VIII

Don Cavelli sah den letzten Studenten zu, wie sie die Stufen zum Ausgang von Saal IV emporstiegen, dem größten Hörsaal der altehrwürdigen römischen Universität Sapienza. Es war einer dieser Vormittage gewesen, an denen er sich weniger wie ein ordentlicher Professor für die Geschichte des Papsttums vorkam, sondern eher wie ein unseriöser Vertreter für Zeitschriften-Abonnements. Die versprachen ihren Opfern stets irgendwelchen neumodischen technischen Schnickschnack als Prämie, um sie zur Unterschrift für einen Zweijahresvertrag zu bringen; wo war da der Unterschied zu ihm? Um seine mäßig interessierten Studenten zu ködern, hatte er das Seminar über Pius II., den ersten Papst der Renaissance, heute Morgen mit der Information eröffnet, dass Pius vor seiner Wahl zum Kirchenoberhaupt Verfasser einer Reihe pornographischer Schriften gewesen war. Das war bei seinen Studenten durchaus auf einiges Wohlwollen gestoßen und hatte ausgereicht, sie bis zum Ende der Stunde bei der Stange zu halten.

Nun saß er noch für einige Minuten an dem Schreibtisch vor der riesigen Tafel und machte sich Notizen zum Verlauf der abgehaltenen Stunde. Was ließ sich daran für das nächste Mal noch verbessern, welche Studentenfragen hatte er nicht beantworten können? Im Grunde keine, wenn man von dem Zwischenrufer absah, der wissen wollte, ob man die Bücher von dem Pornopapst bei Amazon bestellen könne.

Cavelli registrierte, wie die Tür des Hörsaals geschlossen wurde, achtete aber nicht darauf. Dann hörte er ein dezentes Räuspern. Er blickte auf und sah oben an der Tür einen Mann in einem hellen Sommeranzug stehen. Der Mann kam ihm bekannt vor, ziemlich bekannt sogar, dennoch konnte er ihn nicht einordnen. Ein Kollege war es jedenfalls nicht, und für einen Studenten war er zwanzig oder dreißig Jahre zu alt. Der Mann hob auf eine etwas schüchterne Art die Hand. »Haben Sie einen Moment Zeit, Signor Cavelli?«

Cavelli warf einen kurzen Blick auf die Wanduhr über der Tafel. In einer knappen Stunde begann sein nächstes Seminar, und vorher wollte er noch in seiner üblichen Osteria Mittag essen. »Ja, aber nur kurz, bitte.« Er winkte dem Mann, näher zu treten. Woher kannte er ihn bloß? Der Besucher kam eilig die Stufen hinunter, was aus irgendeinem Grund merkwürdig aussah. Er passte so wenig hierher wie ein Torero in ein U-Boot. Seine dargebotene Hand fühlte sich etwas schlaff an. »Danke, Signor Cavelli, ich weiß, Sie haben viel zu tun.« Kannte ihn der Mann? Es hatte den Anschein. Vor allem aber schien er völlig selbstverständlich davon auszugehen, dass Cavelli auch wissen müsse, wer er sei.

»Zunächst muss ich darauf bestehen, dass diese Unterhaltung streng vertraulich bleibt.« Cavelli blickte den Mann etwas misstrauisch an, was dieser als Zustimmung zu missdeuten schien, denn nachdem er kurz die Lippen zusammengepresst hatte, fuhr er fort. »Des Weiteren ist es mir wichtig, klarzustellen, dass ich nicht in offizieller Funktion oder gar im Auftrag des Heiligen Vaters hier bin.« In Cavellis Hirn wurde ein Schalter umgelegt. War er denn blind gewesen? Vor ihm stand Monsignore Longhi, der Sekretär des Papstes und als solcher einer der mächtigsten Männer des Vatikan. Natürlich kannte Cavelli ihn, aber er hatte ihn noch nie anders als in Soutane gesehen. Das und der Umstand, dass er völlig überraschend in der Universität auftauchte (wo er nicht hingehörte), hatte Cavellis Denken auf die falsche Bahn gelenkt. »Verstehe, verstehe«, murmelte Cavelli, die peinliche Situation mit ernstem Nicken überspielend.

