Stephan Fuchs-Jolie

Metapher und Metonymie bei Wolfram

Überlegungen zum ‚Personalstil‘ im Mittelalter

Im Zusammenhang mit mittelalterlichen literarischen Texten den Begriff ‚Personalstil‘ zu gebrauchen, ist wagemutig und höchst bedenklich, scheint doch notwendig die vermessene Idee impliziert, man könnte – wie die Philologen in der Nachfolge LACHMANNS, mindestens noch bis CARL vON KRAUS – ein iudicium über Einzelstellen mit einem selbstsicheren ‚Unverkennbar Wolfram!‘ oder ‚Eines Wolfram nicht würdig!‘ fällen.1194 Wir sind heute solchem philologischen Positivismus auch deshalb abhold, weil uns die Problematik der Kategorien ‚Text‘, ‚Autor‘, gar ‚Person‘ im Manuskriptzeitalter skrupulös vor Augen steht. Und dennoch: Mir scheint, als würde man beim Lesen von Texten auch des Manuskriptzeitalters – zumindest beim Lesen von komplexen, literarisch avancierten Texten – geradezu zwangsläufig so etwas wie ein je eigenes ‚Textprofil‘ eines Textes sukzessive entwickeln, sei es bewusst analytisch, sei es unbewusst, im Rezeptionsvorgang. Wenn man die Idee eines Verstehens im hermeneutischen Sinne nicht gänzlich aufgeben will, so braucht man wohl im Verstehensprozess permanent eine Vorstellung davon – wie vorläufig und variabel und dynamisch diese auch sei – wie in einem Text die Textoberfläche organisiert ist, so dass sie zu Sinnund Bedeutungsstiftung, zu Tiefenstrukturen beiträgt oder dieser wie auch immer adäquat ist. Wolframs Erzählwerke scheinen mir nun in dieser Hinsicht durch eine Besonderheit gekennzeichnet, die ich in dieser Weise und charakteristischen Häufung in anderen Texten der Zeit nicht finde: Nicht nur wählen Tiefenstrukturen die verwendeten sprachlichen Elemente im Sinne eines aptum, eines Geziemenden aus; umgekehrt nimmt auch die Textoberfläche in verschiedener Weise Einfluss auf die Strukturen des Erzählens. Radikal gesagt: Die Signifikanten schreiben den Text – der Text beginnt, sich selbst zu schreiben. In dieser selbstverständlich zugespitzten postmodernistischen Formulierung wird deutlich, dass es im Folgenden nicht um einen ‚Personalstil‘ im Sinne eines individuellen Autorwillens gehen soll, sondern vielmehr um ein charakteristisches Profil jener Texte, die mit der Signatur ‚Ich, Wolfram aus Eschenbach‘ überliefert sind. Es ist ein ganz eigentümliches Zusammenspiel von Metonymie und Metapher, ein spezifisches Verhältnis von analogischem und konnotierendem Denken, das in Wolframs Texten die Oberflächenebene mit Handlungsorganisation und Sinnkonstitution verbindet.

Bevor ich das mit kurzen theoretischen Überlegungen und begrifflichen Präzisierungen näher abstrakt erläutere und einen vergleichenden Seitenblick auf Gottfried wage, sei eine kleine Reihe von Textbeispielen, Beispiele aus allen drei epischen Werken Wolframs, genannt. Es sind drei Passagen, die ich schon andernorts besprochen habe,1195 die mir aber noch immer am geeignetsten scheinen, dieses Verfahren auf den Punkt zu bringen. Bei ihrem ersten Auftreten sitzt Condwiramurs vor dem überwältigten Parzival:

als von dem süezen touwe
diu rôse ûz ir bälgelîn
blecket niwen werden schîn,
der beidiu wîz ist unde rôt. (Pz., 188,10–13)1196

