16

Tristo è quel barbiere che ha un sol pettine.

Lege nicht alle Eier in den gleichen Korb.

Eine Stunde später ging Alessa vor ihrer Lieblingsbank in der hintersten Ecke des Gartens auf und ab. Die verschlungenen Zweige eines Zitronenbaums verhinderten, dass sie die Cittadella von hier aus sehen konnte; hier gab es nur Blätter und Blumen. Wenn sie sich hierher zurückzog, in diese grüne und üppige Welt, die sich wie das Paradies anfühlte und in der Bienen und Vögel ihr ein Ständchen brachten, konnte sie manchmal fast vergessen, dass sie eine Gefangene war. Heute jedoch nicht.

Sie musste ausgesehen haben wie ein Hühnchen, das mit den Händen flatternd an ihren Seiten versucht zu fliegen, aber es kümmerte sie nicht. Sie hatte drei Fontes getötet – drei  –, und ihr brillanter Plan, mit dem sie verhindern wollte, dass sie noch einen oder eine tötete, bestand darin, alle gleichzeitig in die Cittadella zu holen? Die Formulierung »alle Eier in einen Korb« war hierfür gar nicht unheilvoll genug.

»Sucht Ihr etwas, Finestra?«, fragte Dante, der an einem nahen Baum lehnte.

Mut. Überzeugung.

Sie hätte es so arrangieren können, dass sie die Fontes einzeln begrüßte, immer nur ein gesonderter Tropfen Gift auf der Zunge, statt dass sie die ganze Flasche auf einmal leerte.

Dante trat von dem Baum weg, drehte sich um und betrachtete ihn; dann zog er eins seiner Messer.

Alessas Herz setzte einen Schlag aus, als er es warf, obwohl er natürlich nicht auf sie zielte. Das Messer bohrte sich in die weiche Rinde und zitterte leicht.

»Ich finde es albern, Euch ›Finestra‹ zu nennen … Fenster.«

»Weißt du es nicht? Ich bin ein Fenster zum Göttlichen .« Sie lachte düster. »Ich biete der Menschheit einen flüchtigen Blick auf Perfektion und lasse mein heiliges Licht auf alle herabscheinen. Du solltest es wirklich zu deinem Vorteil nutzen, dass du mir so nahe bist, und dich darin sonnen.«

Die Haut um seine Augen kräuselte sich, als er ein Lächeln unterdrückte. »Ach, deshalb ist es so hell?«

»In der Tat. Allerdings glaube ich allmählich, dass dieses Fenster ein paar Sprünge hat.«

Er schnaubte. »Umso besser, das heilige Licht hereinzulassen, Luce mia.«

Sie starrte sehnsüchtig auf den fahlblauen Himmel über der Mauer.

»Falls Ihr Eure Flucht plant … das ist nicht der einfachste Fluchtweg«, sagte Dante.

Alessa klopfte gegen die Mauer. »Wirst du so tun, als hättest du es nicht gesehen, wenn ich da drüberklettere?«

»Ich bin mir sicher, dass es nicht so schlimm werden wird.«

»Und ich bin mir sicher, dass es schrecklich werden wird«, sagte sie. »Sie hassen mich.«

»Kennen sie Euch denn überhaupt?«

»Das brauchen sie nicht. Ich habe ihre Freunde und ihre Freundin umgebracht.« Sie wedelte mit einer Hand in seine Richtung. »Schnell. Besorg mir eine Leiter.«

Dante drehte sich um, als das Tor leise rumpelte. »Zu spät.«

Renata und Tomo warteten auf dieser Seite des Innenhofs. Eingerahmt vom Tunnel drängte sich am anderen Ende eine kleine Gruppe dicht zusammen, wie Fische, die in einem Netz gefangen waren. Ihre hängenden Schultern verrieten ihr Elend.

Kaleb umarmte einen älteren Mann, schlug ihm mit stürmischer Zuneigung auf den Rücken, während neben ihnen eine Frau mittleren Alters weinte. Josef und Nina hielten sich gegenseitig fest an den Händen. Saida stand neben ihren ernsten Eltern.