Longhi sah ihn schweigend an. Er wirkte beunruhigt und schien etwas zu überlegen. »Nun, Signor Cavelli«, begann er stockend, als müsse er sich vorsichtig von Gedanken zu Gedanken tasten. »Das Ganze ist vollkommen inoffiziell. Wobei das Wort inoffiziell im Grunde schon viel zu viel ist. Nichtexistent wäre passender, ich bin nicht hier, und Sie sind nicht hier, ich hoffe, Sie können mir so weit folgen, Signor Cavelli.«

Cavelli war mit der Sprache der Kurie mehr als vertraut. Eine Sprache der liebenswürdigen Umschreibung. Wozu Unerfreuliches aussprechen, wenn es nicht zwingend nötig war? Und wenn es doch einmal nötig war, lautete der Standardsatz gegenüber Außenstehenden fast immer »Zitieren Sie mich nicht.« Das hier musste allerdings selbst für Kurienverhältnisse als extrem angesehen werden.

»Ich denke schon«, betätigte Cavelli. Was in aller Welt konnte der Sekretär des Papstes von ihm wollen? Es musste etwas absolut Außergewöhnliches sein, wenn er den Vatikan im Straßenanzug verließ, um Cavelli an seinem Arbeitsplatz aufzusuchen.

Longhi warf einen Blick zur Tür, als wollte er sich vergewissern, dass sie wirklich allein waren. »Nun, ich weiß nicht recht, wo ich beginnen soll. Haben Sie von dem Unglück in Civita di Bagnoregio gehört?«

»Ja, dieser furchtbare Brand, entsetzlich!«

Longhi biss sich auf die Lippe. »Nun, ich fürchte, die Sache ist etwas schlimmer, als es in den Nachrichten berichtet wurde. Zwar hat es diesen Brand dort tatsächlich gegeben, aber nicht die dadurch verursachten giftigen Dämpfe sind die Ursache dafür, dass alle Bewohner des Ortes tot sind.« Er stockte kurz, als erwarte er Cavellis Aufforderung weiterzusprechen. Dann fuhr er fort: »Der tatsächliche Grund ist – in Civita di Bagnoregio hat es einen Pestausbruch gegeben.«

Cavelli glaubte, sich verhört zu haben. »Die Pest? Wie meinen Sie das?«

»Wie ich es sage. Die Pest. Wie im Mittelalter. Beulenpest, um ganz genau zu sein.«

»Ich dachte, die wäre längst ausgerottet.«

»Dachten wir – dachte ich – auch bis vor kurzem, aber offensichtlich nicht. In Afrika tritt sie immer wieder auf, und auch an anderen Orten.«

»Aber doch nicht in Italien!«

»Bisher Gott sei Dank nicht. Nun jedoch … Ich weiß, es ist schwer zu glauben, aber über diese Tatsache kann kein Zweifel bestehen, fürchte ich.«

»Aber die Nachrichten …«

»Man will Panik vermeiden.«

»Das ist doch unverantwortlich, die Öffentlichkeit muss informiert werden!«

Longhi hob die Hand, als wolle er ein nörgelndes Kind zum Schweigen bringen.

»Hören Sie mir einfach erst mal zu, Signor Cavelli, wir können anschließend über Ihre Einwände sprechen.«

Cavelli holte tief Luft und schwieg.

»Also«, versuchte Longhi seinen Faden wiederzufinden, »wie wir wissen, handelt es sich um einen Erreger mit einer äußerst kurzen Inkubationszeit. Wenn sich weitere Menschen bei den Anwohnern angesteckt hätten, dann wüsste man es bereits. Aber dadurch, dass die Brücke, die abgebrannt ist, der einzige Zugang zu Civita di Bagnoregio ist – oder war – wurde dies wohl verhindert.«

Cavelli nickte. »Glück im Unglück.«

»Sozusagen – oder auch nicht.« Wieder verfiel Longhi in sein ominöses Schweigen. Offenbar hatte er das Schlimmste noch nicht ausgesprochen.

»Oder auch nicht? Was …?«

»Dieser Pestausbruch war kein Unglück und der Brand ebenfalls nicht. Beides wurde vorsätzlich ausgelöst.«

»Mein Gott! Ein Terroranschlag? Von wem?«

»Eins nach dem anderen, Signor Cavelli.«

»Ich verstehe nicht, warum erzählen Sie mir das? Weiß man denn, wer …?«

»Bitte!« Longhi hob gereizt die Hände.