Das Bild mutet zunächst konventionell an, und natürlich sind sowohl die Rose als auch der glitzernde himmlische Tau Topoi der Schönheitsbeschreibung wie der Mariensymbolik. Hier aber sind zwei Dinge bemerkenswert: einmal das von, einmal das bälgelîn. Das von verstehe ich zunächst einmal kausal: „infolge des süßen Taus macht die Rose neuen, edlen Glanz sichtbar.“ Der Tau bewirkt, dass das verhüllende bälgelîn, die Knospenhülle, aufbricht und sich die eigentliche Schönheit zeigt. Diese Vorstellung, dass der Morgentau in himmlischer Befruchtung das Erblühen der Rose bewirkt, ist literarisch vielfach bezeugt – nach Wolfram. Nun muss man sich aber fragen, was denn in diesem charmanten Vergleich dem bälgelîn auf Seiten Condwiramurs entspricht. Denn es ist ja nicht so, dass erblühende Mädchenschönheit noch kurz zuvor wie eine raue Schale aussieht. Das bälgelîn verweist auf etwas, was außerhalb des Körpers der makellosen Condwiramurs liegt: Es verweist auf die Bewohner der belagerten Stadt Pelrapeire, welche die junge Königin Condwiramurs retten muss und nicht kann. Denn von dem schlaffen balc der Untertanen – ein sehr seltenes Wort – ist zweimal dicht bei dieser Textstelle die Rede, einmal kurz zuvor, einmal kurz darauf.1197 Condwiramurs Schönheit scheint zunächst durch nichts beeinträchtigt – obwohl auch sie großen Hunger leiden muss. So sehr die Zeichen des Leides von der Beschreibung ihres Körpers ferngehalten werden, so subversiv kommen sie im metaphorischen Vergleich wieder hinein, und zwar durch horizontale, metonymische Konnotationen eines einzelnen Bestandteils der Metapher: Das hässliche Draußen, der balc, ist im blühend schönen Inneren des Palastes anwesend. Die querlaufenden Konnotationen der Signifikanten lassen sich nicht unterdrücken. Hat das starke Wort vom balc draußen vor der Tür die kühne Metapher von der Rose im bälgelîn erst hervorgetrieben?

Dazu eine zweite Stelle: Im Willehalm wird Rennewart bei seinem Auftreten im Palas von Oransche am Vorabend der zweiten Schlacht so beschrieben:

dâ sîn vel was besweizet
und der stoup was drûf gevallen,
dô er vor den anderen allen kom,
als im sîn manheit riet,
etswâ ein sweizic zaher schiet
den stoup von sînem klâren vel.
Rennewartes, des knappen snel,
sîn blic gelîchen schîn begêt,
als touwic spitzic rôse stêt
und sich ir rûher balc her dan
klûbet: ein teil ist des noch dran.
wirt er vor roste immer vrî,
der heide glanz wont im ouch bî. (Wh., 270,12–24)1198

Anders als bei Condwiramurs hat hier der balc eine klare Entsprechung: Schmutz; und auch der Tau hat seine reale Entsprechung: Schweiß. Es sind sweizic zaher, die den Staub an einzelnen Stellen zum Verschwinden bringen. Wenn der Vergleich stimmig sein soll, dann heißt das, dass auch hier der Tau das Aufbrechen des balc bewirkt, das Verschwinden des Verhüllenden. Zugleich ist aber der Schweiß das, was erst bewirkt, dass er schmutzig ist – und hier ist der Vergleich nicht stimmig, denn bei Rosen ist der Tau für die Bedeckung durch den balc nicht ursächlich. Diese Unstimmigkeit verweist darauf, dass es – ganz ähnlich wie bei Condwiramurs – noch auf etwas anderes ankommt als glitzernde Morgen-Schönheit. Um das zu entdecken, muss man wieder nach ‚außen‘ gehen, d. h. die paradigmatischen Dimensionen von Vergleich und Metapher verlassen. Warum schwitzt Rennewart eigentlich? Es heißt, weil er den anderen allen vorausgelaufen war. Aber das war auf dem Weg nach Oransche, und er ist schon vor langem angekommen. Alle haben längst die Zelte aufgeschlagen, haben sich gewaschen und umgezogen. Rennewart aber schwitzt noch immer. Rennewart ist es, der den Krieg draußen und seinen Schmutz körperlich in den Palas hineinträgt, den Krieg beim höfischen Mahl präsent hält. Nun ist gewöhnlich jener Schmutz, den Männer im Gesicht tragen, der Rüstungsschmutz, der bei der Verwandlung des Kriegers in den festlich-höfischen Menschen abgewaschen werden muss. Rennewart aber ist noch niemals mit Rüstungen in Berührung gekommen, er lehnt ja ritterliche Waffen ausdrücklich ab! Bei ihm ist der Rüstungsschmutz ersetzt durch das Schweiß-Staub-Gemisch. Dass genau solcher Rüstungsschmutz gemeint ist, wird durch folgenden Vers deutlich: wirt er vor roste immer vrî, heißt es. HEINZLE kommentiert: „rost muß […] im weiteren Sinne von ‚Schmutz‘ gebraucht sein“.1199 In der Tat ‚müsste‘ es eigentlich so gebraucht sein – Belege aber finden sich dafür nicht. Wie bei der Beschreibung Condwiramurs setzt Wolfram auch hier ein ‚falsches‘ Wort ein, aber hier nicht ‚falsch‘ auf Seiten des Bildspenders, wie im Falle des bälgelîn, sondern ‚falsch‘ auf Seiten der abzubildenden Sache.

