die dritte, die vielschichtig ist. Einmal wird durch die Polysemie des Klangs das Vertrauen in die denotative Potenz der Sprache gestört, dann werden durch die genannten programmatischen Verbindungen weitergehende Semantiken hergestellt.

Vergleichbares geschieht in den beiden Strophen am Ende des Prologs mit dem Reim brôt / tôt, wo ein eucharistisches Verständnis der Erzählung879 evoziert, wenn auch nicht direkt angesprochen wird.

Deist aller edelen herzen brôt.
hie mite sô lebet ir beider tôt.
wir lesen ir leben, wir lesen ir tôt
und ist uns daz süeze alse brôt. (V. 233–236)

 

Ir leben, ir tôt sint unser brôt.
sus lebet ir leben, sus lebet ir tôt.
sus lebent si noch und sint doch tôt
und ist ir tôt der lebenden brôt. (V. 237–240)

Zur semantischen Dimension der beiden Worte tritt die klangliche des wiederholten ‚ô-Lauts‘, die den Klang der Wandlungsworte hoc est enim corpus meum aufruft. Zu diesem Klangkomplex zählt der Reim von tôt auf Isôt.

diu junge künigîn Îsôt
daz sî ir leben unde ir tôt,
ir wunne unde ir ungemach
ze allerêrste gesach. (V. 9371–9374)

Tristan wird schließlich Isoldes Tod sein; das hat der Prolog vorausgesagt, und darauf wird mit der Wortbrücke hier Bezug genommen. Der Gleichklang von brôt / tôt / Îsôt ist also doppelt semantisiert: als Binnenbezug auf das Schicksal der Personen und poetologisch als Evokation der Aufnahme und Wirkung des Romans in modo sacramentali.

Weitere Beispiele für Polysemie sind nicht schwer zu finden, sie reichen vom intellektuellen Vexierspiel bis in die Tiefen des Werkes, der Liebesmystik und -mythik. Wenn in Vorausdeutung auf den Liebestrank Isolde als Tristans unverwânde amie, / sîn unverwantiu herzenôt (V. 11488 f.) bezeichnet wird, also als seine Geliebte, als die er sie nicht vermutete, und als seine ewig dauernde Herzensqual,880 so wird über die klangliche Beziehung eine inhaltliche gestiftet: die Liebe trifft Tristan und Isolde ohne den topischen Entstehungsprozess über die Augen in das Herz, sondern resultiert aus dem mythischen Trank, und sie hat eine immerwährende Qual zur Folge. Das ist eine Voraussage des Endes.

Gleichzeitig aktualisiert die Formulierung eine Wortbrücke zu den Versen 8271 und 8618. Die erste Stelle spricht von Tristans wân, Helena sei die schönste Frau, doch Isolde habe ihm diesen wân genommen: von dem wâne bin ich komen, / Isôt hât mir den wân genomen (V. 8271 f.). Die nächste Stelle erhält ihre Bedeutung dadurch, dass der Erzähler sich quellenkritisch (hie lispet daz maere, V. 8615) auf Tristans angebliche Fahrt nach wâne bezieht: das ist alwaere (V. 8616), denn Tristan wusste genau, wohin er wollte. In beiden Fällen ist das Wort wân mit Isolde verbunden – die Liebe aber ist unverwânet.

Ich will nur kurz auf die Polysemie des Namens Isôt in der Weißhand-Episode eingehen. Drei Frauen tragen diesen Namen: Tristans Heilerin, dann ihre Tochter, Tristans Geliebte, und schließlich die Weißhändige von Karke. In den fünfundvierzig Versen 19987–19032 kommt der Name Isôt 25 Mal vor. Es vermischen sich die Liebe und Ergebenheit zur blonden Isolde mit dem Begehren nach der weißhändigen. Indem Tristan dem Namen treu zu bleiben beabsichtigt, betrügt er beide Frauen, Liebestreue und Liebesverrat fallen in eins:

Swaz aber mîn ouge iemer gesiht,
daz mit ir namen versigelt ist,
dem allem sol ich alle vrist
liebe unde holdez herze tragen. (V. 19034–19037)

