XXVIII

Auch wenn das Polizeirevier im besten Viertel Roms lag, strahlte der Flur hinter der Eingangstür dennoch die schäbige Trostlosigkeit aus, die man in Behörden auf der ganzen Welt findet und die besonders denen bewusst wird, die in Sorge kommen. Quietschende Linoleumböden, graue Wände, mit Reißzwecken befestigte amtliche Aushänge, abweisende Türen und ein unangenehmer Geruchscocktail aus Schweiß und Bohnerwachs. Auf einer Wartebank saß ein mittelalter Mann in einer grauen Bomberjacke und las eine Sportzeitung. Ob er Anzeige erstatten wollte, ob er ein Krimineller oder ein Polizist war, ließ sich nicht sagen. Äußerlich hätte alles gepasst. Am Ende des Flurs stand ein Tresen, hinter dem ein korpulenter Polizist in den Dreißigern saß und langsam etwas an einem PC schrieb. Er hatte kurz hochgeblickt, als sie eingetreten waren, aber dann hatte er weitergetippt. Sonst war niemand zu sehen. Erst als Cavelli und Dr. de Luca den Tresen erreicht hatten, unterbrach der Beamte seine Arbeit. Er erhob sich ächzend von seinem quietschenden Drehstuhl und blickte sie müde an, bevor er mit noch müderer Stimme fragte: »Ja bitte?«

»Wir sind hier, um … «, begann Cavelli etwas umständlich.

»Wir müssen jemanden anzeigen«, fiel ihm de Luca ins Wort. »Es geht um eine äußerst ernste Angelegenheit. Bitte bringen Sie uns zum Leiter des Reviers.«

»Der hat jetzt keinen Dienst, worum geht’s denn?«

»Dann zu seinem Stellvertreter. Es ist wirklich eine äußerst wichtige Angelegenheit.«

Der Beamte sah erst sie und dann Cavelli an. In seiner Miene rang chronische Resignation mit aktueller Gereiztheit. Dann siegte die Resignation und er griff zum Telefon. Er erklärte der Person am anderen Ende den Sachverhalt und reagierte auf die Antwort mit einer Art Grunzen, dann legte er auf.

»Nehmen Sie Platz« Er wies mit dem Daumen auf eine der freien Bänke. »Es kommt gleich jemand.« De Luca warf ihm einen vernichtenden Blick zu und zog Cavelli zu der Bank, die am weitesten von dem anderen Mann entfernt stand. Auf einmal wirkte sie gar nicht mehr ängstlich, sondern äußerst entschlossen. Das Phlegma dieses Polizeibeamten hatte sie wütend gemacht, und das schien bei ihr ungeahnte Kräfte freizusetzen. Cavelli hoffte nur, dass sie nicht übers Ziel hinausschoss. Agressives Verhalten würde ihnen hier nicht weiterhelfen. Sie setzten sich auf die Bank, und Cavelli schielte zum Tresen hinüber. Der Beamte tippte wieder an seinem Protokoll oder um was immer es sich handelte, und schien sie bereits vergessen zu haben. De Luca rückte dicht an ihn heran und sprach mit leiser Stimme fast in sein Ohr: »Wenn wir gleich mit dem Vorgesetzten sprechen, müssen wir uns ergänzen. Ich schlage vor, dass ich zunächst sage, wer ich bin, und von dem Forschungsprojekt berichte. Die nüchternen Fakten. Damit die sehen, dass es sich nicht um irgendeine Fantasterei handelt, und dann kommen Sie und … «

Cavellis Handy begann zu vibrieren. Er zog es aus der Tasche und sah auf das Display. Eine unterdrückte Rufnummer. Er entschied, den Anruf anzunehmen.

»Cavelli?«

»Angelo Montechiesa hier.«

Cavellis Herz setzte einen Schlag aus.

Ließ Montechiesa ihn beobachten? Kam jetzt eine unmissverständliche Warnung, dichtzuhalten, oder war es nur ein Zufall, dass er ausgerechnet in diesem Moment anrief? Cavelli zog es vor, von Letzterem auszugehen. Er drehte dem Tresen den Rücken zu und sprach mit gesenkter Stimme.