Die Substituierung von Schweiß-Schmutz durch Rost kommt noch öfter vor. Kurz darauf heißt es: sîn blic durh rost sah aus wie der vor Karnahkarnanz kniende Parzival – mit Rüstungs-Rost hat aber auch Parzival zu diesem Zeitpunkt nichts zu tun. Die Rede Rennewarts leitet der Erzähler kurz darauf mit den Worten ein:

under râme der geflôrte,
des vel ein touwic rôse was,
ob ez im rosteshalp genas,
er sprach. (Wh., 195,4–7)

Durch die Verschiebung zum sachlich falschen Ding rost ist der Vergleich, der ja durch metaphorische Bebilderung das Aussehen anschaulich machen wollte, als Inszenierung des Erzählers ausgewiesen. Der Rost ist bloß Metapher für das, was er bedeuten soll, nicht Beschreibung dessen, was man sehen kann. Die visuelle Evidenz der durch die Metapher gestützten Beschreibung erweist sich bei genauem Hinsehen als unscharf – sie zwingt den Rezipienten, einzelne, ‚unstimmige‘ Elemente zugleich als visualisierende Bildelemente aus anderen, weiteren Zusammenhängen zu begreifen. Condwiramurs bälgelîn und Rennewarts rost sind von außen, quer, syntagmatisch in die Metaphern hineinverschoben – sie übermalen das Bild mit anderen Bildern (ausgehungerte Körper, rostverschmierte Ritter); sie bilden in einer Art Überblendung gleichzeitig Verschiedenes ab.

Diese einleitenden Beispiele sollten zeigen, dass die spezifische Gebrochenheit, Dunkelheit, Wildheit von Wolframs Bildern sich erhellen lässt, wenn man jeweils die Beziehungen auffindet, die einzelne Signifikanten unterhalten und stiften.1200 Um das noch etwas genauer beschreiben zu können, will ich kurz darlegen, wie ich die Begriffe des Metaphorischen und des Metonymischen gebrauche – und dabei geht es mir nicht um subtile Metapherntheorie, sondern nur um ein paar Werkzeuge, die mir helfen sollen, die verschränkten Beziehungen der Zeichen und Sinnbildungsprozesse etwas zu sortieren.1201 Dem berühmten Vorschlag ROMAN JAKOBSONS folgend, lässt sich das Verfahren, nach denen sich das sprachliche Syntagma knüpft, grundsätzlich zwei Typen von Beziehungen der Signifikanten zuordnen: metaphorischen und metonymischen Beziehungen.1202 Ohne im Mindesten eine elaborierte Metapherntheorie vorlegen zu wollen, lässt sich das im Hinblick auf das hier zu Demonstrierende vereinfachend etwa folgendermaßen formulieren:

– Die Metapher ist eine Verknüpfungsoperation, die der Aufforderung ‚Ersetze!‘ folgt. Das heißt, dass spezifische Similaritätsaspekte, Ähnlichkeiten, zwischen den mit den Signifikanten zu verbindenden Vorstellungen eine Analogiebeziehung stiften. ‚Metaphorisch‘ soll alles genannt werden, was in der Ordnung des Syntagmas dazu beiträgt, Begriffe, die primär verschiedenen Vorstellungsinhalten angehören, in eine sehr spezifisch restringierte, potentielle Vergleichsbeziehung zu bringen. Das Entscheidende an solcher metaphorischen Relation ist die Stiftung von Beziehung nach einem Paradigma, einem Analogon, das vom Bildspender bestimmt wird. Insofern ist die metaphorische Beziehung eine vertikale, eine paradigmatische, eine denotative.

– Metonymische Operationen hingegen sind durch die Produktionsregel ‚Ergänze!‘ bestimmt. Die metonymischen Ergänzungen sind konnotativ, horizontal; sie entstehen aus dem Kontiguitätsprinzip, das die Signifikanten durch real benachbarte Signifikanten syntagmatisch ergänzt. Das, was unter solcher ‚realer Nachbarschaft‘ zu verstehen ist, kann sehr verschieden sein. Nicht nur zeitliche, räumliche, ursächliche, logische oder lebensweltliche Zusammenhänge stiften metonymische Beziehungen, sondern auch jene ‚Realität‘ eines homogenen Raumes, welche die Materialität der Signifikanten repräsentiert: Etymologische, morphologische oder phonetische Beziehungen lassen sich in diesem weiteren Sinne ebenso als metonymische, syntagmatische Ergänzungsregeln betrachten.

