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Die kurze Begegnung mit Linn im Café, dachte Helstedt, war missraten. Zu rasch hatten sie sich auf einer sachlichen Ebene befunden, nachdem sie sich anfänglich doch über persönliche Dinge wie familiäre Verhältnisse, Gewohnheiten und den Ruhestand ausgetauscht hatten. Helstedt beschäftigte, dass er es gewesen war, der Linn mit seiner Frage in ihre ehemalige Rolle als Ärztin gedrängt und damit das intimere Gespräch abgebrochen hatte.
Er verließ das Café, lief ziellos durch den Regen, gelangte ins alte Universitätsviertel. Vor dem Haus, in dem er mit Ellie so lange gewohnt hatte, blieb er stehen, sah zu den Fenstern im ersten Stock hoch und verspürte ein Würgen im Hals. Sein Blick wurde wässrig. Er erinnerte sich, wie Ellie jeweils im Fauteuil beim Fenster auf ihn gewartet hatte, aufblickte und ihn mit diesem versonnenen Blick ansah, der offen und weich war, Ausdruck einer tiefen Vertrautheit. »Ich habe gewartet«, wie oft hatte sie das gesagt, und es war eine Formel für den Wunsch nach Gespräch und Anteilnahme gewesen. »Ich muss gehen, Ellie«, sagte Helstedt leise unter den Fenstern vor sich hin und hörte: »Schon?«, »Ja, schon!«, und Helstedt trottete blind auf der Straße Richtung Faelledparken, zu seiner neuen Wohnung gegenüber der Schule.
Sie hatten keine Kinder gehabt, konnten keine Kinder haben, und irgendwann hatten sie sich damit abgefunden. Doch Helstedt liebte den Lärm vom Schulhof, dieses immer gleichbleibende Geräusch aus Lachen, Schreien, Schwatzen, einem Gemisch noch ungebrochener Stimmen, unentwirrbar in seiner Gesamtheit.
Linn würde er voraussichtlich so bald nicht wieder treffen, doch er war trotz allem froh über diese erste Begegnung. Linns Antwort auf seine Frage bestätigte ihn in der Überzeugung, dass er während der Erlebnisse den gewohnten, perspektivisch geordneten Raum nicht einfach anders wahrnahm, sondern sich außerhalb von diesem befunden hatte, in einer anderen Dimension der Wirklichkeit. Sie faszinierte und befremdete ihn. Er hatte keine Erklärung, weshalb sich dieses veränderte Wahrnehmen einstellte, wodurch es ausgelöst wurde. Es trat nur einfach ein, überraschend und ohne Ankündigung, wie es ein weiteres Mal geschah, zwei Tage nach der Begegnung mit Linn im Café. Er hatte sich am Nachmittag, nachdem er eine Kleinigkeit gegessen hatte, auf den Balkon gesetzt. Während er sich fragte, ob er sich die Zeitung nochmals vornehmen solle, unschlüssig in den Hinterhof sah, veränderte sich der gewohnte Ausblick. Der Lindenbaum, der Geräteschuppen, die gegenüberliegende Hauswand, der Garten begannen durchsichtig zu werden, sich in bläulich schimmernde Felder zu verwandeln, in denen sich die Glutfunken unterschiedlich schnell bewegten, extrem langsam in festen Körpern, fließend in Organismen. Doch anders als am Morgen nach dem Besuch bei Sörensen nahm er sich selbst in diesen Feldern als einen bläulichen Umriss wahr, in dem die Glutfunken wechselwirkten und sich gegenseitig durchdrangen. Er konnte beobachten, wie diese Energiezustände sich vermischten, auflösten, zusammenfanden, sich dadurch erhielten, aber auch veränderten, Felder entstanden und verströmten – und er selbst war ein Teil davon, der in einem dauernden Austausch mit sich und der Umgebung stand.
Helstedt nahm dies nur sehr kurz wahr, saß überrascht und staunend da, konnte nicht wirklich glauben, was er gesehen hatte. Wie sollte das möglich sein, dass er mit allem verbunden war, das sich gegenseitig beeinflusste und bedingte, und auch er an diesem Vorgang teilhatte, der aus einer einzigen energetischen Bewegung bestand? Helstedt überwältigte ein noch nie gefühltes Glücksgefühl. Für den Bruchteil einer Sekunde verstand er, dass es sein Ich nicht gab, er als isoliertes Individuum nicht existierte. Und in diesem Augenblick war ihm, als wäre eine schwere Last von seinen Schultern genommen worden, er wäre von Trauer und Einsamkeit befreit. Er lauschte in die Stille hinein, die jetzt den Hinterhof erfüllte, sah zum Lindenbaum, der wieder Lindenbaum war, schaute in den Garten hinab und zu den Mauern des Nachbarhauses hinüber. Sein Ich war zurück, mit ihm die Trauer und Einsamkeit. Er sah den Ausblick vom Balkon wie er schon immer gewesen war, und diese plötzliche Stille, in die er gelauscht hatte, kannte er bestens: Der Unterricht in der Schule gegenüber hatte begonnen.