Hinweisen will ich noch auf die viel diskutierte Stelle, in der Tristan auf Brangänes Aussage reagiert, der Trank sei der Tod der Liebenden und der tranc, der dâ inne [dem glâsevaz] was, / der ist iuwer beider tôt (V. 12488 f.). Er antwortet:

dirre tôt der tuot mir wol.
solte diu wunneclîche Îsôt
iemer alsus sî mîn tôt,
sô wolte ich gerne werben
umbe ein êweclîchez sterben. (V. 12498–12502)

Brangäne meint die lebensgeschichtlichen und wohl auch die gesellschaftlichen Konsequenzen, den physischen und den sozialen Tod. Tristan greift ihr Wort tôt auf, reimt es auf Îsôt und aktualisiert neue Bedeutungsschichten: den geistlichen Tod, das Absterben von der Welt in mystischem Sinn und, mit sterben, eine erotisch-sexuelle Dimension (la petite mort, den Orgasmus), wie sie in antiken Texten (Properz, Apuleius, Ovid) mit dem Wort morire verbunden wird.881

Die Polysemie des Lautzeichens tôt, das durch die Klangbrücke mit den zitierten Passagen aus dem Prolog präsent war, umfasst die Kontingenz der Tristanliebe, die sich einer Einordnung in soziale und geistliche Ordnungssysteme verweigert, selbst die Überwertigkeit der erotischen Lust wird ironisch negiert, da diese ja nicht ewig dauern kann. Musikalität der Sprache besitzt also mehrere Dimensionen, die einander nicht ausschließen, sondern ergänzen.

Klanglichkeit wirkt selten allein als Ornatus der Rede, indem sie die Aussage lautsymbolisch verstärkt. Immer wieder strukturiert sie die Erzählung, zumeist kleinräumig durch Klangbrücken, die ihrerseits mehr oder weniger semantisch aufgeladen sind. Darüber hinaus wirken die Klänge als hermeneutischer Impuls, nicht ausgesprochene Bedeutungen herauszufinden. Am Rande sei bemerkt, dass meine untersuchten Beispiele, Klangwie Wortbrücken, nicht selten weite Räume überspannen. Sind die Pfeiler als tragende – und damit die Brücke – dann noch wahrnehmbar? Sie sind es nicht für den nur einmal hörenden Rezipienten, wohl aber für den Suchenden und Interpretierenden. Dieses Phänomen finden wir auch in der Musik, nicht nur der neueren Kunstmusik, wenn das Thema des ersten Satzes am Schluss des Finales einer Bruckner-Sinfonie wieder erklingt, sondern auch in der mittelalterlichen, wenn wir an lange Strophengebilde von 30 und mehr Zeilen denken, mit weit auseinander stehenden Reimklängen, die, im Unterschied zu meinen Beispielen, in der Regel keine Bedeutungsspender sind. Wenn wir an Lektüre (oder Vortrag) als Meditatio denken, dürfen wir entsprechende Verknüpfungsleistungen erwarten.

Musikalität der Sprache ist also einerseits strukturierend wie auch bedeutungstragend und bedeutungsstiftend, andererseits ist sie ein Sirenengesang, der den Hörer/Leser verlockt, den sicheren Boden der denotierten Bedeutungen zu verlassen und sich ins Ungewisse zu begeben. Karl Bertau hat einmal gemeint, durch Klanglichkeit würden Erzählfluss und Diskursivität „beschädigt“.882 Das erscheint mir eine zu negative Bewertung der entgrenzenden Wirkung des Klangs zu sein. Ich spreche von ‚Öffnung‘ des Sinns und Aktivierung der Sinnfindungspotentiale der Rezipienten.

Gegen ein derartiges Verständnis lassen sich die Erzählerreflexionen im Rahmen der ‚Literaturschau‘ über die Sprache anführen, die für eine Übereinstimmung von Bezeichnung und Sache eintreten: Dieses Postulat wird affirmierend an Hartmann von Aue (V. 4621–4637) und kontrastierend an dem „Hasenfreund“ (V. 4638–4690) ausgeführt. Doch sind die lûter[en] und reine[n], die cristallînen wortelîn (V. 4628 f.) wirklich Gottfrieds Ideal oder nicht eher eine platte und damit fragwürdige Transparenz? Immerhin scheint der Erzähler mit seinem Lob Hartmanns von seiner eigenen Poetik der Kontingenz abzulenken. Ulrich Wyss hat im Preis der Dichtung des Bligger von Steinach (V. 4691–4722) eine poetologische Aussage Gottfrieds vermutet, die sich – für die Zeitgenossen erkennbar – an einem erfundenen Werk festmacht.883 Hier wird die Zauberkraft der Dichtungsgabe beschworen, und hier fallen musikalische Termini: die Zunge des Dichters trägt die Harfe (V. 4705), wort und sin, also Zeichen und Bedeutung, gestalten auf diesem Instrument die Erzählung (V. 4507 f.). Die Narratio materialisiert sich also im harpfen, im Klang, im Zusammenspiel von Zeichen und Sache, nicht in planer Entsprechung, in der Transparenz des Kristalls, die er Hartmann zuschreibt.

