Chi pecora si fa, il lupo se la mangia.
Wenn du zum Schaf wirst, werden die Wölfe dich fressen.
Tage bis Divorando: 26
Während des Frühstücks begann die Insel zu beben, als würde auch sie vor Angst zittern. Beim zweiten Beben eilte Alessa zurück nach oben; verschütteter Orangensaft tropfte von ihr auf den Boden, und sie murrte leise etwas über Gottheiten, die auch Botschaften aus Wolken oder Regenbogen hätten senden können . Aber nein, sie mussten natürlich Naturkatastrophen verwenden, um die Tage bis Divorando runterzuzählen.
Als sie in sauberen Kleidern im Übungsraum stand, ließ das Beben nach, aber Crollo schien entschlossen, einen ganzen Ozean auf die Insel herabstürzen zu lassen. Sie machte sich daran, die Kissen zu arrangieren, die sie mitgebracht hatte, damit sich alles nicht gar so bedrohlich anfühlte – und für den Fall, dass jemand hinfallen sollte –, aber gegen das unheilvolle Grollen des Sturms konnte sie nichts tun.
Kamaria lehnte an der Wand, gab in ihrer eng anliegenden hellbraunen Hose ein Bild lässigen Gelangweiltseins ab, fummelte aber unaufhörlich an der Spitze ihrer lockeren Bluse herum. Nina stand hinter Josef, spiegelte fast unmerklich seine Bewegungen, wie die Gezeiten, die auf den Mond reagierten. Das Blassrosa ihres Kleids stellte eine Veränderung gegenüber dem Weiß dar, das sie normalerweise bevorzugte, unterschied sich aber auch nicht allzu sehr davon.
Kalebs übliche Verachtung hatte sich in mürrische Schwermut gewandelt. Er trug von Kopf bis Fuß Schwarz, für den Fall, dass irgendwem nicht absolut klar sein sollte, wie er es empfand, hier zu sein. Breitbeinig und mit verschränkten Armen stand er da und erwiderte finster die Blicke all derer, die dumm genug waren, in seine Richtung zu schauen.
Saida war die Erste, die Alessas fragendem Blick nicht auswich, sondern einen Schritt auf sie zu machte. Jede Schicht ihres Rocks war heller als die darunterliegende – ganz so, als könnten helle Farben die bedrückende pessimistische Aura bannen. Ihre Augen hatte sie mit blauem Lidschatten betont; die Farbe passte perfekt zu dem Schal, den sie sich um die Haare gebunden hatte, vermutlich um zu verhindern, dass sie hin und her wirbelten, wenn sie ihre Macht benutzte.
»Wir können uns hinsetzen, wenn du willst«, sagte Alessa und deutete auf die herumliegenden Kissen.
Saida zog die Schultern zurück und sah Alessa in die Augen. »Danke, aber ich ziehe es vor, Platz zu haben, um mich bewegen zu können.«
Um fliehen zu können.
Alessa knetete ihre Finger und versuchte ihren Blutkreislauf in Gang zu bringen, auch wenn kalte Finger das geringste Problem waren.
In einer Ecke stand Renata und beobachtete alles aufmerksam; ihre Lippen bewegten sich in einer stummen Litanei aus »sanft, leicht, vorsichtig«, die zu dem Refrain in Alessas Kopf passte.
Ihre Hände waren so klamm, dass sie sich nicht sicher war, ob sie irgendetwas würde festhalten können, daher legte sie Saida auf ihr knappes Nicken hin den Daumen und den Zeigefinger wie einen Armreif um die Handgelenke.
Schlagartig erwachte ihre Macht, wie eine wilde Woge, die durch sie hindurchrauschte, gierig, sich nach etwas sehnend, das ihr lange verwehrt worden war. Es war zu viel, zu schnell.
Saida wimmerte, und Alessa ließ los. Sie brauchte einen neuen Kandidaten. »Danke, Saida, ich werde auf dich zurückkommen. Josef?«
Er hatte ein Glas Wasser mitgebracht, damit Alessa versuchen konnte, es gefrieren zu lassen, und hatte die Voraussicht, es auf den Boden zu stellen, sodass es zumindest keine Scherben geben würde.
Alessa nahm Josefs glatte, kühle Hände in ihre und starrte das Wasserglas an. Nichts veränderte sich. Eine Kälte traf ihr Brustbein, breitete sich bis in ihre Gliedmaßen aus. Vielleicht war das Josefs Gabe, vielleicht aber auch ihre eigene wachsende Panik.
