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Auf den Morgenkaffee freute sich Helstedt jeden Tag, ganz besonders aber, wenn er wie heute schlecht geschlafen hatte. Obwohl es bereits wieder dämmerte, ein schmaler Streifen Helle im Spalt des Vorhangs stand, trieb ihn die Lust auf eine Tasse heißen Kaffees aus dem Bett. Er zog den Morgenmantel an, löffelte in der Küche das gemahlene Pulver in die Brühkanne und wartete, dass das Wasser auf der Gasflamme aufkochte. Er atmete den Geruch des Kaffees ein, vermischt mit dem Wasserdampf und der Wärme der Herdflamme, ein Geruch, der mit dem anbrechenden Tag verbunden war, Zuversicht wachrief und eine leise Trauer.
Nach der Emeritierung und dem Tod seiner Frau war Helstedt vom Universitätsviertel hierher an den Rand des Faelledparken umgezogen. Das Reihenhaus war neu gebaut, lag in einer ruhigen Straße gegenüber einer Schule, und hatte einen Innenhof, auf den der Balkon ging. Durch den Umzug hierher wollte er ein Stück Vergangenheit hinter sich lassen. Die Universität mit ihrem Vorlesungsbetrieb war vorbei, worüber er nicht unglücklich war. Doch mehr als zu seiner früheren Tätigkeit brauchte er Distanz zu den Erinnerungen an Ellie. Er hatte sie geliebt. Dreißig Jahre hatten sie in der ehemaligen Wohnung gelebt. Der Morgenkaffee war in ihren gemeinsamen Jahren die Stunde gewesen, in der sie sich gegenüber gesessen und sich erzählt hatten, was der Tag brächte und was sie beschäftigte. Jetzt war es die Zeit, in der er sich einsam fühlte.
Mit dem ersten Schluck, heiß und brennend, dem geräuschvollen Ausatmen, mit dem er den Mund kühlte, zwang er sich in die Gegenwart zurück. Nein, er kam nicht schlecht zurecht, auch wenn Ellie ihm fehlte.
Helstedt schaute durch die Tür ins angrenzende Zimmer, nahm zwei, drei weitere Schlucke und genoss das wärmende Gefühl, das ihn durchströmte. Er schaute ins Wohnzimmer und zur Balkontür, doch was er sah, ähnelte nur entfernt dem, was eben noch seine vertraute Umgebung gewesen war. Der Tisch, die Bodenfliesen und Mauern, die Lindenäste in der Balkontür bestanden aus seltsam leuchtenden, bewegten Funken, stärker bei dem einen Material, schwächer bei dem anderen. Die Umrisse der Wände, Möbel, herumstehenden und -liegenden Dinge blieben erkennbar, doch waren sie nicht wie gewohnt fest.
Einen Augenblick lang glaubte er, der Traum, den er im leichten Morgenschlaf geträumt hatte, wirke nach. Er sähe seine Wohnung, wie er die prunkvollen, alten Bauten entlang der großzügigen Boulevards gesehen habe: von so unglaublicher Schönheit. Doch die Gegenstände und Einrichtungen, die Zweige und Blätter im Fenster, eben alles, was sein Blick umfasste, war nicht nur Glanz und kristallene Klarheit wie im Traum. Sie schienen aus nichts als Energien zu bestehen, und er konnte in all die verschiedenen Materialien sowohl hinein-, wie hindurchsehen. Denn sie waren seltsam leer.