Man wird die Ausführungen des Erzählers zur Sprache nicht als poetologische Thesen verstehen dürfen, sondern als Strategie, auf seine eigene Sprachverwendung als davon unterschiedene aufmerksam zu machen. Gewiss gibt es bei Gottfried die Konsonanz von Klang, Wortzeichen und Sinn, aber nicht weniger oft ist die Sprache daz guldîne lougen (V. 17542), und der Hörer/Leser ist aufgefordert, sich aktiv damit auseinanderzusetzen und Sinn nicht als gestifteten, sondern zu findenden aufzufassen. Die Poetik der Musikalität ist eine Poetik der Uneindeutigkeit und der Inzitation, einen individuellen Sinn zu finden. Musikalisierung bewirkt eine metakognitive Rezeptionshaltung, ein ‚seelisches‘ Einverständnis, das auf der rationalen Ebene gestört und somit als Appell wirksam wird. Musikalisierung schafft nicht – nur – eine schöne Oberfläche:

ez enheizet doch niht rehte spil,
daz man sus ûzen hin getuot
âne herze und âne muot. (V. 7534–7536)

Das rehte spil soll zum Zentrum des Romans, zur unrationalisierbaren Liebe, führen.

2 Albrecht: Empathie der Lehre

Mein zweites Beispiel stammt nicht von einem der Gottfried-Adepten wie Rudolf von Ems oder Konrad von Würzburg, sondern aus dem Gegen-Lager der Wolfram-Nachfolger: Es handelt sich um Albrechts Jüngeren Titurel.884 Ich will damit aufzeigen, dass musikalischer Stil nicht notwendig zum Ornatus facilis gehört.

Klanglichkeit ist ein evidentes Merkmal der Jüngeren-Titurel-Strophe, die sich in markanter Weise von Wolframs Form unterscheidet. In der ‚Zweiten Hinweisstrophe‘ wird dieser Vorgang thematisiert:

Rime die zwivalten. dem bracken seil hie waren
vil verre dann gespalten. dar nach, di lenge wol von funfzic jaren.
zwivalter rede waz ditz mær gesumet.
ein meister ist uf nemende, swenn iz mit tod ein ander hie gerumet. (1172A)885

Wolframs Strophe verfügte über zwei Reimklänge, die durch die Langzeilen vil verre dann gespalten (s. o.) waren, der nächste Reim stand nämlich erst nach einer reimlosen Halbzeile: xa | xa | b | xb.

Albrecht führt den Reim der Anzeilen sowie einen dritten Reim neu ein und weitet somit die klangliche Dimension beträchtlich aus: ab | ab | c | xc.

Neben dieser musikalischen Verdichtung wird im Jüngeren Titurel die metrische Freiheit der Wolfram-Strophe886 reduziert. Wolfram setzt beschwerte Hebungen zur Herausstellung wichtiger Wörter (als ‚akustischen Fettdruck‘) ein und die mehrsilbigen Senkungen geben den Versen den Charakter verkappter Prosa.887 Albrecht hingegen hat die Strophe reguliert, eine strenge Alternation eingeführt und die ursprüngliche Kadenzfreiheit zugunsten obligater zweisilbiger Reime aufgegeben. Dadurch werden die Sinn-Nähe von Sprache und Rhythmus minimiert, geradezu ein Zwang zur Klanglichkeit ausgeübt und das kognitive Kommunikationspotential deutlich reduziert.