»Was kann ich für Sie tun, Signor Montechiesa?«

»Ich würde gern etwas mit Ihnen besprechen. Natürlich nicht am Telefon. Persönlich. Ich bin morgen in Rom. Können wir uns sehen?« Montechiesa klang ganz normal. Wenn er Cavelli verdächtigte, war er ein guter Schauspieler.

»Natürlich können wir uns treffen, wo?« Cavelli antwortete extra so ausführlich, de Luca sollte mitkriegen, worum es ging.

»Beim Heiligen Sebastian. Wissen Sie, wo das ist?«

»Sicher. Auf der … «

»Wozu es aussprechen? Man weiß doch nie, wer mithört. Also morgen früh um acht?«

»Ich werde da sein.«

Es knackte in der Leitung. Montechiesa hatte aufgelegt.

Margherita de Luca war blass geworden. »Er will Sie sehen?«

»Morgen früh um acht, in Rom.«

»Was hat das zu bedeuten?«

»Ich weiß es nicht. Aber wenn es hier gut läuft, hat es sich ohnehin erledigt. Wenn die Polizei das Labor gesichert hat, ist die Gefahr gebannt.«

Dr. de Luca verzog schmerzlich den Mund. »Wenn er nicht bereits eine größere Menge an einen anderen Ort geschafft hat.«

»Warum sollte er?«

De Luca zuckte mit den Schultern. Sie musste auch nicht antworten. Cavelli kannte die Antwort auf seine Frage auch selbst sehr gut.

Weil Montechiesa ein verdammt misstrauischer Hund ist. Er verscheuchte den Gedanken. Wenn Montechiesa das getan hatte, war das hier alles sinnlos. »Wir können jetzt nur das Beste hoffen«, murmelte er und starrte zu Boden. Seinen nächsten Gedanken behielt er für sich. Nämlich, dass es einer der seltenen Momente war, in denen er es bedauerte, nicht beten zu können.

Eine Weile sprach niemand. Cavelli versuchte im Geiste, seine zweifellos unglaubwürdig wirkende Geschichte in eine überzeugendere Form zu bringen. Er nahm an, dass Dr. de Luca ähnliche Überlegungen anstellte. Es würde wohl das Beste sein, sie anfangen zu lassen. Sie war nicht nur nachweislich Doktor der Biochemie, ihr Teil der Geschichte beruhte ausschließlich auf Fakten. Was Cavelli beizutragen hatte, konnte man ohne weiteres auch als wilde Spekulationen und Hörensagen abtun. Konnte er etwa beweisen, dass Montechiesa ihm wirklich von seinem Plan erzählt hatte? Konnte er nicht. Und selbst wenn man ihm zugestand, dass er gehört hatte, wie Montechiesa all dies sagte, das konnte genauso gut nur eine theoretische Überlegung gewesen sein. Eine Äußerung wie »Man müsste alle Politiker aufhängen.« Wer hatte so was nicht schon einmal gedacht oder gesagt, ohne auch nur im mindesten die Absicht zu haben, diese Idee auch tatsächlich in die Tat umzusetzen? Nein, Signor Cavelli hatte da ganz sicher etwas missverstanden. Und dann waren da noch andere Fragen. Etwa, wer er eigentlich sei, inwieweit er mit dieser Sache zu tun habe, was seine Stellung im Vatikan sei, ob man ihn beauftragt hatte, sich einzuschalten. Cavelli musste an sein Gespräch mit Monsignore Longhi denken. Wie hatte er noch gesagt? »Wir beauftragen Sie nicht.« Wie auch? Laut Longhi hatte es nie ein Gespräch gegeben, folglich konnte Cavelli sich in keiner Weise auf den Vatikan berufen. Offiziell wusste man dort von nichts. Es war zum … Er bemerkte, dass de Luca ihn von der Seite ansah. »Sie hätten Montechiesa nicht vorlügen sollen, dass Sie ein Monsignore sind, Sie sehen nämlich überhaupt nicht aus wie einer.«

