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Er blieb einen Augenblick in der Tür stehen, blickte zurück in das kleine Zimmer, in dem er vielleicht die intensivsten Stunden seines Lebens verbracht hatte. Mit einer leichten Wehmut verabschiedete er sich vom Tisch am Fenster, dem Blick aufs Meer. Dann sagte er seiner Zimmerwirtin auf Wiedersehen, die nicht ahnen konnte, dass in ihrem Haus ein weltenstürzendes Gesetz gefunden worden war.
– Sie sehen müde aus, aber doch ein wenig erholter, als wie Sie gekommen sind.
Das Schiff legte ab, stampfte hinaus in die offene See. Im Dunst blieben die Felsen, die Düne, die »Lange Anna« zurück, der Felsturm, auf dem er in jener Nacht, da die Arbeit abgeschlossen war, den Sonnenaufgang erwartet hatte. An die Reling gelehnt kam ihm jetzt seine Theorie selbst wie eine Insel vor, abgelöst vom Festlandsockel des herkömmlichen Wissens, die als ein erratischer Felsbrocken im Meer zurückblieb – karg und einzigartig –, während ihn das Schiff der Küste näher brachte. Dort erwarteten ihn Skepsis, Kritik, Ablehnung. Was er zusammengefügt hatte, würde auseinandergenommen, zerlegt, bezweifelt werden. Der Beobachter konnte im Fahrtwind die Stimmen hören, ihre Einwände, denen schwer zu entgegnen war. Er sei einzig und allein vom Beobachtbaren ausgegangen, doch das genüge nicht für eine Theorie, die umfassender sein und Annahmen postulieren müsse, die erst durch Experimente überprüft würden. Das nur Beobachtete als Ausgangspunkte einer Theorie zu nehmen, führe gefährlich nahe an einen Subjektivismus, den es in der Wissenschaft abzulehnen gelte. Auch läge dem Ganzen ein Irrtum zugrunde: Damit wir etwas erkennen, braucht es eine vorgängige Theorie. Der Begriff geht dem Erkennen voraus, und wir können nur Beobachten, wofür wir eine Kenntnis der Gesetze haben. Wenn also ein neues Naturgesetz, wie er es vorschlage, gefunden worden sei, das die herkömmlichen Gesetze relativiere, so müssten diese dennoch stimmen, sonst könnte er das zu Beobachtende nicht beobachtet haben …
Mit solchen Einwänden würde er konfrontiert werden, vom Augenblick an, da er das Festland betrat und seine Arbeit den Kollegen vorlegte. Er hatte längst beschlossen, bevor er sie dem Professor nach Kopenhagen schickte, sie einem nur wenig älteren Kollegen zu zeigen, der brillant, arrogant und äußerst kritisch war. Dieser besaß eine analytische Intelligenz, scharf wie ein Seziermesser, genau die Eigenschaft, die es für eine erste Prüfung brauchte. Angst vor dessen Kommentar hatte er nicht, auch keine Zweifel. Zwar war das Hochgefühl auf Helgoland zurückgeblieben, er war wieder der junge Wissenschaftler, der er zuvor gewesen war, neugierig und enthusiastisch. Nichts würde ihn von seiner Einsicht abbringen können: Durch seine Zahlenmatrix hatte er ein Land gesehen, in das er forschend aufbrechen wollte. Es läge in der Tiefe aller Erscheinungen und drückte sich doch in diesen aus. Und wie Himmel, Meer, Küste war die Beschreibung dieser kleinsten Teilchenwelt von großer Schönheit und Einfachheit.