Dies aber ist nicht vornehmlich dekorativen Bedürfnissen geschuldet, sondern Ergebnis einer gegenüber Wolfram veränderten Poetik der Lehre. Ich zeige das an einigen Beispielen:

Titurel-Strophe 4 beginnt mit der Rede des abdankenden Gralkönigs und einer Selbstcharakterisierung, die zugleich eine Mahnung an die jüngere Generation ist, diese Werte fortzuführen:

Mîn sǽldè, mîn kíuschè, mit sínnèn mîn stǽtè,
und op mîn hant mit gâbe unt in stürmen ie hôhen prîs getæte. (Tit., 4)

Die Wörter sǽdè, kíuschè, sínnèn, stǽtè sind durch die angeführten beschwerten Hebungen hervorgehoben; so macht der Rhythmus die Aussage deutlich. Albrecht arbeitet diese Strophe folgendermaßen um:

Min sælde, diu hoch gezilte, min kimagesch, min sin der stæte,
und ob min hant durch milte oder in sturm ie hohen pris getæte. (JT, 615,1 f.)

Die plakative Aufzählung wird semantisch verdünnt durch die reimbzw. metrumbedingten Hinzufügungen diu hoch gezilte sowie min sin [der stæte].888 In der nächsten Strophe wird die Aussage durch Wiederholung geschwächt, aber durch Wortbrücken klanglich intensiviert: Min kimagesch und ouch min stæte durch werder wîbe grimagezen (JT, 616,1).

Diesem Beispiel entspricht das folgende: Owê, mínne, waz touc dîn kráft únder kinder (Tit., 49). Die Hervorhebung von mínnè und kráft wird aufgegeben und eine Umschreibung eingeführt: Ey minne, diner krefte rat, waz toug der under kinder (JT, 712,1). Untypisch ist hier die einsilbige Kadenz der Anzeile (rat), sie repräsentiert nur etwa ein Prozent der Kadenzen, die weit überwiegende Mehrzahl ist zweioder, nicht ganz so oft, dreisilbig. Letztere sind im Rahmen der höfischen Dichtung ungewöhnlich. Sie werden zumeist vom Partizip Präsens gebildet und substantivisch, adjektivisch oder als Prädikativum eingesetzt. Das gibt es schon bei Otfrid und im Ludwigslied, im Nibelungenlied kommt sie sehr gelegentlich vor, sehr selten sind sie im Tristan (V. 5511 und V. 8422) und im Parzival. Sie passen also eigentlich nicht zum niuwen Parzival, den Albrecht zu verfassen beabsichtigte.

Die Folge ist, dass gut die Hälfte aller verbalen Fügungen komponiert ist, die finite Verbform hingegen gemieden wird. Albrecht setzt häufig die Spreizstellung der beiden Komponenten des Prädikats ein:

da zimage hab ich in schif und bruk enpfimageret,
straz unde pfat verirret, immer all ir verte ungerimageret. (JT, 19,3 f.)

Dadurch kann, wie im genannten Beispiel, die Syntax überschaubar werden. Das ist jedoch keineswegs immer der Fall, nicht selten ist sie weder beim Hören noch beim Lesen leicht zu erkennen:

Sant Peter unrecht vorchte do kunde wol vermiden,
diu im e zwivel worchte. di vorchte noch vil mangen kan versniden
und unrecht lieb, als ich hie vor was jehende.
ware minne und rehte vorhte di mimagez uns timagen der engel schar gesehende! (JT, 584)889

Zuerst wird man vorhte für ein Verb halten und unreht für ein Substantiv, nämlich das zugehörige Objekt: „Sankt Peter fürchtete Unrecht“, aber durch den Parallelismus unreht vorhte – rehte vorhte / unreht minne – ware minne wird deutlich, dass vorhte in V. 1 ein Substantiv ist. Der Erzähler hat durch den dreifachen Reim vorhte – worhte – vorhte eine besondere klangliche Verdichtung vorgenommen, denn die vorletzte Halbzeile ist in der Regel reimlos (siehe das Schema weiter oben). Wichtig ist dem Autor anscheinend weniger die Sicherheit einer logischen Entschlüsselung als die klangliche Dominanz von Leitbegriffen wie vorhte, zwivel, lieb, minne. Die Parallelität der Strophenzeilen begünstigt das Stilmittel der Annominatio, wie es Gottfried ausgiebig verwendet. Schon Wolfram nutzt es gelegentlich, Albrecht baut es aus. So wird aus:

Sît er von der wilde hiez, gegen der wilde
si sante im disen wiltlîchen brief. (Tit., 158)

bei Albrecht:

Du eren pflicht geselle, du wilde blimageme riche,
in wildez walt gevelle send ich dir wilden boten wildicliche
und wilden prief mit wilder boteschefte. (JT, 1882,1–3)

In den Strophen 177–180 variiert der Autor 18 Mal das Wort wirde/wert, in den Strophen 10–15 20 Mal das Wort tugent. Einen besonderen Fall von virtueller Polysemie bietet Strophe 65:

Dirre aventimagere kere, si si krump oder slihte,
daz ist nicht wan ein lere. darumb sol ich si wisen uf di rihte. (JT, 65,1 f.)890

Albrecht greift hier Wolframs Bogengleichnis auf und nennt als Prinzip seiner Neuordnung die Didaxe. lere kann man (vor allem akustisch) aber nicht nur als Doctrina verstehen, sondern auch als das klangähnliche laere, also als Vacuum: „Der Ablauf der Erzählung ist eigentlich leer, daher werde ich sie einrichten.“ Der Redaktor II hat das Wort genau so verstanden:

Diser auenteir chere. sey chrump od’ slichte. es ist nicht tugent lere. (JT, II 65)891

Weitere vergleichbare Beispiele lassen sich unschwer finden. So wird ein Klangund Wortgeflecht, also eine Sprachmusik erzeugt, die logische Verknüpfungen übersteigt. Ähnlich wie bei Gottfried wird dadurch zunächst Kontingenz generiert.

Die Klanglichkeit wird durch die überlieferte Melodie noch intensiviert. Sie steht auf dem Vorsatzblatt der Haupthandschrift A (Wien ÖNB 2675) aus dem ersten Viertel des 14. Jahrhunderts. Obwohl sie mit einem neuen Text, der Sigunenklage, später, nämlich im zweiten Viertel des Jahrhunderts, niedergeschrieben wurde, scheint sie zu implizieren, dass das Epos gesungen werden sollte. Gegen Schluss seines Werkes bittet der Autor Gott um Hilfe bei der Vollendung. Es solle tugende in die Herzen derer bringen, die ez lesen oder hoeren lesen oder in dem done singen (JT 6077,4). Das ist eine poetologische Aussage, sie impliziert drei virtuelle Rezeptionsmodi, nicht nur die beiden üblichen, das Lesen/Vorlesen sowie das Hören, sondern auch eine dritte: das Selber-Singen als Aneignungsform besonders intensiver Natur. Ob sie konkret realisiert wurde, bleibt letztlich unerheblich – ebenso, ob es sich um einen (mehr oder weniger) öffentlichen Vortrag für Andere oder um das eingangs zitierte canere sub silentio, also das ‚Singen im Kopf‘, handelt, als Alternative zum Vorsingen, das schätzungsweise 80 Stunden gedauert haben dürfte, also anderthalb Monate zwei Stunden täglich. Die Melodie erschließt tatsächlich den Worttext weitaus besser als eine ‚unmusikalisierte‘ Lektüre. Evokative Wörter stehen oft am Beginn einer Zeile, die vorhergehenden Zeilenenden sind durch ein Melisma, eine Vieltonverbindung, gekennzeichnet und das Wort am Anfang der neuen Zeile (nach dem Auftakt) durch die atembedingte Pause hervorgehoben, wie sich an den oben gegebenen Bespielen leicht erkennen lässt. In der Strophe 1882 wird zudem die Annominatio wilde auf diese Weise melodisch ausgezeichnet, so dass zu der Hervorhebung von Sinnwörtern die von Klangwörtern tritt. Die syntaktische Analyse hingegen wird durch die Melodie nicht unterstützt, so dass ein metalogisches Verständnis angezielt erscheint.

Man könnte gegen eine solche Deutung einwenden, dass, im Unterschied zu Gottfried, der die Möglichkeit des freien Umgangs mit dem höfischen Reimpaarvers besitzt und ausschöpft, Albrecht an den Zwang der Strophe gebunden ist und die einzelne sprachliche Realisierung daher ein geringeres Maß an Intentionalität besitzt.

