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Chi vive tra lupi, impara ad ululare.

Wer bei den Wölfen lebt, muss mit den Wölfen heulen.

Tage bis Divorando: 28

Alessa saß auf dem Ehrenplatz am Kopfende des Tischs, daher entging ihr kein einziger kläglicher Blick, kein einziges Zusammenzucken der Fontes, als sie Platz nahmen.

Rechts von ihr saß Nina mit gesenktem Kopf; sie flüsterte leise ein Gebet.

Als Alessa ihre Gabel aufnahm, erschreckte die Bewegung Nina so sehr, dass sie ihr Wasserglas umstieß und sich der Inhalt über ihren Schoß ergoss.

Saida, die auf der anderen Seite des Tischs saß, verzog das Gesicht. Kaleb stöhnte.

Ninas Lippe zitterte, während eine Dienerin mit einem Stapel Tücher herbeigeeilt kam.

Alessa kramte nach alten Erinnerungen, nach irgendetwas, was sich als Gesprächsthema eignete. »Spielst du immer noch Gitarre, Kamaria?«

Kamaria hantierte müßig mit ihrer Gabel. »Ja. Warum?«

»Ich habe mich nur gefragt. Wie gefällt dir der Tempelchor, Nina? Dein Solo bei der Messe letzte Woche war wunderschön.«

»Nett von dir, dass du das sagst«, murmelte Nina.

Jetzt mischte Josef sich ein; wie üblich klang er sanft und freundlich. »Ich sage ihr immer wieder, dass sie die Stimme eines Engels hat, aber sie glaubt mir nicht.«

Alessa nahm einen neuen Anlauf. »Wie geht dein Projekt voran, Saida?«

»So gut wie möglich, vermute ich. Momentan konzentriere ich mich auf den Nachtisch.«

Alessa versuchte, das Gespräch nicht versiegen zu lassen, während der erste Gang – Melone e Prosciutto – serviert wurde, aber die steifen Antworten, die sie den Fontes entlocken konnte, ließen Dante im Vergleich dazu wie ein Plappermaul wirken.

Die Küche hatte ein Festmahl zubereitet, das göttlichen Rettern würdig war; vermutlich dachten sie, dass die Fontes eine großzügige letzte Mahlzeit verdienten. Doch Alessa war die Einzige, die mehr tat, als nur ein bisschen darin herumzustochern. Einmal abgesehen von Dante, der auf einem Stuhl neben der Tür zur Küche saß, sich gerade die dritte Portion einverleibte und immer noch nicht langsamer machte.

Während alle auf den Nachtisch warteten, streckte Dante die Beine aus und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. Seine ungezwungene Bewegung löste die Anspannung wie ein nicht zu unterdrückendes Kichern in einer Messe.

Alessa war nicht die Einzige, die ihm einen düsteren Blick zuwarf.

Kaleb schnippte mit den Fingern in Dantes Richtung. »Mach dich mal nützlich und bring uns noch eine Flasche, ja?«

Alessa verzog das Gesicht. »Wie bitte?«

Dante schnappte sich eine Flasche von der Anrichte und knallte sie so heftig auf den Tisch, dass das Geschirr klapperte, ehe er zurück in seine Ecke stapfte.

»Heutzutage findet man einfach kein gutes Personal mehr«, murmelte Kaleb, während er in den frisch zubereiteten Gnocchi in Kräuterbutter auf seinem Teller herumstocherte.

»Er ist eine Wache, kein Diener«, sagte Alessa.

»Also, wie soll das alles laufen?«, fragte Kaleb. »Du peinigst uns, bis nur noch einer oder eine übrig ist, und gewonnen hat schließlich, wer am Ende noch da ist?«

Nina sah aus, als würde sie jeden Moment in Tränen ausbrechen; sie schien nicht zu bemerken, dass sie mit ihren Kräften den Löffel in ihrer Hand verbog. »Sag nicht so was.«

»Warum nicht?«, wollte Kaleb wissen. »Soll ich so tun, als wären wir begeistert darüber, dass wir hier sind? Überglücklich, die nächsten Opferlämmer zu werden?«

»Das reicht, Kaleb.« Josefs Wangen hatten sich dunkler gefärbt. »Du bist blasphemisch.«

»Und ein noch größeres Arschloch als sonst.« Kamaria tat so, als würde sie mit ihrem Buttermesser zustechen.