Cavelli grinste schief und ging darauf ein. Die Ablenkung war ihm sehr recht. »Hab ich gar nicht. Ich habe mich als Don Cavelli vorgestellt. Don ist mein Vorname, wenn Montechiesa daraus falsche Schlüsse zieht, kann ich nichts dafür.«

De Luca lachte kurz auf. Es war der erste Moment, in dem Cavelli sie nicht ernst sah. Für einen Augenblick war sie eine ganz andere Frau. Das Lachen verschwand so schnell, wie es gekommen war.

»Don?« Sie musterte ihn misstrauisch. »Wofür ist das die Abkürzung?«

Cavellis Unterkiefer verhärtete sich. Er hasste es, darüber zu sprechen. »Für Donato«, antwortete er widerstrebend.

Wieder lachte sie auf. »Oh, das tut mir sehr leid.«

»Und mir erst.«

»Darf ich Sie Don nennen?«

»Das wäre mir am liebsten.«

»Und ich heiße Margherita. Das heißt die kostbare Perle. Auch nicht viel besser.«

»Margherita.«

»Don.«

Während sie sich die Hände reichten und dabei in die Augen sahen, wurde ihnen das Bizarre an der Situation bewusst. Dies war keine Cocktailparty mit Smalltalk, auch wenn es sich ein paar sorglose Momente so ähnlich angefühlt hatte. Trotzdem hatte sich etwas zum Besseren verändert. Bis eben waren sie zwei Fremde gewesen, die zufällig in dieselbe Angelegenheit verwickelt worden waren. Nun waren sie plötzlich Verbündete, vielleicht sogar mehr als das.

Am Ende des Flurs öffnete sich eine Tür. Ein gutaussehender Mittdreißiger mit einem schmalen Schnurrbärtchen trat heraus und warf dem Schalterbeamten einen fragenden Blick zu. Der deutete mit einer Kopfbewegung auf Cavelli und de Luca. Der Gutaussehende drehte sich um und musterte sie. Er hatte eine kerzengerade, fast militärische Haltung, die in einem interessanten Kontrast zu seinem neugierigen, aber nicht unfreundlichen Gesichtsausdruck stand. Dann winkte er die beiden heran und lotste sie durch einige Türen in ein kleines Büro. Cavelli gelang es, im Vorbeigehen das Türschild zu lesen.

014 Commissario Viani. Der Commissario bot ihnen Stühle an und schloss das Fenster. Draußen regnete es jetzt in Strömen, aus der Ferne war Donner zu vernehmen. Viani nahm hinter seinem Schreibtisch Platz. Im Gegensatz zu seinem Kollegen schien er hellwach zu sein. »Wie kann ich helfen?«

Margherita reichte ihm ihren Ausweis, Viani zögerte kurz, dann nahm er ihn, aber ohne ihn anzusehen.

»Uns ist bewusst, dass das, was wir Ihnen sagen werden, schwer zu glauben ist«, begann sie, »aber nun wissen Sie, wer ich bin, und wenn Sie mich googeln, werden Sie feststellen, dass ich eine nicht ganz unbekannte Biochemikerin bin. Vielleicht ein erster Hinweis darauf, dass unsere Geschichte stimmen könnte.« Vianis Miene war undurchdringlich. Er schien kurz zu überlegen. Dann wanderte sein Blick ein paarmal zwischen de Lucas Gesicht und dem Ausweisfoto hin und her. Schließlich tippte er etwas in seinen ziemlich veralteten Laptop ein. Er überflog mehrere Texte, dann wandte er sich wieder Margherita zu.