Cavelli schluckte seine Ungeduld mühsam hinunter. »Ja gut. Ich höre.«

»Vor einigen Tagen hatte ein Mann eine Privataudienz beim Heiligen Vater. Vielleicht ist er Ihnen vom Namen her bekannt: Angelo Montechiesa.«

Cavelli verzog nachdenklich die Brauen. »Ist das nicht dieser Playboy?«

»Früher mal. Aber schon lange nicht mehr. Inzwischen ist der Mann tiefreligiös und spendet hohe Summen für wohltätige Zwecke und die Kirche. Und mit hoch meine ich wirklich hoch. Es war nicht die erste Audienz, die ihm gewährt wurde. Der Heilige Vater hatte einige intensive Diskussionen mit Montechiesa. Sein Hauptanliegen ist der ständig zunehmende Verfall der christlichen Werte in der westlichen Welt, den er für das größte gegenwärtige Problem der Menschheit hält. Diesen Werteverfall zu bekämpfen hat er sich zur Lebensaufgabe gemacht. Natürlich konnte der Heilige Vater all dies nur begrüßen.«

»Natürlich.«

»Nun allerdings sieht es ganz so aus, als sei dieser Mann – nun ja – wahnsinnig.«

Wieder machte Longhi eine Pause. Diese stockende Art der Erzählung stellte Cavellis Geduld zunehmend auf eine harte Probe, doch es gelang ihm, seine Unruhe zu unterdrücken.

»Dieser Mann, Montechiesa, lebt in einer Phantasiewelt. Er sieht sich als Wohltäter und glaubt, alles tun zu dürfen, wenn es nur dem höheren Zweck dient, dass die Menschen wieder mehr glauben. Und offenbar ist er davon überzeugt, dass der Heilige Vater auf seiner Seite steht. In der letzten Audienz hat er offen zugegeben, dass er hinter dem Pestausbruch von Civita di Bagnoregio steckt und auch hinter dem Brand der Brücke.«

»Was hat das mit der Wiederherstellung des Glaubens zu tun?«

Longhi seufzte. »Viel. Kennen Sie nicht die alte Weisheit ›Not lehrt beten‹?«

»Doch sicher, aber …«

»Kurz gesagt, der Mann wird so lange Pesterreger freisetzen, bis ganz Italien nur noch Gott als letzte Rettung sieht. Über die finanziellen und technischen Mittel dazu verfügt er offenbar.«

»Hat man schon die Polizei verständigt?«

Longhi schüttelte müde den Kopf. »Bitte, Signor Cavelli, hören Sie einfach zu. Es gibt gute Gründe, warum ich zu Ihnen komme.«

Cavelli nickte zerknirscht, der Mann hatte natürlich recht.

»Montechiesa hat einen durchdachten Plan. Das hat er dem Heiligen Vater mitgeteilt. Genau genommen hat er sogar zwei Pläne, oder noch genauer zwei Varianten desselben Plans. Plan eins ist die völlig unkontrollierte Freisetzung des Pesterregers in ganz Italien, von wo sich die Krankheit natürlich schnell weltweit verbreiten würde. Ich bin kein Experte, aber wir sprechen dabei wahrscheinlich von vielen Millionen Toten. Diesen Plan – so sagte er – würde er umsetzen, falls die Polizei eingreifen und versuchen würde, ihn zu stoppen. Offenbar ist er gut vernetzt in hohen Regierungskreisen, ja er behauptet sogar, dort Unterstützer für seinen Plan zu haben. Inwieweit das ein Bluff ist, wissen wir nicht, aber seit Civita di Bagnoregio wissen wir, dass es dem Mann weder an Entschlossenheit noch an Mitteln zur Umsetzung seiner Pläne mangelt. Nein, eine Information der Behörden ist – zumindest zum gegenwärtigen Zeitpunkt – nicht zu verantworten, und das weiß er. Und somit komme ich zur zweiten – von ihm bevorzugten – Variante seines Plans. Montechiesa selbst nennt ihn den sanften Weg. Ein Weg, bei dem ihm der Heilige Vater helfen soll.«

»Was?«

»Ganz recht. Montechiesa ist völlig davon überzeugt, dass er im Sinne der Kirche handelt und dass ihn der Papst bei seinen Plänen unterstützen wird.«

»Irrsinn. Und wie soll …?«

Longhi holte tief Luft. »Montechiesa verlangt, dass der Heilige Vater bei der nächsten Generalaudienz auf dem Petersplatz der Welt eine Verkündigung macht.« Longhi presste die Lippen zusammen, alles in ihm schien sich dagegen zu sträuben, das Ungeheuerliche auszusprechen. Dann blickte er Cavelli mit ernsten Augen an. »Der Heilige Vater soll verkünden, dass Gott zu ihm gesprochen hat.«