Andreas Hammer

Hartmann von Aue oder Hans Ried?

Zum Umgang mit der Text- und Stilkritik des ‚Ambraser Erec‘

Der Begriff des Stils ist nicht nur für die mittelalterliche Literatur sehr dehnbar und schwer zu bestimmen. Grund dafür ist unter anderem, dass der Stilbegriff auch ein normativer ist: Er ist abhängig von bestimmten Wertvorstellungen, seien es die der zeitgenössischen Rezipienten, seien es die der modernen Forschung; erstere eher subjektiv, letztere um Objektivität bemüht – zumindest wenn es darum geht, einem Autor guten oder eher schlechten Stil zuzuschreiben. Versucht man, anstelle eines solchen wertenden,1212 also auf die Qualität rekurrierenden Stilbegriffs, einen systematischen oder, wie es PAUL ZUMTHOR1213 genannt hat, einen generalisierenden statt eines individualisierenden anzuwenden, so kennzeichnet der Begriff Stil „die Vorstellung einer formalisierenden Veränderung, die auf einen Gegenstand einwirkt. […] Mehr oder weniger explizit heißt Stil also Technik, Brauch“.1214 Stil hat somit einerseits sprachliche Voraussetzungen (Mit welchen sprachlichen Mitteln werden z. B. Gegenstände, Personen, Gefühle etc. beschrieben?), andererseits auch textuelle (Wie wird beispielsweise eine Erzählung oder eine Erzähleinheit aufgebaut und gegliedert?), hierin bildet sich dann der ‚Erzählstil‘ eines Autors ab.1215

Innerhalb der mhd. Literatur haben sich einige Autoren als sogenannte ‚Klassiker‘ etabliert, und zwar nicht erst in der Sichtweise einer modernen Philologie, sondern durchaus bereits in der unmittelbaren Nachwirkung ihrer Werke im Mittelalter selbst. Einige dieser ‚klassischen‘ Autoren werden von ihrem ‚Kollegen‘ Gottfried von Straßburg im vielzitierten Literaturexkurs des Tristan z. T. emphatisch gefeiert, so etwa Walther von der Vogelweide oder Hartmann von Aue. Weniger gut weg kommt jener vindære wilder mære (Tristan, V. 4665),1216 hinter dem die meisten Interpreten Wolfram von Eschenbach erkennen: dessen Erzählstil sei derart komplex, dass seine Geschichten noch Ausdeuter bräuchten, seine Sprache zu kompliziert: ir rede ist niht alsô gevar, / daz edele herze iht lache dar (Tristan, V. 4681 f.). Es ist gut möglich, dass mit der darin liegenden Kritik gegen Wolframs ‚geblümten Stil‘ polemisiert wird, dessen bickelworte (Tristan, V. 4641) keinen Lobpreis verdienten. Einer direkten Namensnennung enthält sich Gottfried, möglicherweise auch im Bewusstsein, dass ein kenntnisreiches Publikum die Anspielungen entsprechend richtig deuten würde.1217 Hier wird ein Dichterkollege aus stilistischen Gründen kritisiert, demgegenüber Gottfried Hartmann von Aue hervorhebt, dessen cristallînen wortelîn (Tristan, V. 4629) er preist und dessen Erzählungen beide ûzen unde innen / mit worten und mit sinnen / durchverwet und durchzieret (Tristan, V. 4623–4625) seien.

Was aber genau sagt diese Kritik aus? Was bedeuten bickelworte gegen cristallîn wortelîn? Was ist, wenn man bei Wolfram bleibt, für Gottfried tatsächlich so schlecht an dessen Ausdrucksweise und Erzählstil – und was genau macht Hartmann dagegen zu einem poetischen Genie? Es handelt sich auch bei Gottfried um wertende, normative Urteile, die an ein offenbar als bekannt vorausgesetztes Stilempfinden gerichtet sind, für das es über das gegebene Lob und den Tadel hinaus keiner ausführlicheren Erklärung bedarf. Auf die zeitgenössische Rezeption dürfte dieses Urteil wenig Auswirkung gehabt haben; zumindest zählen Wolframs Parzival und Willehalm zu den am häufigsten überlieferten Werken des deutschsprachigen Mittelalters. Stilurteile sind eben meist Werturteile, sie sind normativ und – mal mehr, mal weniger – subjektiv, weshalb sie auch nicht von jedermann nachvollzogen werden können und müssen.

Auch die moderne Philologie, wenngleich um Objektivität bemüht, kann sich einem solch subjektiven Stilempfinden nicht entziehen. Gottfrieds Kritik an Wolfram wird zwar keinesfalls nachvollzogen, sein Lob Hartmanns dagegen schon, der in den Gründerjahren der Germanistik zu einem der am meisten untersuchten und geschätzten Autoren avancierte. Nicht zuletzt der Begründer der textkritischen Editionspraxis, Karl Lachmann, war es, der mit der Edition des Iwein im Jahr 1827 Maßstäbe setzte; er bezeichnete den Iwein als „eines der lieblichsten gedichte der mittelhochdeutschen sprache“.1218 Sein Verfahren der Konjekturalkritik hat seitdem Schule gemacht, ebenso die Regeln, die er dabei für die Einrichtung eines ‚Normalmittelhochdeut schen‘ setzte. Es sollte bald darauf eine erste Edition des Erec durch MORIZ HAUPT, den LACHMANN als Mentor begleitete, folgen.1219 Anders als LACHMANNS Ausgabe des Iwein entfachte sich darüber ein lange währender Forschungsstreit, der größtenteils mit der prekären Überlieferungssituation dieses Werkes zusammenhängt – und der darum nicht zuletzt auf der Basis von stilistischen Argumenten geführt worden ist.

Der folgende Beitrag möchte zeigen, wie schwierig und heikel sich die textkritische Diskussion um den Erec darstellt, zumal wenn hierfür eine stilistische Einordnung Hartmanns und des Erec ins Spiel kommt. Denn anders als Moriz Haupt und seine Nachfolger sich erhofften, ist in vielen Fällen kaum mehr zu unterscheiden, was nun Hartmanns Stil ist oder war – oder was abhängig ist von der Überlieferung und Rezeption des 16. Jahrhunderts, aus dem die einzige Handschrift dieses Textes stammt.