»Bene, Dr. de Luca, ich habe nun eine Vorstellung, wer Sie sind. Äußerst eindrucksvoll, was man über Sie findet, das muss ich schon sagen, Glückwunsch.« Er blickte zu Cavelli, als wollte er herausfinden, was seine Rolle hierbei war, dann konzentrierte er sich wieder auf Margherita de Luca. In klaren, fast druckreifen Sätzen berichtete sie detailliert von ihrer wissenschaftlichen Arbeit. Angefangen mit der Auffindung des Pestbakteriums in einer fünftausend Jahre alten Frauenleiche in einem Massengrab im westschwedischen Gökhem, über erste Forschungsschritte bis hin zur Entwicklung zweier modifizierter Bakterienstämme, von dem der eine tödlich war und der andere nicht. Viani hörte mit größter Aufmerksamkeit zu und unterbrach nur für kurze Nachfragen zum besseren Verständnis. Nach zehn Minuten beendete sie ihren kleinen Vortrag: »Wir müssen leider davon ausgehen, dass mein Arbeitgeber bereits mehrere bakteriologische Anschläge in Italien begangen hat und weitere plant.«

Viani blickte sie stumm an und blinzelte ein paarmal.

»Gut, eins nach dem anderen. Wer ist Ihr Arbeitgeber?«

De Luca holte tief Luft. »Angelo Montechiesa, Sie haben sicher schon von ihm gehört.«

Viani schüttelte den Kopf. Wahrscheinlich war er zu jung, um in Montechiesas Glanzzeit die Illustrierten der Yellow Press gelesen zu haben. Er tippte den Namen in den Laptop ein. Cavelli konnte von seinem Platz aus nicht sehen, was dort zu lesen stand, aber es hatte eindeutig eine seltsame Wirkung auf Viani. Für einige Augenblicke starrte er auf den Bildschirm, als habe er ein Gespenst gesehen. Dann normalisierten sich seine Züge wieder. Langsam erhob er sich. »Würden Sie beide wohl einen Moment hier warten? Ich bin gleich zurück.« Bevor Cavelli oder de Luca antworten konnten, hatte er ihnen noch einmal knapp zugenickt und das Büro verlassen. Bis auf das Ticken der billigen Wanduhr war es mehrere Momente still in dem Büro. Eine dunkle Wolke schien in der Luft zu hängen.

Margherita de Luca brach das Schweigen zuerst. »Hast du das gesehen, Don?«

»Diese Reaktion am Computer?« Cavelli nickte düster. »Ja, das war seltsam.«

»Er hat nach Infos über Montechiesa gesucht. Und dann plötzlich dieser total erschrockene Blick.«

»Vielleicht hat die Polizei Informationen über Montechiesa, vielleicht beobachten sie ihn schon längst. Und er hat gesehen, dass das eine bereits laufende Polizeioperation ist.«

»Warum verhaften sie ihn dann nicht? Dann hätte man die Anschläge in diesem Dorf und auf dem Schiff verhindern können.«

»Ich weiß es nicht. Vielleicht haben sie Indizien, aber keine Beweise, und da kommen wir ihnen gerade recht.«

De Luca schüttelte den Kopf. »Wir haben doch auch keine Beweise.«

Cavelli massierte seinen angespannten Nacken. »Bleiben wir erst mal positiv. Zumindest scheint mir dieser Commissario Viani sehr vernünftig zu sein, ich hatte ehrlich gesagt befürchtet, dass man uns gleich wie zwei Verrückte rauswirft.«

»Ja, das stimmt.« De Luca nickte, klang aber wenig überzeugt. »Der Mann ist wirklich … «

In diesem Moment kam Commissario Viani zurück. Er lächelte freundlich, aber er wirkte etwas außer Atem. War sein Gesicht vorher auch schon so gerötet gewesen? Er nahm Platz und blickte erst zu de Luca, dann zu Cavelli. Sein Blick hatte nun etwas Offizielles. »Ich möchte Ihnen versichern, wir nehmen das sehr ernst. Ich habe eben mit der übergeordneten Dienststelle telefoniert, und dort hat diese Sache allerhöchste Priorität.« Er begann in seiner Schreibtischschublade herumzuwühlen und förderte einen Schreibblock zutage. Dann befragte er Cavelli.