Jenes Prinzip der kontrastiven Überblendung metaphorischer und metonymischer Beziehungen, das an der ‚tauigen Rose‘ zu beobachten war, scheint mir nun bei Wolfram auf verschiedenen Ebenen sinnstiftend zu wirken, sowohl mikrostrukturell als auch makrostrukturell. Dafür folgen nun jeweils noch ein Wolfram-Beispiel und ein Kontrast mit Gottfried.

Im folgenden Fall strukturiert eine zweifache figura etymologica die sich simultan überlagernden metonymischen und metaphorischen Beziehungen der Signifikanten. Im Titurel gesteht Sigune Herzeloyde ihre Liebe zu Schionatulander:

‚Dînes râtes, dînes       trôstes, dîner hulde
bedarf ich mit ein ander,       sît ich al gernde nâch friunde iâmer dulde,
vil quelehafter nôt. daz ist unwendec.
er quelt mîne wilde gedanke       an sîn bant, al mîn sin ist im bendec.‘ (Tit., 121)1203

Die denotativ-metaphorischen Beziehungen weisen auf das Bildfeld der Falkenjagd. Im Titurel erscheinen die Liebenden vielfach als von der Minne Gejagte. Hier nun wird Sigune zunächst durch die Formulierung al gernde und wilde metaphorisch analog zum begierigen, ungezähmten Falken gesetzt, dessen Beute der vermisste Geliebte ist. Doch noch im selben Vers verwandelt sich das Bild, und Sigune ist der an das bant gefesselte Falke; der Geliebte ist der fesselnde, zähmende Falkner. Die Subjekte, Objekte und Prädikate sind nicht oder nur scheinbar durch die Identität und Kohärenz ihrer Denotate miteinander zum Syntagma verbunden, sondern vielmehr durch die konnotative Beziehung, welche die Signifikanten untereinander unterhalten. Was die ineinander gleitenden Metaphern ordnet, ist die doppelte Perspektive auf den Falken, der einmal das Analogon der wilden, naturhaften Freiheit und einmal das Analogon der gezähmten, reglementierten Minnekultur bebildert; es ist die doppelte Perspektive auf gernde und wilde, die im ersten Ungebundenheit bezeichnet, womit im zweiten aber etwas zu Zähmendes konnotiert ist; es ist die doppelte Perspektive, die gedanke mit freiem, freiwilligem Begehren verknüpft, aber in einer kurzschlüssigen Verschiebung den zugehörigen sin als den sich selbst die Fessel suchenden Willen vorstellt: Die wilden gedanke werden in Schionatulanders Fesseln ‚hineingequält‘, und zugleich ist der sin ihm immer schon verbunden. Diese simultane Perspektivenvielfalt wird nicht in distinkte, nacheinander formulierbare Metaphern aufgelöst. An die Stelle kohärenter Metaphern treten konnotative Beziehungen, die Sinnbeziehungen aus der Mehrdeutigkeit einzelner Worte und benachbarter Begriffe schaffen. Diese Mehrdeutigkeit ist sprachlich kondensiert in der doppelten figura etymologicaquelehaft – quelt‘ und ‚bant – bendec‘. Die rhetorische Figur wird poetisch fruchtbar gemacht zur Exemplifizierung des entscheidenden Problems, nämlich Bezogenheit und Differenz der Bedeutungspotentiale simultan wahrnehmbar zu machen. So sehr die etymologische Figur einerseits Verbindung auf lexikalischer und phonetischer Ebene schafft und damit die Beziehbarkeit der Bilder behauptet, so sehr weist sie andererseits auf die semantische und metaphorische Differenz hin.

Zur Kontrastierung sei ein kleiner Seitenblick auf Gottfrieds Tristan gestattet. Auch hier gibt es eine Stelle, an der die Falkenjagd als Bildfeld für Minnebegehren genutzt wird – auch hier ist der Topos geschickt nach verschiedenen Seiten hin ausgelegt, und doch anders inszeniert als bei Wolfram. Als die junge Isôt an der Hand ihrer Mutter vor den versammelten Hof tritt, der den Gerichtskampf mit dem Truchsess erwartet, erscheint Isôt:

suoze gebildet über al,
lanc, ûf gewollen unde smal,
gestellet in der wæte,
als si diu Minne dræte
ir selber z’einem vederspil,
dem wunsche z’einem endezil,
dâ vür er niemer komen kan. (Tr., V. 10893–10899)1204