Die hier präsentierten Überlegungen und Beobachtungen entspringen den Arbeiten an einer Neuediton des Erec nach dem Text des Ambraser Heldenbuches, d. h. ohne die bisher obligatorische Rückübersetzung des frnhd. Textes in ein normalisiertes Mittelhochdeutsch und unter Einbeziehung der im Verbund mit dem Erec-Text überlieferten ‚Mantel‘-Erzählung. Sie sollen einen neuen Blick auf die HartmannPhilologie werfen und versuchen, den Text des ‚Ambraser Erec‘ als ein Zeugnis des 16. Jahrhunderts ernst zu nehmen.1220

Probleme einer Text- und Stilkritik

Wohl kein Text des deutschsprachigen Mittelalters besitzt, gemessen an der ihm zugeschriebenen Bedeutung, eine derart prekäre Überlieferungslage wie der Erec Hartmanns von Aue. Annähernd vollständig ist er nur in einer einzigen Handschrift überliefert, dem sogenannten Ambraser Heldenbuch, das der Zollschreiber Hans Ried 1504–1515 im Auftrag Kaiser Maximilians angelegt hat.1221 Für Textkritik und Editionsphilologie stellt das Ambraser Heldenbuch bekanntlich eine große Herausforderung dar, da sich die über drei Jahrhunderte, die zwischen der angesetzten Entstehung des Werkes und seiner schriftlichen Ausgestaltung liegen, in einer konsequenten Übertragung der mhd. Sprachstufe in ein seinen Zeitgenossen geläufiges Frühneuhochdeutsch durch den Schreiber Hans Ried niederschlagen.1222

Ried galt der textkritischen Editionsphilologie lange Zeit als stumpfer Abschreiber, der die großartigen Texte, die er kopierte, weder zu verstehen und schon gar nicht zu würdigen imstande war, so dass EDWARD SCHRÖDER konstatiert:

Soll unter diesen Umständen der Herausgeber – ich meine der kritische, dem Autor und der Literaturgeschichte, nicht dem Schreiber verpflichtete kritische Herausgeber unseres Textes die Hände in den Schoß legen? Nein, ganz gewiß nicht! Nachdem er sich durch gründliches Studium durch Sprache und Prosodie, Sprachstil und Versstil mit dem Dichter ganz vertraut gemacht hat, muss er die Verantwortung übernehmen, auch hier den Schreiber vorsichtig zu korrigieren, selbst auf die unvermeidbare Gefahr hin, den Dichter zu verbessern.1223

Es geht also darum, den Stil des Dichters nachzuempfinden, und selbst wenn nicht alle Verbesserungen unbedingt nötig seien, so „handeln wir ihm [dem Dichter] gegenüber richtiger und verantwortungsvoller, als wenn wir das Unkraut wuchern lassen, das sich in der Überlieferung eingeschlichen hat“.1224

So kommt es, dass die kritischen Editionen den Erec mit einem wahren Teppich von Konjekturen unterlegt haben, viele davon aus rein stilistischen oder metrischen Erwägungen heraus. Ein Großteil dieser Eingriffe geht noch auf die beiden Ausgaben von MORIZ HAUPT zurück (Erstausgabe des Erec 1839, zweite, verbesserte Auflage 1871). Ein Gutteil dieser Konjekturen haben die seitdem erschienenen Editionen bis heute übernommen, mal näher am Riedschen Text, mal weiter von der Handschrift entfernt.1225 Alle Ausgaben arbeiten sich am z. T. nur schwer verständlichen Text des Ambraser Heldenbuches ab und versuchen, die frnhd. Sprachstufe des Hans Ried in ein normalisiertes Mittelhochdeutsch rückzuübersetzen, die Verse metrisch zu glätten sowie vermeintliche Sinnentstellungen zu korrigieren.

Dass eine solche, den Prinzipien LACHMANNS verpflichtete Normalisierung ebenfalls ein Kunstprodukt ist, das von der fraglichen Überzeugung ausgeht, es habe auch im 12./13. Jahrhundert eine Art beständiges Hochdeutsch gegeben, welches nachträglich von den ungebildeten Abschreibern wieder verderbt worden sei, erhöht die Problematik eines derartigen Unterfangens, einem Hartmannschen Originaltext möglichst nahezukommen. Wie sollte man angesichts der dürftigen Überlieferungslage überhaupt noch Hartmanns Sprach- und Versstil, wie es EDWARD SCHRÖDER gefordert hat, rekonstruieren? Dennoch war man sich in den Anfängen der Editionsphilologie mehr oder weniger sicher zu wissen, wie Hartmann gesprochen bzw. geschrieben habe, wie sein Text des Erec ausgesehen hat, wie Hartmann gedichtet hatte – oder haben sollte – und lieferte dafür vielfach stilistische Begründungen. Für Aussagen zu Hartmanns Stil wurde immer wieder – auch von den Kritikern der ersten Ausgabe HAUPTS – LACHMANNS Edition des Iwein und das von ihm und GEORG FRIEDRICH BENECKE erstellte Wörterbuch im Anhang dieser Ausgabe herangezogen. Wie authentisch ein so erstellter Text wirklich ist, bleibt daher nach wie vor die große Frage. Dass man sich dabei mehr oder weniger im Kreis bewegte, schien nicht weiter zu stören: Aussagen zu Hartmanns Stil können nur anhand der Ausgaben getroffen werden, die Rückübersetzung, Normalisierung und eine Fülle von Konjekturen beinhalten, was insbesondere im Falle der Erec-Überlieferung dazu führt, einen Text nach den Merkmalen zu rekonstruieren, die man eigentlich erst daraus gewinnen möchte.1226

Wie sehr eine solche Textkritik auf einem mehr oder weniger indifferenten und subjektiv-rekonstruierten Stilempfinden gründet, belegt exemplarisch FRANZ PFEIFFER, der sich in besonderem Maße berufen fühlte, Hartmanns Original zu ‚retten‘. Zu HAUPTS Lesart von V. 1247 seiner ersten Ausgabe (V. 1248 der heute gängigen Editionen), er gwaltte mir mit sîner hant (anstelle des handschriftlichen geweltigt mich), muss er „im Namen des Dichters Einsprache erheben: solche Roheiten dürfen ihm nicht aufgebürdet werden“.1227 Hier wie anderswo wird die Textkritik des Erec an den stilistischen Merkmalen des Iwein, aber auch denen anderer Werke Hartmanns (u. a. des Gregorius und der Lyrik) festgemacht, ohne dabei jedoch in Rechnung zu stellen, dass diese Erkenntnisse ebenfalls nur aus kritischen Ausgaben gewonnen sind (insbesondere LACHMANNS Iwein), deren Texte auf ähnliche Weise entstanden und mit vergleichbaren Problemen belastet waren, auch wenn aufgrund der günstigeren Überlieferungssituation diesen Editionen mehr handschriftliches Vergleichsmaterial zur Verfügung stand.1228

Für die Erec-Philologie stellt sich dabei die Frage, inwieweit überhaupt noch stilistische Erwägungen dazu dienen können, eine wie auch immer geartete Authentizität des Hartmann-Textes herzustellen, wie die nachfolgenden Beispiele unterschiedlicher Lesarten aufzeigen.