Der erzählte seine ganze Geschichte, wobei es ihm ziemlich gut gelang, den Punkt, wie und warum er überhaupt an Montechiesa herangekommen war, zu umschiffen. Viani schrieb mit und füllte Blatt um Blatt. Nach zwanzig Minuten war Cavelli bei der DVD von der MS Fortuna angelangt, die Montechiesa ihm auf Poveglia vorgeführt hatte. Es war das erste Mal, dass Viani aufblickte, er schien ehrlich erschüttert zu sein. Draußen vor der Bürotür kam nun Unruhe auf. Schritte, Stimmen, dann wurde die Tür energisch aufgestoßen und ein großer Mann um die Sechzig betrat das Büro. Er trug eine Polizeiuniform und einen dazugehörigen Mantel, auf dessen Schulterstücken sich drei Sterne und eine Krone befanden, offenbar ein hohes Tier. Viani erhob sich überrascht. Der Mann hielt sich nicht mit Begrüßungsfloskeln auf. »Colonnello Adelphi. Commissario Viani?«

»Jawohl, wir haben telefoniert, ich habe … «

»Schon gut. Haben Sie das Verhör allein geführt?«

»Es ist kein Verhör«, schaltete sich Cavelli ein. »Wir sind aus freien Stücken … «

Adelphi schnitt ihm mit einer Handbewegung das Wort ab. »Keine Sorge, das wird sich alles klären.« Er wandte sich wieder an Viani. »Also: allein?«

»Ganz recht, Colonnello.«

»Wen haben Sie außer mir noch in Kenntnis gesetzt?«

»Bis jetzt noch niemanden.«

»Gut, dabei muss es vorerst bleiben, verstanden?«

»Jawohl.« Der scharfe Ton seines Vorgesetzten schien Viani zu verunsichern.

»Wo ist Ihr Protokoll?«

Viani deutete auf seinen Schreibblock. »Dort, aber das werden Sie nicht entziffern können, meine Handschrift ist …«

»Nichts im PC?«

»Noch nicht, nein.«

»Gut. Das hier nehme ich an mich.« Adelphi riss die Blätter aus dem Block, faltete sie zusammen und verstaute sie in der Manteltasche. Dann deutete der Colonnello auf Cavelli und de Luca. »Wurden die Beschuldigten durchsucht?«

Sowohl Viani als auch Cavelli und de Luca protestierten. De Luca war empört von ihrem Stuhl aufgesprungen. »Setzen Sie sich!« Adelphis Stimme war nicht laut, aber scharf. Viani warf ihr einen Blick zu, der wohl halb Beruhigung, halb Entschuldigung sein sollte. Dann wandte er sich mit betont sanfter Stimme an Adelphi.

»Signora de Luca und Signor Cavelli sind Zeugen, keine Beschuldigten.«

»Also nicht durchsucht?«

»Dazu bestand kein Anlass, Colonnello.«

»Das war äußerst unvorsichtig von Ihnen, Commissario, um nicht zu sagen, eine unverzeihliche Verletzung der Dienstvorschriften.« Adelphi hatte eine Pistole mit Schalldämpfer aus seiner Tasche gezogen und war einige Schritte zurückgetreten, die Waffe erhoben, wenn auch auf niemand Bestimmten gerichtet. Seine Stimme war nun noch leiser. »Kein Wort mehr. Das gilt für alle!« Er wandte sich wieder an Viani. »Sie hätten die Verdächtigen wirklich durchsuchen sollen, dann würde Sie der Mann dort jetzt nicht mit einer Waffe bedrohen.«

Viani war bleich geworden. »Colonnello, was tun Sie?«

Adelphi presste die Lippen zusammen. »Was nötig ist. Nur, was nötig ist.« Er zögerte. »Sind Sie ein guter Katholik, Commissario?«

»Ein guter … Ja, mehr oder weniger, was meinen Sie, Colonnello?«

»Beten Sie das Vaterunser.«

»Wie bitte?«

»Tun Sie’s. Jetzt!«

»Ich verstehe nicht.«

»Tun Sie’s.«

Viani starrte Adelphi an, dann legte er die Hände zusammen, während er mechanisch das Gebet runterleierte, den Blick keine Sekunde von der Waffe lassend. Adelphi wartete, bis er geendet hatte. Aus seiner Stimme klang echtes Bedauern. »Es tut mir leid, aber es steht zu viel auf dem Spiel. Einfach alles.« Er zielte auf Vianis Brust und drückte zweimal ab.