Sie verabschiedeten sich wie Helden, die in den Rachen eines Monsters marschierten. Und sie waren jetzt zwar hier, aber nicht aus freien Stücken. Sie würden ihre Pflicht tun, doch sie hatten kein Vertrauen in sie.

Kamaria stand ein Stückchen von den anderen entfernt, starrte alles und jeden düster an.

»Ihr Zwillingsbruder ist letzte Nacht geflohen«, sagte Renata mit einem missbilligenden Schnalzen.

Dem Consiglio würde das nicht gefallen. Es mochte nicht fair sein, Kamaria den Verrat ihres Bruders zur Last zu legen, aber Alessa hatte keine Zweifel daran, dass genau das geschehen würde. Ob es die Ratsmitglieder dazu bringen würde, ein Veto gegen Kamaria einzulegen, wenn sie zur ersten Wahl wurde, war schwer zu sagen, doch darüber konnte sie sich später noch Sorgen machen.

Alessas Füße zuckten, und am liebsten wäre sie davongerannt, aber stattdessen entschied sie sich dafür, an einem Faden herumzuzupfen, der kunstvoll in ihrem malvenfarbenen Tellerrock verborgen war. »Sollen wir auf die übrigen warten?«

»Mehr gibt es nicht.«

Alessa sank das Herz. Als sie zur Macht aufgestiegen war, hatte es auf der Insel zwei Dutzend Fontes gegeben. Damit hatte mehr als genug Auswahl existiert, selbst wenn man einbezog, dass einige dabei waren, die sich aus gesundheitlichen Gründen oder wegen ihres Alters oder weil sie gerade schwanger waren oder warum auch immer nicht als geeignet erwiesen hatten. Drei hatte sie getötet. Die übrigen hatten sich entschieden, ihre Heimat für immer zu verlassen. Sie konnte nur annehmen, dass sie nach Altari gegangen waren, der näheren der beiden anderen Zufluchtsinseln, die nach wie vor bewohnt waren.

Auch andere Menschen waren in den letzten Jahren geflohen, aber ihnen war es gestattet, nach der Belagerung zurückzukehren … wenn es auf der Insel noch etwas gab, für das zurückzukehren sich lohnte. Für die von den Göttern Berührten hingegen kam ein Mangel an Vertrauen einem Verrat gleich, und Verrat bedeutete Verbannung.

Die fünf, die noch übrig waren, standen vor ihr. Nun ja. Fünf war – ein bisschen – besser als nichts.

Renata trat vor. »Hallo und herzlich willkommen. Wir fühlen uns durch eure Anwesenheit geehrt. Bitte, kommt mit ins Atrium, wo die Finestra einen netten Empfang für euch vorbereitet hat.«

Alessa verbarg ihre Überraschung. Hatte sie das?

Renata winkte sie nach drinnen, wartete, bis die ersten Bediensteten mit Tabletts aus der Küche auftauchten. Als dann die Habseligkeiten der Fontes eintrafen, machte sie eine Schau daraus, den Dienern zu folgen, die die Taschen nach oben trugen.

Tomo verdrückte sich auffälligerweise als Nächster; er erklärte, dass er sich um die Vorbereitungen für das abendliche Bankett kümmern wollte, und ließ Alessa allein mit den Fontes zurück – und in einem durchdringenden Schweigen, das das gesamte Atrium ausfüllte.

Die Fontes waren in Wohlfühlkleidung gekommen, wie sie es gewünscht hatte, aber niemand von ihnen schien sich wohlzufühlen.

Kamaria, die ihre abwehrende Haltung abgelegt hatte, nachdem Renata und Tomo gegangen waren, gab sich noch am meisten Mühe, so zu tun, als wäre sie entspannt. Sie hatte die Daumen in die Taschen ihrer Hirschlederhose gehakt, und ihr breiter Mund war als Ausdruck ihres Desinteresses an der Welt zu einem Lächeln verzogen. Ihre weite Bluse, die abgetragenen Lederstiefel und der Hauch Farbe auf ihren kupferfarbenen Wangen erweckten den Eindruck, als wäre sie gerade nach einem belebenden Ritt vom Pferd gesprungen. Dennoch zuckte sie bei plötzlichen Bewegungen zusammen.