»Also.« Saida atmete tief aus. »Ich habe ein großartiges Buch über die Kraft des positiven Denkens gelesen, und ich kann es nur empfehlen.«

Kaleb schnitt ihr das Wort ab. »Positives Denken hat Emer, Ilsi oder Hugo nicht gerettet, und es wird sie nicht davon abhalten, auch dich zu töten.«

»Ich habe nicht die Absicht, irgendjemanden zu töten«, sagte Alessa. »Meine vorherigen Fontes sind nicht durch eine kurze Berührung gestorben. Wir … haben weitergemacht, denn sie hatten ihre Rolle akzeptiert und fühlten sich verpflichtet, ihre Aufgabe zu erfüllen. Das verlange ich von euch nicht. Ich glaube – ich meine, ich bin zuversichtlich  – dass ich meine Stärke im Laufe der Zeit und mit Übung variieren kann.«

»Seht ihr?« Saida lächelte voller wildem Optimismus. »Sie hat daran gearbeitet. Positives Denken und Übung. Es wird alles gut gehen.«

»Und wenn dieser Kult, der es auf uns abgesehen hat, vorher kommt?«, fragte Kaleb.

Alessa ließ das letzte bisschen Lächeln aus ihrem Gesicht verschwinden. »Sie haben es nicht auf euch abgesehen – sondern auf mich. Und wenn ich glauben würde, dass es Saverio retten würde, würde ich sie machen lassen.« Sie schwieg einen Moment, um ihre Worte wirken zu lassen. »Aber es gibt keine Beweise für ihre Theorien.«

Nina blickte die anderen hektisch an. »Über was sprecht ihr?«

Kamaria massierte sich die Schläfen. »Haben sie dich in einen Turm gesperrt, Nina? Ein paar Spinner behaupten, dass Alessa keine echte Finestra ist und dass sie, damit die wahre auftauchen kann … du weißt schon.« Sie sah Alessa entschuldigend an.

»Sprecht ihr von Padre Ivini?« Nina runzelte die Stirn. »Er hat letzte Woche meine Jugendgruppe besucht, und er ist mir nicht wie ein Spinner vorgekommen. Jeder Mensch kommuniziert mit Dea auf seine eigene Weise, und er hat ein Recht auf seine Interpretation, auch wenn wir anderer Meinung sind.«

»Nicht wenn seine Interpretation bedeutet, dass Deas auserwählte Retterin ermordet wird«, sagte Kamaria.

»Ich bin mir sicher, dass er niemals irgendwem aufgetragen hat, das zu tun.«

Josef hustete laut und bewahrte Nina davor, noch tiefer im Fettnäpfchen zu versinken.

Alessa unterdrückte ein Stöhnen. Sie hatte sich alle möglichen Gedanken darüber gemacht, was schlimmstenfalls bei ihrer ersten Mahlzeit mit den Fontes passieren könnte. Ihr war jedoch nie in den Sinn gekommen, dass sie mit einer beiläufigen Unterhaltung über ihren Tod beginnen könnte.

»Ja, nun«, sagte sie. »Es gibt keinen Beweis, dass eine andere Finestra auftauchen wird, wenn die derzeitige stirbt. Ihr müsst also mit mir klarkommen.«

Kalebs Augen verengten sich. »Es gibt auch keinen Beweis, dass es nicht geschehen wird.«

Kamaria neigte ihr Glas in Kalebs Richtung. »Wenn du es darauf anlegst, dich so unerträglich zu verhalten, dass du ausgesondert wirst, machst du deine Sache wirklich verdammt gut.«

»Mein Wunsch ist, euch zu erfreuen«, sagte Kaleb und bewunderte einen winzigen Funken, den er zwischen Daumen und Zeigefinger erschaffen hatte. »Wie geht es deinem Bruder, Kamaria? Oh, Moment mal, er ist ja weggelaufen, oder? Ich wusste, dass ich keinen Appetit hatte. Muss am Gestank von Verrat liegen.«

Kamaria warf ihm einen mörderischen Blick zu.

»Also ich habe Vertrauen in die Götter.« Saida verzog das Gesicht zu einem Lächeln. »Und in unsere Finestra.«

Zumindest eine war bereit, wenigstens so zu tun, als würde alles gut werden.

»Dea macht keine Fehler«, sagte Nina leise, aber es schien mehr eine Frage als eine Feststellung zu sein.

Dies alles war eine Katastrophe.

»Ich wünschte, ich könnte euch allen das hier ersparen«, sagte Alessa. »Aber Saverio braucht mich, und ich brauche einen oder eine Fonte. Ich habe vor, mich zu bewähren, sodass jemand von euch sich freiwillig melden wird, wenn der Zeitpunkt für die endgültige Entscheidung gekommen ist.«

»Und wenn sich niemand meldet?«, fragte Nina.

»Dann wird der Consiglio jemanden erwählen müssen. Ich werde es nicht tun. Denn ich weiß, was es bedeutet, in eine Rolle gezwungen zu werden, um die man nicht gebeten hat. Das werde ich nie wieder jemandem antun.«

»Darauf einen Toast«, sagte Kaleb und füllte sich das Glas, bis es fast überlief. »Zum Wohl. Auf die Person, die zuerst stirbt.«