Die Mündungsgeräusche waren ungewöhnlich leise, nicht nur durch den verwendeten Schalldämpfer, sondern offenbar benutzte Adelphi Subsonic-Munition. Die flog langsamer als der Schall, aber auf eine Distanz von weniger als zwei Metern war sie genau so tödlich wie herkömmliche Geschosse. Viani sackte zusammen wie eine Marionette, bei der man die Fäden durchgeschnitten hatte. De Luca starrte entsetzt auf den Toten, die Hände auf den Mund gepresst. Cavelli war aufgesprungen, doch im selben Moment schwenkte die Waffe in de Lucas Richtung. »Stopp!« Cavelli gehorchte. Dann zog Adelphi eine zweite Pistole aus der Manteltasche, die er auf Cavelli richtete. Seine Stimme zitterte, aber nur leicht. »Sie beide dürfen auch noch beten, wenn Sie es wünschen.«

»Was soll das?« Cavellis Hals war trocken.

»Nun, Sie, Signore, haben Commissario Viani erschossen, dann die Dame, ich konnte es leider nicht rechtzeitig verhindern, dann habe ich Sie mit meiner Dienstwaffe gestoppt, bevor Sie auch mich erschießen konnten.«

»Warum tun Sie das?«, krächzte Cavelli.

»Im Gegensatz zum armen Commissario Viani wissen Sie das ganz genau. Sie stehen der wichtigsten Entwicklung der letzten tausend Jahre im Weg.«

»Sie irren sich«, rief Margherita erstaunlich gefasst. »Mein Mann und ich sind hier, um einen Einbruch in unser Haus anzuzeigen.«

Adelphi verzog unwirsch den Mund. »Nein, sind Sie nicht, Sie haben gegenüber ihm«, er machte eine Kopfbewegung zu Vianis Leiche, »Signor Montechiesa erwähnt. Wir hatten mit so etwas gerechnet und für diesen Fall in der ganzen Behörde eine Datei installiert, die bei jedem, der diesen Namen eingibt, eine Anzeige erscheinen lässt, die zur absoluten Geheimhaltung auffordert und dazu, mich oder ein anderes Mitglied unserer Mission zu verständigen. Sie sehen also, leugnen ist völlig … «

Cavelli versuchte, die Waffe, die auf seine Brust zielte, zu ignorieren und trat einen Schritt vor, einen ganz kleinen nur, aber immerhin. »Man wird feststellen, dass nicht ich es war, der geschossen hat.«

»Keine Sorge, sobald Sie tot sind, werde ich Ihnen behilflich sein, noch einen Schuss in die Wand hinter Commissario Vianis Stuhl abzugeben, dann sind auch Schmauchspuren an Ihnen zu finden.« Irgendwo im Haus waren laute Stimmen zu vernehmen. Adelphi warf einen nervösen Seitenblick zur Tür. »Also kein Gebet? Umso besser.« Er hob die Waffe mit dem Schalldämpfer und zielte auf de Lucas Brust. »Ich möchte, dass Sie Folgendes wissen: Dass Viani jetzt tot ist, geht auf Ihr Konto, Sie haben mich gezwungen, das zu tun. Und auch zu dem, was ich jetzt tun muss, haben Sie mich gezwungen. Warum mussten Sie unbedingt herkommen? Was bald geschehen wird, ist ohnehin nicht mehr aufzuhalten. Es wird kommen, und es muss ko– « Cavelli machte einen schnellen Ausfallschritt nach vorn und fegte mit dem Arm Vianis Schreibtischlampe vom Tisch direkt in Richtung von Adelphis Kopf. Adelphi duckte sich instinktiv und riss schützend die Hände vors Gesicht, wobei er einen Schritt zurückwich. Für einen Moment war er aus dem Gleichgewicht gebracht. Margherita machte einen Satz auf ihn zu und versetzte ihm mit beiden Händen einen kräftigen Stoß vor die Brust, der ihn vollends aus dem Gleichgewicht brachte und über einen Papierkorb stolpern ließ. Krachend ging er zu Boden. Ein wahrscheinlich unbeabsichtigt abgegebener Schuss aus seiner Dienstwaffe löste sich mit einem ohrenbetäubenden Knall und zerschmetterte eine Fensterscheibe.