Er hielt länger durch als Saida, beharrte darauf, dass es ihm gut ging – allerdings mit zusammengebissenen Zähnen, als fürchtete er, sich übergeben zu müssen, sobald er den Mund aufmachte.
Es war gerade einmal der erste Tag. Sie hatten Zeit.
Zumindest ein wenig.
Nicht genug.
Kamaria kam herangeschlendert; sie trug eine Kerze in einem Kerzenhalter aus Metall. »Ich habe Requisiten mitgebracht.« Ihr Tonfall klang leicht, aber die Flamme zitterte. Sie stellte den Kerzenhalter auf den Boden und griff nach Alessas Händen.
Alessa konnte ihre Finger nicht freibekommen. Sie würde Kamaria verletzen – oder Schlimmeres würde passieren …
Konzentrier dich . Sie versetzte sich einen mentalen Klaps. Tief atmend zügelte sie sich, bis das gierige Verlangen nachließ. Dann – und erst dann – versuchte sie, Kamarias flackernde Macht zu erreichen. Sie strich an ihrem Geist entlang, tanzte wie eine Flamme in einer Brise, aber sie konnte sie nicht fassen.
Renata hatte zu Alessa gesagt, sie sollte an eine Sängerin denken – allmählich verlor sie den Überblick über die vielen Metaphern und Bilder –, aber ihre Versuche, ihre Macht zu benutzen, fühlten sich an, als würde sie sich angestrengt bemühen, sich an eine vergessene Melodie zu erinnern, oder an ein Wort, das einem eigentlich schon auf der Zunge lag. Es war da, in ihr, und ein Teil von ihr wusste , wie es funktionierte, aber je mehr sie sich anstrengte, desto schwieriger wurde es, es zu fassen zu kriegen.
Kamarias Griff lockerte sich genug, dass Alessa ihre Hände wegziehen konnte, und beide seufzten erleichtert. Leicht zitternd verbeugte sich Kamaria schwungvoll und mit einem großspurigen Grinsen.
Die Kerze hatte nichts getan.
Drei Fontes, keinerlei Ergebnisse.
Eisige Finger aus Panik wanderten Alessas Rückgrat hinauf. Sie hatte sich so große Sorgen gemacht, dass sie Fontes töten könnte, dass ihr niemals die entsetzliche Möglichkeit in den Sinn gekommen war, sie könnte sie um den Preis am Leben halten, dass sie unfähig war, ihre Macht zu kanalisieren.
Kaleb kam herangeschlichen. Er wirkte so steif, dass er womöglich auseinanderbrechen würde, wenn sie eine plötzliche Bewegung machte. Seine Hände waren kalt und groß – eine lächerliche Feststellung, aber es war das Erste, was sie bemerkte, bevor sie ihren Geist vollständig öffnete. Ein Ruck lief ihre Arme hoch, und sie ließ mit einem Keuchen los.
Kaleb beugte sich vor, umklammerte seine Hand. »Verdammt, das hat wehgetan !«
»Es tut mir leid«, sagte Alessa. Zwischen ihren Fingern tanzten Blitze. »Ich wollte dich nicht –«
»Du bist dran, Sommersprosse«, meinte Kaleb höhnisch zu Nina, die hinter Josef kauerte und ein Gebet zu Dea flüsterte. »Mach weiter. Böse Monsterkäfer kommen.«
»Was bist du nur für ein Fiesling, Kaleb.« Nina ließ die Hände sinken; in ihren Augen schimmerten wütende Tränen. Sie weinte, während sie an der Reihe war, und Schluchzer schüttelten sie beide, bis Alessa es schaffte, eine leichte Berührung zustandezubringen. Sie versuchte noch nicht einmal, Ninas Gabe, Materie zu verzerren, zu benutzen. Ein Schritt nach dem anderen. Nina musste bestärkt werden, bevor sie überhaupt die Chance hatte, eine nützliche Fonte zu werden.
Nach einer weiteren Runde, über die man nichts Besseres sagen konnte, als dass »niemand starb«, erklärte Kaleb die Übungsstunde für beendet und stolzierte hinaus, starrte dabei alle finster an, die es wagten, in seine Richtung zu blicken.
Alessa ließ ihn gehen. Er hätte womöglich die Cittadella in Brand gesteckt, wenn sie aufmunternde Worte an ihn gerichtet hätte.
Die anderen gingen danach ebenfalls, nur Kamaria blieb noch zurück. »Darf ich dich etwas fragen?«
»Natürlich.«
»Haben Finestra und Fonte die Macht, jemanden zu begnadigen, der ein schweres Verbrechen verübt hat?«
Alessa warf ihr einen fragenden Blick zu.