Wie unbesorgt die Konjekturalkritik bisweilen mit dem Erec-Text umging, hat vielleicht am deutlichsten die bekannte Konjektur in V. 8521 um den saelden wec gezeigt, die gegen die Lesart der Handschrift (die von dem selbic weg spricht; so auch HAUPTS Ausgabe) von FEDOR BECH eingeführt und von LEITZMANN übernommen wurde und die erst seit wenigen Jahren wieder aus den maßgeblichen Ausgaben verschwunden ist – nicht ohne in der Zwischenzeit erhebliche Forschungsdiskussionen ausgelöst zu haben.1229 Die im Folgenden vorgestellten Lesarten des ‚Ambraser Erec‘ dürften zwar keine derart spektakulären Forschungsmissverständnisse aufdecken, zeigen jedoch, dass der Wortlaut des Ambraser Heldenbuches durchaus einen sinnvollen Text vorhält, der nur sehr selten wirklich unverständlich ist und einer Korrektur bedarf, freilich ohne darin Hartmanns Original sehen zu wollen. Die Lesarten zeigen jedoch, dass das, was man ‚Hartmanns Stil‘ nennt, einem Text des frühen 16. Jahrhunderts förmlich aufgezwungen wird, ihm aber keinesfalls gerecht werden kann (ob dagegen die Konjekturen Hartmann gerecht werden können, ist keine Stil-, sondern eher eine Glaubensfrage).

1. Als Graf Oringles auf den scheintoten Erec und die ihr Leid klagende Enite trifft, ist er von Enites Schönheit so überwältigt, dass er ihr einen Heiratsantrag macht. Dabei fordert er sie zunächst auf, ihre Klage doch nun endlich sein zu lassen: Zwar sei es richtig, den Ehemann zu betrauern, doch er fährt (nach der Ausgabe von KURT GÄRTNER) fort: diz ist der schœniste list / der vür schaden wæne ich vrum ist, / daz man sichs getrœste enzît.1230 Der ‚Ambraser Erec‘ lautet jedoch: für schaden der euch wenig frůmb ist. Das macht auf den ersten Blick wenig Sinn – warum sollte man sich um einen Schaden trösten, der einem wenig nützt?²1231 Verständlich wird diese Stelle vielleicht, wenn man Oringles Rede weiterverfolgt: Dieser gibt sich erst dann nämlich als Graf zu erkennen, verspricht Enite, ihre Armut in Reichtum zu verwandeln, und leitet seinen Heiratsantrag ein, indem er konstatiert: Secht nu wirt euch wol schein / das euch ewrs mannes todt frumet.1232 Dies korrespondiert mit der oben getroffenen Aussage: Oringles sucht zunächst Enite damit zu beruhigen, sie solle nicht allzusehr weinen, auch wenn ihr der Schaden augenscheinlich wenig Nutzen bringe, um ihr dann zu eröffnen, dass ihr der Tod ihres Mannes eben doch nützlich sein könne: dann nämlich, wenn sie ihn, den mächtigen Grafen, heirate.1233

2. Nachdem Erec wieder genesen ist und Oringles in seine Schranken verwiesen hat, reitet er mit Enite den Weg von dessen Schloss zurück. Sämtliche Ausgaben führen dann aus: ûf die strâze er kêrte / die er gebâret dar reit (V. 6747 f.: „er kehrte auf die Straße zurück, die er zuvor auf der Bahre gekommen war“). Die Konjektur gebâret (V. 6748) geht auf einen Vorschlag von REINHOLD BECHSTEIN zurück, die Handschrift hat nämlich gewert, aus dem BECHSTEIN gebert = gebârt liest, wobei er einschränkend zugibt, dass Hartmann im Iwein dieses Partizip nur einmal in der Form gebârt gebraucht und möglicherweise nie gebêrt gesagt habe.1234 Damit unterstellt BECHSTEIN nicht nur, dass Hans Ried beim Schreiben dieses Wortes b und w vertauscht hat (was öfter vorkommt), sondern auch, dass er oder seine Vorlage von der geläufigen Form gebart (mit a) auf die Nebenform gebert (mit e) ausweichen.1235 Es stellt sich die Frage, warum man so komplizierte Annahmen machen muss, anstatt beim handschriftlichen Text zu bleiben: Entweder, man belässt es bei gewert, dann hieße es, dass Erec die Straße nun wieder gewappnet entlangreitet, nachdem er es zuvor bewusstlos und ohne seine Waffen führen zu können tat. Das wäre zwar sprachhistorisch nicht befriedigend, weil gewehrt (als Nebenform von bewehrt) nur selten und erst im 16. Jahrhundert belegt, ansonsten aber immer in der Formel der ‚gewehrten Hand‘ überliefert ist; es spräche dennoch nichts dagegen, dass zumindest Hans Ried diese Wortbildung geläufig war.1236 Genauso bedenkenswert ist ein Vorschlag OKKENS, hier einen einfachen Augensprung des Schreibers zu vermuten und statt gewert vielmehr gegenwert zu lesen: Dann hieße das, Erec ritte einfach die Straße wieder in die entgegengesetzte Richtung.1237