Dagegen ist jedoch zu halten, dass der Autor die Strophe bewusst in ihrer Eigenart geschaffen hat und sie in ihrer Klanglichkeit deshalb nicht weniger signifikant ist als die weniger formal erzwungene Strophe Gottfrieds im Prolog. Bei Albrecht tauchen aus den äußeren oder inneren Klangwogen Namen auf, mit denen sich bestimmte Geschichten verbinden; Wörter, die wertoder unwertbesetzt sind, Klangund Wortkorrespondenzen werden, ähnlich wie im Tristan, erzeugt. Die Strophe produziert ein semantisches Ungefähr, ein Rauschen. Der Text soll nicht logisch verstanden werden, sondern emotionale Vertrautheit mit Geschichten und Lehren bewirken, Wertevokation, nicht Didaxe leisten, sinnlich verschlüsselte Evidenz generieren. Es ist kein Wunder, dass die Romantiker diesen Text geliebt haben.

*

Im Fall von Gottfrieds Tristan erwies sich die Poetik der Musikalität als Poetik der Kontingenz. Wie haben wir Albrechts ‚Musikalität‘ zu verstehen? Der Autor beweist, dass weder ethische Sinnbildung noch Wissenspragmatik ‚funktioniert‘. Das Brackenseil wird zerhauen, der Gral nach Indien verabschiedet; auch die Narration zeigt das Scheitern einer erzählerischen Bemächtigung des Grals. Ein kohärenter ethischer, gelehrter oder narrativer Kosmos erscheint als nicht mehr präsentierbar. Ich verstehe den Roman als poetisches Experiment, das die Möglichkeiten und Grenzen der Sprache aufweist. Er jongliert virtuos mit Verhüllen und Enthüllen, Trivialität und Komplexität, Kohärenz und Kontingenz. Es gibt keinen festen Punkt. Die Aufmerksamkeit, die Empathie des Lesenden/Hörenden/Singenden wird immer wieder provoziert; ob das ein vergänglicher Reiz bleibt oder ein Verstehenskonstrukt inzitiert, bleibt offen. Der Text generiert zuerst seine eigene Bedeutendheit durch die ‚gewählte‘ Sprache, die verwendeten Begriffe und den ‚erhabenen‘ Erzählgegenstand, den Gral. Seine Darbietung bekommt Ritualcharakter, die Verleugnung des Brackenseils gibt das Rezeptionsmodell für den Roman. Der Jüngere Titurel will, wie Ulrich Füetrer sagt, ein „Hauptbuch“892 sein, analog zu liturgischen Büchern. Die anspruchsvollen Inhalte (Lehre, Gral) legitimieren diesen Anspruch, erst sie machen das Experiment einer nicht diskursiven Vermittlung nach dem Vorbild des Gesangsvortrags der heiligen Texte möglich. Wärend dieser als Abbild des Engelsangs893 zu verstehen ist, das Singen des Jüngeren Titurel als emotionale Evokation desselben insofern gedacht, als die Strophe eine vorgegebene formale Strukturierung bietet, die als nachvollzogene Entsprechung zur kosmischen Harmonie verstanden werden kann. Im Unterschied dazu entwickeln sich die Reimpaare bei Gottfried frei, ihnen werden die klanglichen Mittel höchst individuell eingeschrieben, was als Entsprechung zur Subjektivität der Tristanliebe verstanden werden darf.

Albrecht hingegen erzeugt eine virtuelle Kohärenz, der cantus lectionis894 ist Verweis auf den und Evokation des Cantus angelorum und damit eine Verheißung, dass die, die hier singen oder singen hören, dereinst mit den Engeln selber einstimmen werden. Hier wird die Poetik der musikalisch generierten Empathie zur Poetik der transzendentalen Harmonie, ähnlich wie man die romantische Poetik Brentanos oder Tiecks verstanden hat.895 Der Schall erhält eine eigene Bedeutungsdimension als Manifestation und Präsenz eines in toten Lettern nicht darstellbaren transzendentalen Aufgehobenseins. Auch bei Gottfried manifestiert sich im Klang nicht allein die Ambiguität der sprachlichen Zeichen, sondern er erzeugt eine eigene Semantik der Kontingenz der Tristanliebe, bleibt jedoch nicht dabei stehen.

Die Poetik der Musikalität bleibt ambig – die semantische Depotenzierung der Wörter erzeugt einmal Kontingenz, dann aber überführt der Klang diese durch Korrespondenzen und Strukturierungen in eine metasemantische Kohärenz. Sie verweist bei Gottfried auf den Liebesmythos, bei Albrecht auf eine anagogisch herzustellende transzendentale Realität.