»Keine Sorge, ich bin keine Serienmörderin oder so was. Es geht um meinen Bruder. Ich weiß, was alle denken, aber Shomari ist kein Deserteur, das schwöre ich. Wie ich schon sagte, er hat einfach eine Schwäche für Mutproben, und seine Freunde haben ihn herausgefordert, sich auf ein Schiff zu schleichen. Die kleinen Idioten sind weggerannt, als die Crew aufgewacht ist, und ich wette, Sho hat versucht, sich zu verstecken, um keinen Ärger zu kriegen. Dann ist er in Panik geraten, als das Schiff den Hafen verlassen hat und er offiziell zum Deserteur geworden ist. Er hat nicht mal irgendwas mitgenommen.«
Alessa stieß die Luft aus. »Man hat mir immer erzählt, dass es ein unentschuldbares Verbrechen ist zu desertieren, aber ich weiß nicht … vielleicht unter den richtigen Umständen …«
»Wie etwa, wenn seine Schwester Fonte würde?«
Es war verführerisch, Ja zu sagen, eine starke Kandidatin darauf festzunageln. Aber sie konnte Kamarias Bruder nicht als Druckmittel benutzen, und sie kannte die Antwort wirklich nicht. »Vielleicht. Ich kann nichts versprechen.«
»Verstehe. Tut mir leid, dass wir das nicht etwas leichter für dich machen.«
Alessa versuchte, sich unauffällig die Augen zu wischen, als Kamaria den Raum verließ.
»Sag nichts«, sagte sie zu Dante, der sie viel zu eingehend musterte.
»Hatte ich auch nicht vor.«
Sie schniefte. »Sie sind alle am Leben.«
»Ja.«
»Saida hat eine gute Einstellung. Josef ist ein feiner Kerl. Kamaria war stark und scheint motiviert zu sein. Kaleb war … nun ja, Kaleb ist Kaleb.«
»Ich habe es genossen zuzusehen, wie er sich wand.«
Sie sah ihn vorwurfsvoll an. »Du solltest nett sein.«
»Ich bin nicht nett.«
»Ich glaube, du könntest es sehr wohl sein.«
Dante wirkte tödlich beleidigt, was sie so witzig fand, dass sie anfing zu lachen und nicht mehr aufhören konnte, bis die Tränen, gegen die sie zuvor angekämpft hatte, plötzlich zu fließen begannen. Schließlich wusste sie nicht mehr genau, ob sie eigentlich lachte oder weinte.
Dante wirkte zusehends entsetzt, aber sie konnte einfach nicht aufhören.
»Äh … seid Ihr in Ordnung?«, fragte er.
»Ist mir nie besser gegangen«, keuchte sie. »Inigo?«
»Falsch.«
»Alberto?«
»Immer noch falsch.« Er hielt ihr die Tür auf.
»Ranieri?«
»Nicht einmal nah dran.«
»Julian? Amadeo?«
»In Ordnung, Piccola, das reicht für heute.«
Während ihrer Übungseinheit war der Regen zu einer Sintflut geworden. Wasser strömte von den Dachvorsprüngen des Innenhofs, und wilde Windböen trieben den Regen seitwärts, sodass der überdachte Gehweg keinerlei Schutz bot.
Alessa und Dante platschten durch den Innenhof zur Treppe, und sie hörte einen wirren Haufen Bedienstete darüber streiten, wie man am besten aus der Küche abhauen konnte. Wenn die Cittadella, die der höchste Punkt der Stadt war, so überschwemmt wurde, wollte sie gar nicht wissen, wie es sonst überall aussehen musste.
»Sollen wir rennen?«, fragte Alessa Dante.
Regenwasser tropfte von seinen Haarspitzen, als er zum Himmel aufschaute. Sie würden so oder so durchnässt werden.
»Komm schon.« Alessa raffte ihre Röcke zusammen und raste in den Regen hinaus. Sie konnte kaum etwas sehen, da ihr das Wasser übers Gesicht lief, aber sie streckte der Statue von Crollo trotzdem die Zunge raus, als sie an ihr vorbeirannte.
Ein lautes Poltern, und jemand prallte gegen sie.
»Was –«
Dante stieß sie vorwärts, während etwas hinter ihnen auf den Boden krachte. Die Statue. Marmorsplitter schlitterten über den überfluteten Innenhof.
Sie stolperte, aber sie fiel nicht. Dante hielt ihren Arm eisern fest und zerrte sie zur Treppe.