3. Zuletzt noch zwei Stellen, bei denen die Lesart der Handschrift zumindest in der Edition von MANFRED GÜNTER SCHOLZ bereits Berücksichtigung gefunden hat: Wenn ganz am Anfang der Erec-Handlung zunächst eine Jungfrau zu Iders und dem Zwerg geschickt und von diesem dann mit der Geißel geschlagen wird, so kommentiert der Erzähler (V. 59) nach dem Text des Hans Ried: mit solher abentewr schied sy dann. Desgleichen heißt es nach Erecs Sieg über Iders und dessen Unterwerfungsangebot (V. 964): Des abenteurt In Ereck do. Seit der Ausgabe von MORIZ HAUPT haben (auf einen Vorschlag LACHMANNS) alle anderen Herausgeber abentewr stets in antwurt umgewandelt (mit selher antwurt schiet si dan – Des antwurte im Êrec dô). Auch wenn die Lesart der Handschrift unkonventionell sein mag und „die Wörterbücher aventiuren mit personalem Objekt nicht kennen“1238, hat sie hier durchaus ihre Berechtigung: Das Wort Abenteuer bzw. eben âventiure scheint hier geradezu programmatisch verwendet zu sein; zum einen, weil die erste Stelle ja tatsächlich die Initialaventiure Erecs auslöst, der in Vers 492 selbst sagt, dass er auf abenteure reite; in V. 964, unmittelbar nach dem Kampf mit Iders, hat er sie dann erfolgreich bestanden: Er ist einer, der aventiurt, wobei die eigentlichen abenteure jetzt erst ihren Anfang nehmen, so dass der Eindruck entsteht, der Text spiele hier regelrecht mit diesem für den Artusroman konstitutiven Begriff – nicht durch eine ironische Brechung wie im Iwein auf die Frage aventiure, was ist das?, sondern auf der Wortebene.

Der Erec und der ‚Mantel‘: Zwei Fragmente oder ein Text?

Abseits einer solchen Text- und Stilkritik ist der aventiure-Begriff noch in anderer Hinsicht programmatisch, und zwar was die Anbindung des Erec an das sogenannte ‚Mantel‘-Fragment betrifft, das in der Handschrift unmittelbar vorangeht, denn bekanntlich fehlt dem Erec des Ambraser Heldenbuches der Anfang. Hartmanns Erzählung ist ein Text vorangestellt, der allgemein als ‚Mantel‘ bezeichnet wird und, wohl im Rückgriff auf ein altfranzösisches Vorbild, von einer Tugendprobe am Artushof erzählt, welche die dortigen Damen mithilfe eines Mantels bestehen müssen. Mitten im Satz, ohne Reim und in der Handschrift durch nichts kenntlich gemacht, setzt dann unvermittelt die Handlung des Erec ein, wie sie aus Chrétiens Vorlage bekannt ist. Aufgrund dieses plötzlichen und unorganischen Überganges ist vielfach vermutet worden, dass Ursache hierfür ein Defekt der Vorlage sein könnte, ein Seitenausfall beispielsweise, der den Schluss des ‚Mantels‘ und den Anfang des Erec verloren gehen ließ, und man hat dem Schreiber Hans Ried gar unterstellt, ihm sei eine solche Lücke gar nicht bewusst gewesen.1239 Dagegen stehen Überlegungen, wonach die ‚Mantel‘-Erzählung als Ersatz für einen (wie auch immer verloren gegangenen) Anfang des Erec wohl weniger Hans Ried zuzuschreiben ist, sondern vielmehr bereits seine Vorlage eine solche Kompilation dargestellt haben dürfte.1240 Dafür sprechen zahlreiche Bezüge und Verweise auf die Erec-Handlung, die einem Kompilator offenbar bekannt gewesen sein muss.

Über die Gründe einer solchen Kompilation kann man nur spekulieren: Ging der Vorlage des Ambraser Heldenbuches der Anfang des Erec verloren und wurde darum durch den des ‚Mantel‘ ersetzt? Handelt es sich beim ‚Mantel‘ überhaupt um eine ursprünglich eigenständige Erzählung, oder diente die altfrz. Verserzählung Du mantel mautaillé nur als Folie, um einen neuen oder anderen Anfang von Hartmanns Erzählung zu schaffen? Immerhin fällt gegenüber der frz. Version eine entscheidende Änderung auf: Ist es dort die Geliebte des Carados, Galatea, welche die als Keuschheitsprobe angelegte Mantelprobe besteht und damit dem Artushof aus der Verlegenheit hilft, so wird hier Enite, die in der frz. Erzählung gar nicht auftaucht, zur Heldin der Mantelprobe gemacht, und zwar kurz vor dem inhaltlichen und syntaktischen Bruch, der nach allgemeiner Forschungsmeinung zum tatsächlichen Anfang des Erec führt. Leitet die Treueprobe Enites zur eigentlichen Erzählung um sie und ihren Ehemann Erec? „Dann wäre der ‚Mantel‘ kein Fragment, sondern der sekundär hinzugedichtete ‚Erec‘-Anfang. […] Es würde sich lohnen, den umfangreichen ‚Mantel‘-Prolog (Vers 1–90) probeweise als sekundär hinzugedichteten ‚Erec‘-Prolog zu lesen.“1241

Betrachtet man dahingehend den ‚Mantel‘ genauer, so fällt zunächst der sehr ausführliche und umständliche Prolog auf, der so gar nicht zur eher schlichten und burlesken Handlung, die dann folgt, passen will.1242 Der Prolog ist sehr allgemein gehalten und wiederholt die typischen Muster arthurischen Erzählens: Mahnung zur Tugendhaftigkeit und Darstellung von Artus als Ideal höfischer Tugend, das in den Erzählungen um ihn weiterlebt. Die 90 Verse des Prologs zerfallen in drei fast gleich große Einheiten (28–30–32 Verse), die in der Handschrift jeweils durch Initialen voneinander abgesetzt sind.1243 Sie führen, kurz gesagt, vom Allgemeinen zum Besonderen: Der erste Block betrachtet ganz grundsätzlich die Differenz zwischen frumbkeit und Untugend, zwischen guten, ehrbaren und bösen, schändlichen Menschen: Sie zu vergleichen sei aufgrund ihrer absoluten Gegensätzlichkeit gar nicht möglich, man kann entweder nur die Tugendhaften, oder aber nur die Bösen einander gegenüberstellen.

