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Er habe stets das Gefühl gehabt, sagte Helstedt während eines nächsten Besuchs bei Sörensen, dass Träume in einer seltsamen Asymmetrie zum Alltagsleben stünden. Beide Erlebniswelten seien nicht aufeinander reduzierbar, seien widersprüchlich, schlössen sich gegenseitig aus und stünden doch in einer Wechselwirkung. Sie seien oft notwendig zum Verständnis eines Erlebnisses.

Sörensen sah seinen Freund versonnen an, griff dann zum Weinglas, nahm einen Schluck, ohne den Blick von Helstedt zu wenden, um ihn erst zu senken, als er das Glas auf den Tisch zurückstellte. In seiner bedächtigen Art ließ er ein »Hm-hm« hören, das in der Regel einen Widerspruch einleitete. Doch etwas überraschend fragte Sörensen, wie es denn seiner Zehe gehe, ob sie noch immer schmerze.

Sie saßen am offenen Fenster, und Helstedt liebte den Ausblick auf den Sortedams Sø und die kleine Insel mit den Kormoranen im dürren Geäst. Er hatte seinen Freund um die Wohnung beneidet, die an einer Uferpromenade lag, die sehr ruhig, aber auch sehr teuer war.

Er sei beim Arzt gewesen, wie er ihm empfohlen habe. Doch die Diagnose sei nicht eben beruhigend. Es handle sich um einen ersten Gichtschub. Der Arzt habe ihm eine Liste mit Speisen und Getränken mitgegeben, die er meiden sollte, und damit ein Problem vergrößert, das er ohnehin habe.

– Seit Ellies Krankheit – und nach ihrem Tod erst recht – esse ich nicht sehr gesund, zudem zu unregelmäßig. Ich habe keinen Appetit und Kochen habe ich nie gelernt.

Wieder ließ Sörensen sein nachdenkliches »Hm-hm« hören, das Helstedt etwas ärgerte. Sörensen hatte gut »Hm-hm« machen, seine Frau Helga war eine wunderbare Köchin, kümmerte sich um den Speiseplan und Einkauf. Er brauchte sich bloß hinzusetzen und zu essen, ohne sich um das Was und Wie des Zubereitens kümmern zu müssen.

– Was Traum und Alltag betrifft, die deiner Meinung nach nicht aufeinander reduzierbar sind und sich gegenseitig ausschließen, muss ich dir widersprechen. Es gibt sehr wohl eine ursächliche, ja auch logische Verbindung.

Sörensen verwies auf Freud, redete davon, dass verdrängte oder belastende Erlebnisse in eine symbolische Sprache übersetzt würden, die vielleicht widersprüchlich erschienen, es aber nicht seien.

– Wie immer es sein mag, sagte Helstedt, um eine Diskussion zu vermeiden, meine Bemerkung zur Asymmetrie von Traum und Wachleben war nur ein Gedanke, um von einem Erlebnis zu berichten, das mir anfänglich wie die Fortsetzung eines morgendlichen Traums erschienen ist.

In ihm habe er eine Stadt von großer Schönheit gesehen, deren Straßen und Bauten von klarer Transparenz und Leuchtkraft gewesen waren, als seien sie aus kristallener Durchsichtigkeit erbaut.

– Doch dann ist mir bewusst geworden, während ich meinen Morgenkaffee trank, dass das, was ich nun zu sehen bekam, kein Traum war, auch wenn meine gewohnte Umgebung sich ähnlich leuchtend und transparent zeigte wie die Stadt in meinem Traum.

Wie er sich die veränderte Umgebung vorstellen müsse, fragte Sörensen.

– Ich saß wie jeden Morgen in der Küche. Die Sonne kam bereits wieder über den Horizont, und während ich meinen Kaffee trank, blickte ich ins benachbarte Zimmer mit der Balkontür. Doch was immer ich ansah, ob Tisch, Boden, Wände, aber auch die Äste und Blätter in den Scheiben der Balkontür: alles war vollständig durchsichtig oder auch leer. Ein lichtes, helles Blau strahlte von einer Art Glutfunken, aus denen die Gegenstände bestanden, in verschiedener Dichte und Schnelligkeit ihrer Bewegungen. Doch diese Glutfunken waren keine festen Körper oder Kügelchen, sie waren – vielleicht trifft es die Bezeichnung am besten – bewegte Zustände von Energie, von unglaublicher, leuchtender Schönheit.

Sörensen schwieg eine Weile, und machte diesmal auch nicht »hm-hm«, sondern sah Helstedt prüfend an. Zu solch einer Halluzination könne er nichts sagen, außer, er mache sich Sorgen, dass er zu viel allein sei.

– Ich will nicht hoffen, dass du sie neuerdings öfter haben wirst.

Ein Widerspruch hätte Helstedt weniger gekränkt als diese, wie er empfand, abwertende Bemerkung. Er war viel allein, ja, aber als Halluzination abzustempeln, was ihm am Morgen nach seinem letzten Besuch geschehen war, empörte ihn. Er hatte sich erhofft, mit seinem Freund über das Erlebnis sprechen und sich austauschen zu können. Doch Sörensen nahm nicht ernst, was ihm widerfahren und genauso gewesen war, wie er es erzählt hatte. Die blaue Durchsichtigkeit, wie Helstedt sie nannte, war gegenwärtig und wirklich gewesen, von staunenswerter Schönheit, auch wenn er kurz danach den Kaffee wieder aus einer ganz normalen Tasse getrunken hatte.