[D]er Minnen vederspil Îsôt (Tr., V. 11985), wie es später an der berühmten Trankszene heißen wird, ist ein Jagdvogel, den sich Frau Minne selbst geschaffen hat. Die Metapher des herrlichen Jagdvogels kann man zwei Paradigmen zuordnen: einmal dem Paradigma des Jagens und Beutemachens und zum zweiten dem Paradigma der kunstvollen Schöpfung, des geschmückten, gezähmten Kulturprodukts. Die Tatsache, dass an dieser Stelle die Thematik des Jagens, der Gefährlichkeit, des Beutetriebs nicht explizit aufgenommen wird, hat manche Übersetzer dazu verleitet, vederspil mit „Lockvogel“ oder „Spielvogel“ zu übersetzen.1205 Doch vederspil ist wohl nichts anderes als ein abgerichteter Greifvogel.1206 In der Tat expliziert Gottfried die Metapher in der näheren Umgebung dieser Stelle nur über das tertium der artifiziellen Schönheit: ‚Selbst gedrechselt‘ sei sie, ‚Erfüllung aller Wünsche‘ – also doch Objekt des Betrachtens und Begehrens, und nicht jagendes Subjekt. Warum sie zunächst vederspil genannt wird, bleibt vorläufig noch rätselhaft. Aber Gottfried kommt nach fünfzig Versen Kleiderbeschreibung wieder darauf zurück, und zwar indem er von der ganz unbildlich-real zu verstehenden Schneiderkunst wieder zur Drechslermetaphorik hinübergleitet, zwei Künste, die über die Vorstellung des Kunstvoll-GeschaffenSeins verbunden sind (Siehe zu den letzten Überlegungen im vorliegenden Band den Beitrag von Gerok-Reiter.). Hier wird nun wieder das Drechseln mit dem RaubvogelBild konnotiert:

diu zwei, gedræt
unde genæt, diu’n vollebrâhten nie baz
ein lebende bilde danne daz.
gevedere schâchblicke
die vlugen dâ snêdicke
schâchende dar unde dan:
ich wæne, Îsôt vil manegen man
sîn selbes dâ beroubete.
Si truoc ûf ir houbete
einen cirkel von golde. (Tr., V. 10954–10963)

War an der ersten Stelle die Dimension des gefährlich Räuberischen ganz ausgespart und allenfalls als Suggestion präsent, wird dies nun bei der zweiten Stelle explizit: Das Gefiederte wird mit dem Rauben verbunden. Isôt beraubt die Männer, so endet die Passage, bevor es wiederum mit der descriptio ihres Schmucks weitergeht. Von daher wird man die gefiederten schâchblicke als Isôts Blicke verstehen, Isôt also als mit Blicken jagendes Subjekt, als vederspil eben. Andererseits wird ja Isôt zuvor als ein Objekt des Betrachtens beschrieben, als lebende bilde. Insofern sind die räuberischen Blicke auch als gierige Blicke der höfischen Männer zu verstehen. Genau dies hat Gottfried präzise formuliert. Das Umklappen der Perspektive von Isôt als betrachtetes Objekt zum blickenden Subjekt hat er mit einer Scharnierformulierung versehen: dar unde dan flogen die Blicke, in die eine Richtung und in die andere Richtung. Sollten es nur Isôts Blicke sein,1207 so wären sie wohl kaum dicht wie Schnee. Denn genau dies stellt Gottfried nochmal klar, wenn er – wiederum knapp vierzig Verse später – ein vorläufig letztes Mal Isôt einem Jagdvogel vergleicht:

si was an ir gelâze
ûfreht und offenbære,
gelîch dem sperwære,
gestreichet alse ein papegân;
si liez ir ougen umbe gân
als der valke ûf dem aste;
ze linde noch ze vaste
hæten si beide ir weide. (Tr., V. 10992–10999)

Nun ist es ganz eindeutig Isôt, die jagt wie ein Falke. Auch Gottfried aktiviert die vielfältigen Potenzen der Metapher, auch er arbeitet mit den vielfältigen metaphorischen und metonymischen Sinndimensionen, welche die Bilder und Signifikanten eröffnen. Doch anders als Wolfram, so scheint es mir, fängt er diese Vielfalt aktiv und explizit ein: Er kappt offensiv ein Sinnpotential (das der Jagd), wo es für die zunächst erwünschte Bedeutung des schönen Artefakts dysfunktional ist; er nimmt das Bild später explizit wieder auf, bringt nun die zuvor vernachlässigte metaphorische Potenz zur Geltung und entfaltet aktiv die Vielfalt der Perspektiven, in die das Bild zu wenden ist. Schließlich endet er mit einem eindeutigen Vergleich. Gottfried nutzt die Evidenz der Metaphern, um die Sinnpotenzen sukzessive zu entfalten; er hierarchisiert und gliedert für den Rezipienten nachvollziehbar die verschiedenen Beziehungen der Bilder und Zeichen und stellt sie in den Dienst einer ratio dessen, was zu erzählen ist.