Der zweite Abschnitt leitet dann über zu Artus:

Der künig Artus, so man sait,
der je krone der frümbkait
trúg in seinen zeiten,
davon noch so weiten
sein nam ist bekant. (‚Mantel‘, V. 29–33)1244

Das erinnert an den Prolog des Iwein, der aber nicht die frümbkait, sondern vielmehr saelde und êre (Iwein, V. 3)1245 programmatisch setzt. Auch dort ist Artus exemplarisch:

er hât bî sînen zîten
gelebet alsô schône
daz er der êren krône
dô truoc und noch sîn name treit. (Iwein, V. 8–11)

Die Parallelen gehen noch weiter: Der dritte Abschnitt des ‚Mantel‘-Prologs führt schon zur eigentlichen Erzählung hin und preist nochmals Tugenden und Ehre des König Artus:

man höret In heut nennen
nicht anders, dann Er heute lebe.
sein tugent von der sälden gebe
hat im das gefúeget. (‚Mantel‘, V. 66–69)

Der Erzähler fragt sich, weshalb kaum jemand darüber klagt, dass die Quelle der Tugenden nicht mehr auf der Welt sei, dessen Vorbild doch ewig leben solle, ja dass viele seinen Namen sogar in den Wind schlügen. Im Iwein-Prolog heißt es über Artus weiter:

sî jehent er lebe noch hiute:
er hât den lop erworben,
ist im der lîp gestorben,
sô lebet doch iemer sîn name.
er ist lasterlîcher schame
iemer vil gar erwert
der noch nâch sînem site vert. (Iwein, V. 14–20)

Beide Prologe spielen mit der Vorstellung einer Wiederkehr König Artus, dessen vermeintliche Unsterblichkeit jedoch beide Male auf sein Fortleben in der Erzählung bezogen wird: Nicht die Person, sein Name ist unsterblich, denn es ist die Literatur, die sein Weiterleben ermöglicht. Während der Iwein-Prolog dann aber auf den Autor Hartmann zu sprechen kommt, der eben dieses literarische Weiterleben mit seiner Erzählung ermöglicht, führt dagegen der ‚Mantel‘-Prolog pessimistischer (und etwas holpriger) aus, es werde heutzutage kaum mehr beklagt, sondern hingenommen, dass Artus selbst nicht mehr am Leben sei, im Gegenteil:

wie mochten sie im [sc. Artus] der wercke bei
gesteen, da sie den namen
fliehen? Ich wäne, Sie schamen
In täten oder mere. (‚Mantel‘, V. 84–87)

Der Iwein setzt Artus als Vorbild für die Gegenwart, der ‚Mantel‘ dagegen beklagt, dass die arthurischen Tugenden verloren gingen und sein Name nichts mehr bedeute. Beide operieren sie jedoch mit dem literarischen Fortleben im Namen, sie verwenden die gleichen Signalwörter, den gleichen Aufbau, kommen dann lediglich zu einem anderen Befund für die Gegenwart. Zwar sind die Sagen vom Fortleben Artus weitbekannt, ist die literarische Umdeutung seines Weiterlebens in den Erzählungen nicht erst von Hartmann aufgebracht worden, dennoch sind die Ähnlichkeiten in der Formulierung und in der Aussage zu auffällig und machen deutlich, dass der Prolog des ‚Mantel‘ stilistisch am Iwein-Prolog orientiert ist.1246 Das zeigt auch der ähnlich gestaltete Aufbau: Der ‚Mantel‘-Prolog beginnt mit mehreren Sentenzen, in denen die Tugendhaften (frúmbkait) mit den Lasterhaften kontrastiert werden; der nächste Abschnitt (V. 29, in der Handschrift mit einer Initiale beginnend) bringt dann Artus ins Spiel: Die Erzählungen über ihn sollen vorbildhaft sein und zur Nachahmung anregen, was dem Erzähler Gelegenheit gibt, davon zu berichten. Mit der nächs ten Initiale in der Handschrift (V. 59) werden dann erneut Artus und seine Tugendhaftigkeit angesprochen, welche die Menschen heute jedoch, wo er tot ist, gering schätzen.1247

Auch inhaltlich sind die Leitgedanken beider Prologe mit der nachfolgenden Erzählung verbunden. Hartmann zeigt im Iwein an seinem Protagonisten, dass das Streben nach Ehre und das ritterliche strîten nach Lob dann problematisch werden, wenn man sie als einzige Aufgabe betrachtet; Iwein muss das im Prolog Geforderte mit seinen Pflichten gegenüber Laudine in Einklang bringen. Der ‚Mantel‘-Prolog lässt sich in vergleichbarer Weise auf die künftige Handlung der Mantelprobe beziehen; es geht um die Unterscheidung und Unvereinbarkeit von tugendhaft und schlecht:

nu sehent, wie ungeleiche Si ziehent,
wann daz die bösen fliehent,
das minnet aber die guten. (‚Mantel‘, V. 13–15)

Artus als Idealfigur der frümbkait wird in der nachfolgenden Erzählung Kai als Lästermaul gegenübergestellt, bei dessen Bosheiten die Aussage des Prologs wiederholt wird, es komme fast nie vor, dass sich Untugend in Tugend verwandele (vgl. V. 16–21); erst dann setzt die eigentliche Handlung mit dem Pfingstfest am Artushof ein.1248 Auf der anderen Seite ist der Prolog in seiner Weitschweifigkeit und der – ziemlich konventionellen – Konstatierung allgemeiner Tugend-Grundsätze zugleich weitaus umfassender, als es für die eher schlichte Handlungsführung angemessen wäre. Zudem erhält das Tugendlob des König Artus schon bald Risse, wenn der zuvor als so vollendeter Gastgeber geschilderte König sich als wahrer Tyrann erweist, der mit Gewaltandrohung seine Gäste zum Fest bestellt und unter allen Umständen an seinem Brauch festhält, nicht ohne ein abenteur (vgl. V. 398 und V. 409) zu essen.

Bei der Mantelprobe versagt als erste Genover, wodurch ihre fehlende Treue offensichtlich wird:

Der kunig ward des ungefreut,
daz der mantl so ouget
an der künigin solhe untreu. (‚Mantel‘, V. 747–749)

Anbindungen der Handlung an den Prolog sind somit durchaus vorhanden, und dennoch befriedigen sie nicht in vollem Umfang. Weshalb diese Kopflastigkeit, diese umständliche Weitschweifigkeit, die die übliche höfische Erzählweise repetiert, um sie anschließend in der burlesken Handlung sogleich wieder in Abrede zu stellen? Weshalb werden Erwartungen geschürt (allen voran die Notwendigkeit der Unterscheidung von Tugendhaftigkeit und Untugend), die die nachfolgende Handlung, bei der eine Dame nach der anderen in der Tugendprobe schmählich versagt, nicht einlöst? Die Ähnlichkeiten zum Iwein-Prolog sind auffällig, aber dieser ist wesentlich kürzer (er umfasst insgesamt 30 Verse von über 8000, der des Lanzelet beispielsweise 40). Wenn es sich beim Ambraser ‚Mantel‘ tatsächlich um eine ursprünglich eigenständige Erzählung gleich dem französischen fablieau gehandelt hat, so kann man zwar über deren tatsächlichen Umfang nur mutmaßen, doch ein Vergleich mit dem französischen Text zeigt, dass die Handlung recht bald zu Ende gewesen sein dürfte. Für eine nur etwas über 1000 Verse lange Dichtung mutet die Ausführlichkeit des Prologs aber doch seltsam an.1249