»Sie wird nicht noch einmal umfallen.« Sie versuchte sich freizumachen, doch seine Hand hätte genauso gut eine eiserne Fessel sein können. »Du darfst die Finestra nicht berühren, du Idiot. Das Beben ist vorbei.«
»Da war kein Beben, und das war kein Unfall.«
Sie versuchte sich umzudrehen. »Hast du jemanden gesehen?«
»Ich konnte kaum überhaupt etwas sehen.«
Als sie die Treppe erreichten, ließ er sie los, schob die nassen Haare beiseite, die ihm an der Stirn klebten.
Er schüttelte die Tropfen von den Fingern und deutete auf ihr Gesicht. »Ihr blutet.«
»Was?« Sie berührte ihre Wange.
Dante packte sie wieder am Ellbogen, drängte sie weiter, aber ihre völlig durchnässten Röcke klebten an ihren Beinen und machten ihr das Gehen schwer.
»Oh, um Deas willen, warte.« Sie riss ihren Arm frei und fand die Schnalle, löste den nassen Stoff von den Beinen und hob ihn hoch, trug ihn in den Armen. Die waldgrünen Strumpfhosen, die sie darunter anhatte, waren fast so dick wie eine Hose, und ihre Lederstiefel – die wahrscheinlich jetzt ruiniert waren – reichten bis über die Knie.
Dante sah kurz nach unten, dann sofort wieder hoch und zur Seite.
»Oh, bitte«, sagte sie. »Als hättest du noch nie die Beine einer Frau gesehen.«
»Geht einfach weiter«, knurrte er barsch.
Sobald sie in ihrer Suite angekommen waren, eilte Alessa ins Badezimmer, um ihre Verletzung zu untersuchen. Die Schramme an ihrer Schläfe, die von einem Marmorsplitter stammte, verlief gerade, war so lang wie ihr Finger und nicht allzu tief. Nichts, was genäht werden musste, den Göttern sei Dank, denn das hätte sie selbst tun müssen und wäre dabei vermutlich ohnmächtig geworden. Erst das Ohr, jetzt ihr Gesicht. Wenn es in diesem Tempo weiterging, würde sie wie eine von Schlachten gezeichnete Finestra aussehen, noch bevor Divorando überhaupt begonnen hatte.
Dante trat zu ihr. »Ich habe Salbe gefunden. Haltet still.« Er hob einen Finger, und Alessa stolperte rückwärts, fiel über die Kommode und landete in der Badewanne.
»Hast du den Verstand verloren?«, fragte sie. »Du darfst meine Haut nicht berühren. Du wirst sterben , wenn du es tust.«
Dante blinzelte. »Oh, stimmt. Hier.« Er warf ihr die Salbe in den Schoß.
Ihr Rücken schmerzte, ihre Schläfe brannte, und sie musste ein lächerliches Bild abgeben, so mit den Beinen über den Rand der Badewanne und den Füßen nach oben. Dante hingegen sah ganz und gar nicht wie eine ertrunkene Ratte aus, sondern einfach nur prachtvoll; seine Haare kringelten sich, sein weißes Hemd war halb durchsichtig und klebte ihm an der Brust, und seine Hose – nein, seine Hose sah sie besser nicht an.
Während sie den Deckel der Salbe aufschraubte, warf sie ihm einen finsteren Blick zu. »Lachst du mich aus?«, fragte sie. »Du glaubst, es hat wieder jemand versucht, mich zu töten, und du lachst ?«
Er hob eine Faust an den Mund. »Die ganze Zeit, seit ich Euch kenne, hat jemand versucht, Euch zu töten.«
Sie warf ihm die Salbe an den Kopf.
Er fing sie auf. »Können wir uns darauf einigen, dass Ihr von jetzt an Euren Hintern bewegt, wenn ich es Euch sage, ohne es zu hinterfragen?«
»Na schön. Können wir uns darauf einigen, dass du mich nicht in der Gegend rumzerrst, solange ich es tue? Die Finestra sollte nicht grob behandelt werden.«
»Abgemacht.« Er hielt ihr die Salbe hin. »Fertig damit?«
Alessa stützte sich auf die Ellbogen und starrte auf die Innenseite seines Handgelenks. Sie musterte die beiden gekreuzten Klingen, den dünnen Kreis aus winzigen Buchstaben um sie herum – das Zeichen, das ihn zu einem Kriminellen machte, einem Mörder. Das verblasste Zeichen.
Dante ließ die Hand sinken, aber sie hatte den Beweis bereits gesehen.
»Das ist nicht echt«, sagte sie. »Du hast dich selbst gezeichnet.«