Wolfram dagegen lässt die Sinnpotenzen ineinander gleiten und in aporetischer Überblendung verharren. Dass dies nicht nur mikrostrukturell, sondern auch makrostrukturell die Textoberfläche signifikant profiliert, sei an einem letzten Beispiel gezeigt, an dem kleinen Minneexkurs im Titurel, den ich mit den Versen zitiere, die ihn in die Narration einbinden:1208

Schoynatulander
was danoch niht starc an sînem sinne.
er wart iedoch in herzen       nôt geslozzen von Sigûnen minne.

Owê des, si sint noch       ze tump [ ] ze solher angest,
wan, swâ diu minne in der iugent     begriffen wirt, diu wert aller langest!
op daz alter minnen sich geloubet,
dannoch diu iugent wont in der      minne bant, minne ist krefte unberoubet.

Owê, minne, waz     touc dîn kraft under kinder?
wan einer der niht ougen hât,     der möhte dich spehen, wârer blinder.
minne, du bist alze manger slahte!
gar alle schrîbære künden     nimer volschrîben dîn art noch dîn ahte.

Sît daz man den rehten      münch in der minne
unt och den wâren klôsenære      wol beswert, sint gehôrsam ir sinne, daz si leistent mangiu dinc doch kûme.
minne twinget rîter      under helme. minne ist vil enge an ir rûme.

Diu minne hât begriffen daz smal unt daz breite.
minne hât ûf erde unt ûf himele für got geleite.
minne ist allenthalben wan ze helle.
diu starke minne erlamet an ir     krefte, wirt der zwîfel mit wanke ir geselle.

Ane wanc unt âne     zwîfel diu beide
was diu maget Sigune      ‹unt› Schoynatulander. (Tit., 47,2–52,2)

Der Erzähler hatte aus der Vorgeschichte Sigunes und Schionatulanders berichtet; das Geschehen ist an jenem Punkt angelangt, an dem nun von der beginnenden Liebe zwischen den beiden erzählt werden sollte. In Vers 47,4 wird diese Liebe zum ersten Mal benannt. An dieser Stelle schaltet der Erzähler vier Strophen ein, die außerordentlich weit gefasste Reflexionen über die Minne bieten. Man sollte erwarten, dass nun die virulenten Themen der Narration aufgegriffen, reflektiert und programmatisch verhandelt würden. Das ist aber nur sehr bedingt der Fall. Auf fast jede Aussage folgt sofort der Widerspruch, fast alles wird sogleich revoziert und auf andere Fragen umgelenkt. Eine programmatische Aussage wird strikt verweigert, als Kommentar zum Erzählten ist der Exkurs regelrecht dysfunktional – davon abgesehen, dass man mit guten Gründen manchen Vers für schier unverständlich halten kann. Dieser Exkurs liest sich wie ein lockerer, unvollständiger Themenkatalog dessen, was über Minne erzählt werden könnte.

Doch nicht nur die verhandelten Inhalte begründen keinen kohärenten Zusammenhang. Ähnlich ist es, wenn man auf die Bildlichkeit schaut. Wir finden zahlreiche Bildfelder, die in der Umgebung der Strophen höchst präsent sind (was hinsichtlich der Themen oft nicht der Fall ist): Liebeskrieg, Liebesfessel, das Herz als Gefängnis, allegorisierende Personifizierung der Minne. Fragt man aber, wie dieses Reservoir intern organisiert ist, so bleibt man ratlos. Auch die Tropen und Bilder erhellen nicht Sinn oder Konstruktion der Erzähler-Digression, ja oft nicht einmal den Sinn von Einzelstellen – im Gegenteil: Sie vergrößern den Aspektreichtum der Exkursstrophen. Der Minneexkurs ist nicht nur eine Ansammlung von bloß potentiellen thematischen Motiven, er ist ebenso sehr eine Ansammlung von Bildern, die in einige Aspekte aufgefaltet werden, die aber in ihrer Gesamtheit eben gerade kein kohärentes Bild mehr vermitteln.