Es muss daher, wie das JOACHIM BUMKE angeregt hat, überlegt werden, ob der Prolog oder sogar der ganze ‚Mantel‘ nicht gezielt auf den nachfolgend überlieferten Erec hin konzipiert ist. Wichtigster Hinweis dafür ist der Auftritt Erecs und Enites am Schluss des ‚Mantels‘, die wie von ungefähr die Szenerie betreten, nachdem nach der Königin auch die übrigen Damen bei der Probe versagt haben:

Nu was es an den zeiten
daz Erech frauen eniten
fúr den künig prachte,
der Im des gedachte,
ob Si den mantl annäme. (‚Mantel‘, V. 954–958)

WERNER SCHRÖDER hat hierin den ersten Auftritt Enites am Artushof sehen wollen, wie er bei Hartmann geschildert wird.1250 Korrespondenzen zwischen beiden Szenen sind selbstredend augenfällig, dass der ‚Mantel‘ damit jedoch dieselbe Szene ins Auge fasst, scheint mir dagegen wenig plausibel: Denn dieser Szene geht bei Hartmann die breit geschilderte Einkleidung Enites durch die Königin voraus, bei der sie u. a. auch einen Mantel umgehängt bekommt (Erec, V. 1566–1572); diese Motivdoppelung hat vermutlich SCHRÖDER im Blick gehabt. Es kann sich jedoch nicht um denselben Mantel handeln, denn dieser wird Enite von Ginover umgehängt, und erst durch ihre Einkleidung wird Enites höfische Schönheit auch nach außen hin offenbar (vgl. Enites Schönheitspreis im Erec, V. 1698–1735).1251 Aufgrund der lakonischen Kürze der Szene im ‚Mantel‘ können die beiden Abschnitte auch stilistisch nicht verglichen werden. Enites Auftritt im ‚Mantel‘ ist also nicht ihr erster Auftritt am Artushof, vielmehr wird sie als amîe Erecs bereits bei den Rezipienten als bekannt vorausgesetzt und hat als solche das Recht und die Pflicht, sich der Mantelprobe ebenfalls zu unterziehen – und sie besteht sie lediglich mit dem Schönheitsfehler, dass der Saum drei Finger breit zu kurz ist.

Damit erweist sich Enite als die treueste Frau am ganzen Hof: sovil was ringer / Ir schulde denn der davor (‚Mantel‘, V. 968 f.). Gegenüber der (mutmaßlichen) französischen Vorlage ist das die entscheidende Änderung: „Im Ausbleiben einer tadellosen Mantelanprobe ist die Möglichkeit einer Steigerung angelegt, zumal da der Preis fehlt.“1252 Der Text des Ambraser Heldenbuches dagegen gelangt nur wenig später mit einer weiteren Schelte des unhöfischen Verhaltens Kais dahin, wo nach überwiegender Auffassung der Forschung der ‚eigentliche‘ Text des Erec Hartmanns von Aue einsetzt. Das praktisch unkommentierte Bestehen der Tugendprobe durch Enite, bei der es ausdrücklich um treue geht, setzt eigentlich eine nachfolgende Erklärung voraus. Eine solche bleibt der Text an dieser Stelle aber gerade schuldig, die Erläuterung wird vielmehr nachgereicht, indem im unmittelbaren Anschluss die Geschichte von Erec und Enite – und damit auch von Enites Treue zu Erec – direkt erzählt wird. Der ‚Mantel‘ würde damit die Erzählung quasi von hinten anfangen, er setzt die erwiesene Treue Enites gegenüber ihrem Mann in der (fast) bestandenen Tugendprobe bereits voraus, um danach zu berichten, worin sich diese gründet. Man müsste den ‚Mantel‘ damit als eine Art ‚cliffhanger‘ verstehen, der zunächst konstatiert, welche Frau am Hofe die größte Treue besitzt – nämlich Enite – um dann auszuführen, wie es dazu gekommen ist.

Problematisch bleibt allerdings weiterhin der scharfe Übergang, der ohne Reim und mit deutlichem Orts- und Szenenwechsel nun Erecs Ausritt am Artushof beschreibt, also mit jener Handlung einsetzt, die aus Chrétiens Text bekannt ist.1253 Es ist jedoch, wie INEKE HESS bemerkt,1254 auffällig, dass unmittelbar davor eine Schmähung des boshaften Kais platziert ist, so dass die Figur des Lästermauls mit der Erecs direkt kontrastiert wird. Mit der Gegenüberstellung von Erec und Kai am Ende des ‚Mantels‘ wird der im Prolog aufgegriffene Unterschied zwischen ,tugendhaft‘ und ,untugend haft‘ ein weiteres Mal aufgegriffen; zuvor schon hat der ‚Mantel‘ „Keie als Exempel für einen untugendhaften Mann unter Tugendhaften entworfen“.1255

Noch wichtiger sind aber die mit dem oben bereits angesprochenen Begriff des abenteuers verbundenen inhaltlichen Korrespondenzen. Es sind abenteure, die Artus so vehement zu hören verlangt, bevor das Pfingstfest beginnen kann. Mit der Mantelprobe ist es da nur bedingt schon getan, vielmehr folgt die eigentliche aventiure, das abenteure, erst noch, nämlich mit der Erzählung von Erec und Enite, in der die bereits den ‚Mantel‘ bestimmende Treue-Thematik gleichermaßen zentral ist. Umso auffälliger muss dieses Leitwort dann auch am Beginn der ‚eigentlichen‘ Erec-Handlung des Ambraser Heldenbuches erscheinen, eine Positionierung, die durch die Konjekturen jedoch bisher verdeckt war (s. o.): Mit der entscheidenden Wendung, dass Enite als einzige die Mantel- und damit die Treueprobe besteht, ist endlich das Abenteuer, die aventiure, aufgerufen, die es nun zu erzählen gilt, und für welche die schwankhafte ‚Mantel‘-Szenerie nur das Tableau bildet, um die Treue Enites gegenüber dem Protagonisten Erec narrativ zu begründen.