Nina trug schlichte Baumwollkleidung und hielt mit der einen Hand ihren Rock krampfhaft fest, während sie sich mit der anderen an Josefs Arm klammerte.

Kaleb stürzte sich auf einen Teller mit Vorspeisen, womit er die Dienerin überraschte, und aß wütend und schweigend.

Alessa räusperte sich. »Ich entschuldige mich für die Geheimniskrämerei, aber wir wollten niemanden beunruhigen.« Niemand anderen . Die hier waren ganz offensichtlich beunruhigt. »Der Consiglio hat mir die Erlaubnis gegeben, eine neue Strategie auszuprobieren. Ich würde gerne ein tieferes Verständnis eurer Gaben und Stärken bekommen, bevor wir mit dem Training anfangen …«

Sie trat zur Seite, als mehrere Bedienstete sich näherten; sie trugen Tabletts mit gekühlter Limonade und Limoncello.

Josef nahm ein Glas und ließ versehentlich den Inhalt gefrieren, sodass nichts herauskam, als er einen Schluck trinken wollte.

»Entschuldige«, sagte Saida. »Aber wie sollen wir dir etwas über unsere Gaben beibringen, wenn du uns nicht berühren kannst?«

»Oh. Nun ja, es könnte sein, dass wir ein paar Regeln beugen müssen.«

Saida und Kamaria wechselten einen Blick.

Ninas Glas beulte sich über und unter ihren Fingern aus. »Tut mir leid. Wenn ich nervös bin, passiert es mir manchmal einfach so.« Sie lockerte ihren Griff, und der gediegene Kristallkelch nahm wieder seine ursprüngliche Form an.

»Moment mal.« Kaleb klang ein wenig atemlos. »Willst du damit sagen, dass du unsere Gaben nutzen wirst, bevor du dich für jemanden entschieden hast?«

»Ich … äh.«

»Darüber sollten wir uns heute keine Sorgen machen.« Renata kam die Treppe herunter und rettete Alessa. »Wir werden euch Zeit geben, euch zuerst mit allem hier vertraut zu machen, dann wird Fonte Tomohiro Miyamoto –« Renata unterbrach sich mit einem Stirnrunzeln. Das Getrappel schwerer Stiefel hallte durch den Tunnel.

Angeführt von Hauptmann Papatonis, dessen Gesicht knochenweiß war, kam ein Regiment Soldaten in den Innenhof marschiert. »Finestra, die Wache ist hier, um mit Euch zu sprechen.«

Alessa lief ein Schauer über den Nacken.

Einige der Soldaten schleppten eine Trage, auf der etwas Großes unter einem Stück fleckigem Stoff lag. Als sie ihre Last vor ihr abstellten, rutschte etwas unter der Plane heraus.

Eine Klaue, verdreht und unterentwickelt.

Und sie zuckte.

Eine in der Nähe stehende Soldatin hob ihr Bajonett und stach auf die Plane ein. Das Zucken hörte auf, und ein Rinnsal aus mitternachtsblauem Blut floss zu Boden.

Hauptmann Papatonis räusperte sich. »Das hochgeschätzte Fünfte Regiment ist hier, um die Erste Warnung zu präsentieren.«

Josef rutschte das Glas aus der Hand; es fiel zu Boden und zerbarst in einem Hagel aus goldenen Scherben.

Was auch immer daraus werden würde – endlich wusste Alessa, wie viel Zeit ihr noch blieb.

Ein Monat.

Ein Monat, um sich für ihren oder ihre Fonte zu entscheiden.

Ein Monat, bis sie sich einem Schwarm solcher … Dinge entgegenstellen würden.

Ein Monat, und alles würde vorbei sein.