Wenn also der Exkurs eine thematische und bildliche Ansammlung von Redeweisen über die Minne ist, die erstens in kaum erkennbarer spezifischer Beziehung zur erzählten Geschichte steht und die zweitens permanent ihre eigene Inkohärenz zum Ausdruck bringt, nach welchem Selektionsprinzip geht dann der Erzähler vor? Was regiert das Syntagma? Achtet man nun weniger auf das ‚Was‘, sondern vielmehr auf das ‚Wie‘ der Verknüpfung, so zeigt sich ein Strukturprinzip: Es ist jeweils das Ende einer Strophe mit dem Beginn der nächsten metonymisch-konnotativ verknüpft, quer zu den Themen und Bildfeldern. Ich gehe kurz hindurch: Das Ende der letzten Erzähl-Strophe führt die Metapher des Herzens als Liebesgefängnis ein, mit der Vokabel geslozzen (47,4). Die nächste Strophe, die erste Exkursstrophe, nimmt weder das Thema noch eigentlich die Metapher auf, sondern liefert mit angest (48,1) eine metonymische Ergänzung, die zu geslozzen in einer realen Kontiguitätsbeziehung steht: angest meint wörtlich Enge, dann Bedrängt-Sein, Not. Der Signifikant angest entfaltet eben diese doppelte Beziehung, indem er jenes Eingeschlossen-Sein bezeichnet und zugleich Nöte, in die sich die Liebenden willentlich hineinbegeben, wenn sie Minne selbst ergreifen (48,2). Die verwirrenden Reflexionen über Bindung und Freiheit, zu denen diese Doppeldeutigkeit Anlass gibt und die wiederum die Dichotomie von Jugend und Alter hervortreiben, beenden die Strophe mit der Rede von der krefte der Minne (48,4). Genau dieser Signifikant kraft wird am Beginn der folgenden Strophe aufgenommen (49,1), nicht aber das Thema: Denn kraft der Minne wird nun nicht mehr hinsichtlich der Auswirkungen auf die Liebenden diskutiert, sondern sie verwandelt sich in ein Wahrnehmungsund Beschreibungsproblem: Über die Macht der Minne, obwohl sie allerorten spürbar ist, lässt sich weder schreiben noch reden, weil sie zu vielgestaltig ist. Die dafür verwendete Formulierung art und ahte (49,4) scheint die Konnotationen zu ermöglichen, welche die nächste Strophe 50 inaugurieren. Denn in dieser geht es ja gerade nicht, wie es eine linear fortgeführte Reflexion erwarten ließe, um Arten und Beschaffenheiten der Minne. Aber es geht um art, Sippen-Herkunft, und um ahte, ständische Zugehörigkeit, nur eben nicht Herkunft und Stand der Minne, sondern derjenigen, die von ihr betroffen sind, um Geistlichkeit und Rittertum. Auch die Abfolge dieser Strophen verdankt sich weniger inhaltlicher Anknüpfung oder dem Fortschreiben einer Metapher, sondern nebeneinandergestellten Mehrdeutigkeiten von Signifikanten. Wenn Strophe 51 nun mit neuerlichen Ubiquitätstopoi beginnt, so verdanken sie sich abermals einer metonymischen Beziehung: Mit dem engen rûme (50,4), mit dem sich die Minne zuweilen begnügt, wenn sie mit dem Ritter unter den Helm schlüpft, wird daz smal unt daz breite (51,1) konnotiert. Eine inhaltliche Ausfaltung der Rede von dem engen Ritterhelm ist dies nicht, denn jetzt geht es nicht um Aufenthaltsorte der Minne, sondern um das, was sie begriffen hât (51,1): Das Thema des Raumes, das in ganz anderen paradigmatischen Zuordnungen eingeführt wurde, wandert als bare Vorstellung, als Stichwort gleichsam hinüber in neue paradigmatische Zusammenhänge, die nun erst in Strophe 51 entfaltet werden. Paradigma des Raumes meint: im Kleinen wie im Großen, unten und oben und ganz unten, auf Erden, im Himmel, in der Hölle. Die Hölle ist – wie in den Prologen von Hartmanns Gregorius und Wolframs Parzival1209 – mit zwîvel konnotiert, und dies bildet den Übergang zur nächsten Strophe 52, die Rückkehr vom Exkurs zur Handlung – in schierer Negation: Hölle = zwîfel mit wanke; die Liebenden = Nicht-zwîfel mit wanke. Das ist keine Ratio, die sich noch bemühte, den Eindruck einer Notwendigkeit und Zwangsläufigkeit des Syntagmas zu erzeugen, sondern eine metonymisch-konnotative Kette an der Textoberfläche, gesetzt vom Erzähler, die den Zirkel schließt, um am Ausgangspunkt wieder anzukommen: bei den so reinen Liebenden.