Ob man bei ‚Mantel‘ und Erec überhaupt noch von zwei getrennten Texten sprechen kann, ist, wie eben gezeigt, fraglich; unklar bleibt, wie sehr sich der Schreiber Hans Ried dessen bewusst war. Aufschluss könnten dabei aber die Überschriften und die Tabula des Heldenbuches geben – nicht nur die zum ‚Mantel/Erec‘, sondern die der anderen Texte, namentlich des ersten Abschnitts, der, grob gesagt, von Ritterlichkeit und Minne handelt und der von Hartmann-Texten dominiert wird.1256 Der nach Strickers Frauenehre erste längere Text, Mauritius von Craûn, ebenfalls unikal im Ambraser Heldenbuch überliefert, erhält in der Tabula, dem vorangestellten ‚Inhaltsverzeichnis‘, folgenden Titel:

Von künig Nero einem Wüetterich. der aúch wie ein fraw swanger wolt sein. Und sein Mueter auffschneiden liess. umb sein furwitz willen usw. Auch wie Er Rom zerstöret. wie Karolús nach Erstörung Roms die Land betzwúngen. Dartzů wie Olifer und Růland sich Ritterlich gehalten haben. Und wie Mauritius von kraẃ. liebet die Gräfin. von Beamundt.

Dies entspricht ganz dem frühneuzeitlichen Stil langer Titeleien, doch können Überschrift und tatsächliche Erzählhandlung nicht ganz in Deckung gebracht werden: Von den Schandtaten Neros, Roms Zerstörung und Karls Ritterlichkeit berichtet die Geschichte nämlich nur in den ersten etwa 250 Versen, um dann zu Mauritius überzugehen, dem eigentlichen Helden der Erzählung, dem die Tabula jedoch lediglich einen Satz widmet. Die Überschrift im Textteil der Handschrift ist (wohl auch aus Platzgründen) sogar noch wesentlich kürzer und damit ganz irreführend, denn hier werden lediglich die üblen Taten Neros aufgegriffen, der Rest, den die Tabula noch aufführt, fehlt ganz.1257

Die Tabula des Heldenbuches ist, wie nicht zuletzt eine kodikologische Untersuchung zeigt (Einfügung zusätzlicher Lagen), nachträglich erstellt worden. Es spricht vieles dafür, dass dieses Inhaltsverzeichnis nicht auf eine Vorlage zurückgeht, sondern eher eine Abschrift der einzelnen Textüberschriften darstellt,1258 wobei nicht zuletzt das Beispiel des Mauritius von Craûn zeigt, „dass die Tabula gegenüber dem Textteil die modernere, dem präzisen Buchtitel sich annähernde Form wiedergibt“.1259 Inwieweit Hans Ried die Titeleien der einzelnen Texte seiner Vorlage entnahm oder selbst entwarf, bleibt ungeklärt, klar scheint jedoch, dass namentlich die Überschriften des ersten Abschnitts der eher höfisch geprägten Texte weniger konkrete Titel darstellen, sondern vielmehr Inhaltszusammenfassungen.1260

Das lässt sich auch am Titel des Iwein zeigen: Von künig Artus hochzeit. auch von seinem Recht. desgleichen Hofgesind. und geschäfften. als von Calogrinant. Chaÿ. her Yban. und annderen. Hier gibt die Überschrift einfach die erste Szene am Artushof wieder (erneut die ersten gut 250 Verse), in der Kalogrenant und Kai, die ansonsten nur Randfiguren sind, zusammen mit dem Protagonisten Iwein auftreten; dass es eigentlich nur um den letztgenannten geht, wird auf diese Weise überhaupt nicht klar. Bei der ‚Mantel/Erec‘-Kompilation verfährt die Überschrift (fast gleichlautend mit dem Titel der Tabula) zunächst im gleichen Stil:

Aber von künig Artus und seinem Hofgesind, auch Helden und handlúngen, Als von herrn Gabein, khai, Irecke, eins Mantls halben, so künig Artus hausfrau und ander Frauen anlegen múesten, dardurch man Innen ward Irer treu.

Auch hier wird wieder nur auf die erste Handlungssequenz angespielt, nämlich die Mantelprobe, doch dann fährt die Überschrift fort: Súnderlich von Erick und seiner hausfrauen ein tail ain schön lesen. Nicht nur um den Mantel geht es, sondern vor allem (sunderlich) um Erec und seine Frau, und anders als z. B. bei der Titelei des Mauritius von Craûn ist dieser – ja bereits erwähnte – Name ein zweites Mal genannt und mit dem Wort sunderlich vom übrigen Teil der Überschrift abgesetzt. Das mag vorerst nicht mehr als ein Indiz sein, aber es scheint, als sei sich Hans Ried doch bewusst gewesen, dass ab V. 994/995, dem ‚eigentlichen‘ Beginn des Erec, ein neuer Handlungsstrang aufgenommen wird.1261

Sicherlich bleibt der abrupte Übergang von der einen zur anderen Handlung, der plötzliche Szenenwechsel vom Hof zur Heide mitten im Reim erratisch. Als organisches Ganzes erscheinen ‚Mantel‘ und ‚Erec‘ nicht, wohl aber als gewollte, vielleicht nicht unbedingt gelungene Kompilation, wobei unklar bleiben muss, ob der Kompilator den Text komplett neu geschaffen hat, um ihn der (vielleicht für ihn schon unvollständigen?) Erzählung Hartmanns voranzustellen, oder ob er eine bereits bestehende Erzählung nach diesen Maßgaben umformte. Klar ist jedenfalls: ‚Mantel‘ und ‚Erec‘ sind im Ambraser Heldenbuch als ein Text zu betrachten, nicht nur aus kodikologischen, sondern aus inhaltlichen Gründen. Dafür spricht neben der Überschrift der langatmige Prolog, der stilistische und inhaltliche Elemente des Iwein-Prologs aufnimmt, dafür spricht die Figurenzeichnung Keies, vor allem aber die Treue-Thematik, die beide (‚Mantel‘ und ‚Erec‘) gleichermaßen durchzieht.