»Raus hier!« Cavelli packte Margheritas Hand und riss sie mit sich, eine Sekunde später rannten sie bereits den Flur hinunter.

»Da!« Margherita deutete auf die Glastür am Ende des Gangs, auf die von der anderen Seite zwei Polizisten zurannten, ganz eindeutig aufgeschreckt von dem Schuss aus Adelphis Dienstwaffe. In wenigen Sekunden würde es weder ein Vor noch ein Zurück mehr geben. Hinter ihnen kündeten dumpfe Geräusche davon, dass Adelphi offenbar dabei war, sich wieder aufzurappeln. Cavelli entdeckte eine Tür, die mit dem Piktogramm einer Treppe gekennzeichnet war. »Hier lang!« Er riss die Tür auf, und gleich darauf befanden sie sich in einem Treppenhaus, das nach unten und oben führte. Instinktiv entschieden sie sich für den Weg nach oben. Unten hörten sie Adelphi den beiden Beamten hastige Befehle zubrüllen. Inzwischen hatten sie schon fast den zweiten Stock erreicht. Cavellis tägliches Joggen zahlte sich endlich einmal aus, und auch Margherita war offenbar wesentlich durchtrainierter, als es ihre zarte Figur auf den ersten Blick vermuten ließ. Jetzt war unten auf der Treppe Lärm zu hören, sie waren nicht mehr allein. Ein Schuss ließ sein Herz für eine Sekunde aussetzen. Aber irgendetwas stimmte nicht. Der Schuss war von hoch über ihren Köpfen gekommen. Nein, kein Schuss, Donner. Offenbar war das Gewitter jetzt direkt über dem Revier. In Cavellis Kopf raste es, was tun? Im zweiten Stock befand sich eine Tür, sollte man vielleicht …? Keine Zeit, darüber nachzudenken, seine Beine waren schneller als sein Kopf. Schon befanden sie sich auf der nächsten Treppe. Solange sie nach oben liefen, kamen sie offenbar besser voran als ihre Verfolger. Noch ein Stockwerk. Das vierte und letzte. Hier führte nur noch eine schmale Treppe zu einer Metalltür. Nach Cavellis Erfahrung waren solche Türen immer verschlossen. Also hier durch die nächstbeste. Sie war offen. Dahinter befand sich ein riesiger Raum, der fast vollständig im Dunkeln lag, nur ein paar schwache Notlampen an den Wänden ließen zumindest Schemen erkennen. Überall standen Schreibtische herum, teilweise aufeinander, außerdem viele Stühle, zum Teil zerbrochen, und etliche Büroschränke. Vor allem aber Umzugskartons, es mussten Hunderte sein. In wenigen Augenblicken würden ihre Verfolger hier sein. Was tun? Sich verstecken? Ganz sicher keine gute Idee, dann würden sie in der Falle sitzen. Gleichzeitig entdeckten sie ein grün beleuchtetes Schild über einer Tür vor ihnen. Emergency-Exit. Sie war verschlossen. Keine Zeit mehr. Jetzt gab es nur noch einen Ausweg. Cavelli zog Margherita zu einem der Fenster an der Längsseite. Ein kurzer Blick nach draußen war vielversprechend. Einen Meter unter dem altmodischen Fenster befand sich ein Flachdach. Er versuchte das Fenster zu öffnen, aber offenbar hatte das seit Jahren niemand getan. Der Riegel war verstaubt und saß fest. Cavelli schlug mit aller Kraft mit der Faust von unten dagegen, jetzt löste er sich. Er riss die Fensterflügel auf, im Nu war er von einem alten Stuhl auf das Fensterbrett gestiegen und reichte Margherita die Hand. Bereits im nächsten Moment war er klatschnass. Der Regen peitschte in dicken Schnüren vom Himmel. Sie zögerte immer noch, seine Hand zu ergreifen, als die Tür aufgerissen wurde, durch die sie selbst gekommen waren. Sie griff eilig zu, und Cavelli zog sie zu sich nach oben. Gleich darauf befanden sie sich auf dem Dach. Hatten die Verfolger sie gesehen? Ein weiterer Donner krachte über ihren Köpfen. Gleichzeitig tauchte ein Blitz das ganze Dach in gleißende Helligkeit. Sie standen wie auf dem Präsentierteller, es würde an ein Wunder grenzen, wenn sie dabei unentdeckt geblieben wären. Das Dach bot nirgendwo Deckung. Es blieb nur, loszurennen und das Beste zu hoffen. Inzwischen waren sie beide bis auf die Knochen durchnässt. Im Laufen warf Cavelli einen Blick über die Schulter, konnte aber in der Dunkelheit keine Verfolger ausmachen. Aber das musste nichts heißen. Plötzlich spürte er einen Ruck im Arm. Margherita war abrupt stehen geblieben. Aus der Entfernung schien sich das Dach über Hunderte von Metern zu erstrecken, doch nun befand sich vor ihren Füßen eine fünfzehn Meter tiefe und etwa eineinhalb Meter breite Lücke bis zum nächsten Dach. Irgendetwas in Cavellis Kopf stellte eine Kalkulation an. Es war machbar. Theoretisch. Wenn man den Absprungpunkt perfekt erwischte, wenn es auf dem gegenüberliegenden Dach nicht glatt war. Wenn der starke Regen nicht alle Berechnungen Lügen strafte. Wenn! Und was war mit Margherita? Er schätzte sie auf ein Meter sechzig. Für sie war es sogar noch riskanter. Es blieb keine Zeit mehr nachzudenken, und es gab auch kein Zurück mehr. Die Verfolger würden jeden Moment hinter ihnen auftauchen. »Margherita, uns bleibt keine … «