Auch für den Minneexkurs gilt, dass weder paradigmatische – also themenbezogene oder metaphorische – noch syntagmatische Beziehungen das Erzählte dominieren: Es ist die eigentümliche Kombination beider Prinzipien, eine Entfaltung meist denotativ-inhaltlicher Perspektiven innerhalb einer Strophe, die verkettet werden durch primär metonymisch-konnotative Beziehungen zwischen den Strophen.

Eine kurze Schlussbetrachtung: Es scheint eine Eigenart von Wolframs Umgang mit Topoi und Metaphern zu sein, dass er deren diverse sinnstiftende Beziehungen simultan zur Geltung bringt, und vor allem, dass er sie nebeneinander bestehen lässt, ohne sie in eine Ratio des Erzählten erklärend aufzulösen. Wolframs Umgang mit Metaphern und den Signifikanten, aus denen die Metaphern bestehen, setzt auf Evidenz in einem ganz bestimmten Sinne: Er setzt darauf, Verschiedenes gleichzeitig sichtbar zu machen. Da wir nun kein Organ zur Wahrnehmung von Simultanität haben, lösen wir Leser das beschreibend in ein Nacheinander auf. Was dabei zum Vorschein kommt, ist weniger ein Verfahren der Sinnstiftung des Erzählten, also weniger eine Ratio des zu Erzählenden, sondern vor allem eine Ratio des Erzählens, mithin eine Reflexion auf das ‚Wie‘ des Erzählens einer Geschichte. Wenn das ein so flüchtiger Blick überhaupt erlaubt, könnte man, dieses kontrastierend, über Gottfried sagen: Auch Gottfried arbeitet mit den pluralen paradigmatischen und syntagmatischen Beziehungen seiner Signifikanten. Doch bei ihm steht die Evidenz der Bilder, Metaphern und Vergleiche im Dienste einer Ratio des Erzählten: Die Beziehungsund Sinnbildungspotentiale der Signifikanten werden expliziert und entfaltet und nachvollziehbar nacheinander für das Erzählte fruchtbar gemacht.

Wolframs Texte lassen sich begreifen als Experimente sprachlicher Domestizierung der wilden, nicht zu bändigenden Bezüge der Signifikanten. Dabei erweist sich an entscheidenden Stellen die Sprache als unzulänglich, Kohärenz herzustellen und die Komplexität der fiktionalen Welt einzufangen. Gerade darin enthüllt sie zugleich die Komplexität und Totalität dieser Welt, eben indem sie – um mit PAUL dE MAN zu reden – die Totalitätsansprüche der Metapher, d. h. die angemaßte, autoritäre Hierarchisierung von Signifikantenbeziehungen zurückweist und als unzulänglich entlarvt.1210 Gerade dieses Offenlegen der „schwindelerregende[n] Möglichkeiten referentieller Verirrung“1211 scheint mir die produktivste Leistung Wolframs zu sein.

Ob das freilich zur Beschreibung eines ‚Personalstils‘ ausreicht, wage ich kaum zu beurteilen. Wie exklusiv, wie vollständig und wie distinkt müsste ein poetisches Prinzip sein, damit es als Beschreibung eines ‚Personalstils‘ gelten dürfte? Ich glaube zumindest, dass sich auf die skizzierte Weise ein poetisches Verfahren relativ präzise beschreiben lässt, das die verschiedenen Dimensionen der Texte Wolframs integrierend erfasst. Insofern dabei die durch metonymische Beziehungen strukturierte Textoberfläche eine sehr charakteristische Rolle spielt, kann dieses poetische Verfahren als stilistisches Phänomen begriffen werden. Doch ist das distinkt und exklusiv genug, mit hinreichender Abgrenzungskraft versehen? Man mag mit einigem Recht einwenden, dass es hier am Ende um Phänomene sprachlicher Referenzialität geht, die von solcher Allgemeinheit sind, dass sie nicht oder wenig zur Abgrenzung bestimmter Textprofile und Stile taugen. Die Zitate zum Dekonstruktivismus legen diesen Gedanken nahe. ‚Personalstil‘, ‚Textprofil‘ ist etwas, was sich am Ende wohl nur im Vergleich bewähren kann. Was sich an diese skizzenhaften Vorüberlegungen anschließen müsste, wäre eine vergleichende Untersuchung möglicherweise verwandter Texte ähnlicher Komplexität mit den gleichen Analysewerkzeugen – zu denken wäre nicht nur an Gottfried, sondern besonders auch an allegorisierende Erzählungen, an die sogenannten Wolfram-Nachfolger, an Minnelyrik mit ihrer komplexen Bildlichkeit. Die hier vorgelegten Ausführungen wollen nichts anderes sein als ein Vorschlag, wie ein solcher Vergleich begonnen werden könnte.