Der Erec im Ambraser Heldenbuch – ein Text des 16. Jahrhunderts

Bei der Debatte über Lesarten des Ambraser Heldenbuches, die als ‚echt Hartmannisch‘ qualifiziert werden oder eben nicht, muss vor allem bedacht werden, dass der überlieferte Text nicht nur in seinen Überschriften in dieser Form aus dem 16. Jahrhundert stammt. Es bleibt daher stets zu fragen, wie authentisch das, was uns heute überliefert ist, noch überhaupt sein kann. Allgemein wird angenommen, dass Hans Ried mit einer relativ alten Vorlage gearbeitet hat; bereits MORIZ HAUPT vermutete ihre Entstehung noch im 13. Jahrhundert. An den Fragmenten aus Koblenz und St. Pölten zeigt sich (anders als bei den Wolfenbütteler Fragmenten), dass der Wortlaut des Ambraser Heldenbuches nicht weit von Handschriften abweicht, die ins 14. und sogar

13. Jahrhundert zurückreichen. Die Fragmente enthalten jedoch nur wenige hundert Verse, die für eine Vergleichsbasis viel zu schmal sind. Auf der anderen Seite ist aber auch klar, dass es sich bei Rieds Vorlage ebenfalls um eine bereits bearbeitete Version des Hartmann-Textes gehandelt haben muss. Das ist bereits anhand des vieldiskutierten Namenkatalogs festgestellt worden, dessen zweiter Teil offenbar nachträglich interpoliert worden ist.1262

Ob derartige Interpolationen die Ausnahme sind, oder ob Rieds Vorlage bereits systematisch bearbeitet worden ist, kann nicht mehr festgestellt werden. Dass dies der Fall sein könnte und die Bearbeitung damit noch weitaus jünger gewesen sein müsste als angenommen, ließe sich allerdings anhand von Sprichwörtern vermuten, die im Text auftauchen:1263 Der Aussage du unwirdest dich / daz du fragest also vil / daz dir niemand sagen wil (V. 5453–5455) liegt das Sprichwort zugrunde „Viel Fragen macht unwert“, das im 15. und 16. Jahrhundert breit bezeugt ist, für das vorher jedoch keine entsprechende Formulierung überliefert ist.1264

Ähnliches gilt für Erecs Rede an Mabonagrin, dessen Drohungen er mit den Worten zurückweist:

ich achte doch nicht auf ewr dro
und wil si wol genossen
Zwaien pergen grossen.
die schwern bei ir sinnen,
daz si wolten gewinnen
in selbs ein getzames kind,
ein grosses, als auch si da sint.
da verhangkte des got,
daz es ward der leute spot
und geparen ein Veltmaůs. (V. 9049–9058)

An dieser Stelle wird auf das bekannte Sprichwort „Unter großem Geschrei gebiert der Berg ein Mäuschen“ angespielt, das zwar bereits in der Antike bekannt und durch die Fabelsammlung des Phaedrus tradiert ist, das jedoch erst im Zuge der humanistischen Antikerezeption auch im deutschen Sprachraum ab dem 15. Jahrhundert Verwendung gefunden hat, während es in den mittelalterlichen Texten nicht nachzuweisen ist.1265 Auch die Weisheit, man solle, wie es Enites Vater zu Erec sagt, dem Wirt unbedingt seinen Willen lassen (man sol dem wirte lan / seinen willen, das ist guet getan, V. 348 f.), ist zwar vielfach in lateinischen Spruchsammlungen belegt, im Deutschen aber nur durch den sogenannten ‚Rumpf-Cato‘ bezeugt.1266

Textkritisch interessant wird schließlich die Aussage: „Mit Schlaf gewinnt man keine Ehre“, die im Erec zweimal (V. 2527 f.: wer bejagt noch je / mit schlaffe dhein Eere?; vgl. auch V. 4096–4101) erscheint und hinter der das Sprichwort „Selten erringt der schlafende Mann den Sieg“ vermutet werden kann. Das Sprichwörterlexikon vermag es außer in nordischen Quellen allerdings nur in einem einzigen mhd. Text nachzuweisen: in der Kudrun, die ebenfalls nur durch das Ambraser Heldenbuch überliefert ist.1267 Die kritische Ausgabe der Kudrun verzeichnet die Sentenz folgendermaßen: ‚Swer an dem morgen früje gerne welle gesigen‘, / sprach Wate der vil alte, ‚der sol sich nicht verligen.‘1268 Das Verb verligen lässt im Kontext des Erec natürlich besonders aufhorchen, doch ein Blick in die Handschrift zeigt, dass ausgerechnet hier eine Konjektur des Herausgebers vorliegt: Das Ambraser Heldenbuch überliefert den

Schluss von Wates Rede nämlich mit der sol ligimage (fol. CLXrc). Im Schlaf liegend Sieg und Ehre zu erlangen würde natürlich die Verhältnisse genau umkehren, so dass eine Konjektur an dieser Stelle durchaus gerechtfertigt scheint; sie zeigt aber, wie problematisch das Verhältnis zum tatsächlichen Überlieferungskontext ist, denn genau genommen überliefert nicht die einzige Handschrift der Kudrun, sondern nur die kritische Ausgabe dieses Sprichwort.

Diese nur punktuellen Befunde machen deutlich, dass es durchaus unsicher ist, ob die Verwendung all dieser Sprichworte wirklich in jedem Fall bereits Hartmann zugerechnet werden kann.1269 Denn es ist mehr als verwunderlich, dass einige von ihnen überhaupt keine von Hartmann ausgehende oder zu ihm führende Verwendungstradition besitzen, vielmehr hat sich für die ersten hier genannten Beispiele eine solche erst in der humanistischen Antikenrezeption herausgebildet. Natürlich wäre es prinzipiell möglich, dass Hartmann die hier aufgeführten Sentenzen bereits gekannt und für sein Werk verwendet hat, unerklärlich bleibt dann allerdings, weshalb sie erst drei oder vier Jahrhunderte später schriftlich bezeugt sind. Zu klären wird diese Frage nicht sein, aber es spräche einiges dafür, dass nicht nur Teile des Namenskatalogs sekundär in den Text eingefügt worden sind – durch den Schreiber oder seine Vorlage, an der Hans Ried getreu festgehalten hätte. Zu dessen Zeit, im 16. Jahrhundert, sind alle darin aufgeführten Sentenzen schließlich auch in der Volkssprache bekannt.

All dies sind nur Mosaiksteinchen, die jedoch immer wieder das Gesamtbild in Frage stellen, das wir von jenem ersten Artusroman Hartmanns auch weiterhin noch haben, und die darum auch jede stilistische Aussage zu diesem Werk problematisch werden lassen. Trägt man all die kleineren und größeren Indizien zusammen, so ist die Frage eben nicht zu beantworten: Ist es Hartmann von Aue – oder Hans Ried?