Sie war verschwunden. Was zum …? Panisch sah er um sich, dann entdeckte er sie ein Stück weit entfernt kniend und ihn aufgeregt heranwinkend. »Hier, Don, schnell!« Geduckt rannte er zu ihr. Aus der Entfernung war es in Dunkelheit und Regen kaum zu sehen gewesen, aber dort befand sich eine Feuerleiter. Reichte sie bis ganz nach unten? Das war von hier oben nicht auszumachen. Im nächsten Moment hatte sich Margherita schon geschickt auf die Leiter geschwungen und begonnen, nach unten zu klettern. Cavelli folgte ihr, so schnell er konnte. Die Leitersprossen waren kalt und durch den Regen glitschig. Seine glatten Ledersohlen fanden kaum Halt, und er umfasste jede Sprosse, so fest er konnte. Nur halbkreisförmige Metallstreben, die den Kletterer umschlossen, boten minimalen Schutz vor einem Absturz.

Colonnello Adelphi stand neben dem Beamten am Tresen und presste den Telefonhörer ans Ohr. Der Carabinieri auf dem Dach war wegen des Regens nur sehr schlecht zu verstehen. Adelphis Antwort war klar und eindeutig: »Gut, halten Sie dort oben die Stellung und sichern die Leiter. Keine Verfolgung, ich wiederhole: keine Verfolgung. Over and out.« Er fasste den Beamten scharf ins Auge. »Kein Wort über diesen Vorgang, verstanden?« Der Beamte nickte verblüfft und setzte zu einer Antwort an, aber Adelphi eilte bereits den Gang hinunter, und gleich darauf kündete nur noch die quietschend hin und her schwingende Eingangstür davon, dass er jemals da gewesen war.