Lupo non mangia lupo.
Wölfe fressen keine Wölfe.
Tage bis Divorando: 20
Wieder in ihrer Suite überlegte Alessa laut, was sie bei ihrer Porträtsitzung am nächsten Tag tragen sollte, während Dante das Thema komplett ignorierte; stattdessen machte er es sich mit einem weiteren Buch in einem Sessel bequem.
Sie ging ihren Schrank durch, zog reihenweise rubinrote Seide, silbernen Taft und violette Spitze heraus und hängte ein halbes Dutzend Kleider, die sie nur einmal oder überhaupt noch nicht getragen hatte, an den Paravent zwischen ihrem Bett und dem Hauptraum.
Nach mehrmaligem sehr lautem Räuspern (und einem einmaligen, aber nachdrücklichen Aufstampfen des Fußes) blickte Dante lange genug auf, um mit einem Brummen in Richtung eines scharlachroten Kleids sein Urteil abzugeben. Alessa machte sich nicht die Mühe, ihn nach seiner Meinung bezüglich des Schmucks oder der Schuhe zu fragen, packte vielmehr die, für die sie sich entschieden hatte, zusammen und legte sie unter das Kleid, damit sie am Morgen nicht allzu lange würde stöbern müssen.
Als Alessa zurück zur Sitzecke ging, hob sie das kleine in Leder gebundene Buch auf, das er offen auf dem Beistelltisch liegen gelassen hatte, und fuhr mit dem Finger über die Worte im Innern des Umschlags.
Per Luce mia.
»Ist das für mich?«
Dante sah zu ihr hin und schoss hoch. »Nein.«
»Tut mir leid.« Sie zog die Hand weg. »Ich wollte nicht herumschnüffeln.«
»Nein. Ist schon gut.« Seine Wangenknochen verdunkelten sich. »Ihr könnt es Euch ansehen. Es ist allerdings in der alten Sprache.«
Alessa schlug willkürlich eine Seite auf. »O mangiar questa Minestra o saltar dalla Finestra«, las sie, stockte dabei ein wenig. »Etwas über Minister … die aus dem Fenster springen?«
»Minestra ist Suppe. Iss die Suppe, oder spring aus dem Fenster. Es bedeutet du hast keine Wahl .«
»Ah«, sagte sie und schlug das Buch wieder zu. »Ich habe mich schon gefragt, ob du ein Buch mit alten Sprichwörtern auswendig gelernt hast, und voilà, hier ist es.«
»Mehr als eins, genauer gesagt. Der heilige Mann, der mich bei sich aufgenommen hat, nachdem meine Eltern gestorben waren, hat mich jeden Tag in der Verità lesen lassen. Sie war groß genug, um andere Bücher dahinter zu verstecken.«
»Oh.« Sie kaute an ihrer Lippe. »Wie lange hast du bei ihm gelebt?«
»Zu lange. Ich habe drei Jahre gebraucht, um wegzukommen.«
»Das ist schrecklich.« Sie wollte noch mehr fragen, wollte verstehen, was er durchgemacht hatte, sowohl während seiner Gefangenschaft als auch danach, aber ihr Instinkt sagte ihr, dass ein wahrer Freund das Thema wechseln würde.
Auf der Rückseite des Buchs spürte sie Rillen unter ihren Fingerspitzen, und sie drehte es um und sah Buchstaben, die in das Leder geritzt waren.
E. Lucente.
»Ich hab’s gewusst!«, brüstete sich Alessa. »Du heißt Eustice! «
Dante lächelte schief und schüttelte den Kopf. »Das E steht für Emma . Es hat meiner Mutter gehört.«
»Verflixt«, schmollte Alessa. »Nun ja, zumindest kenne ich jetzt deinen Nachnamen. Lucente . Licht . Und Dante bedeutet …«
»Beständig.«
»Beständiges Licht«, sagte sie versonnen. »Das gefällt mir. Du hast mich einmal Luce mia genannt.«
Dante verschränkte die Arme und öffnete sie dann wieder, räusperte sich dabei leise. »Sie hat mich so genannt.«
Ihr Herz schmerzte, als sie sich den kleinen Jungen vorstellte, der er einmal gewesen sein musste. »Und was liest du jetzt? Ist es gut?«
Er warf ihr einen Blick zu. »Sagt Ihr es mir. Ich habe es neben Eurem Bett gefunden.«
Ihr wich das Blut aus dem Gesicht. »Gib es mir zurück.«
Er zog es näher an sich. »Das werde ich. Ich leihe es mir nur. Fairer Tausch.«
»Das kannst du nicht tun. Es gehört mir . Ich meine, es gehört mir nicht . Ich habe es gefunden. Es war ganz offensichtlich nicht für die Bibliothek bestimmt, deshalb habe ich es mitgenommen. Um es auszusondern.«
»Warum solltet Ihr das tun?«
»Es ist … unangemessen.« Die Spitzen ihrer Ohren wurden heiß.
»Nun ja, irgendjemandem hat es gefallen. Die Hälfte der Seiten hat Eselsohren.« Seine Lippen zuckten.
Sie machte sich an den Dekokissen zu schaffen, arrangierte sie neu. »Keine Ahnung.«
»Sie haben die besten Teile gekennzeichnet, wenn Ihr mich fragt.«
Die besten . Die skandalösesten – das meinte er –, aber da sie das Buch nicht gelesen hatte und daher auch keine Eselsohren als Lesezeichen hineingemacht hatte, konnte sie seiner Einschätzung weder zustimmen noch dagegen argumentieren, und der Mistkerl wusste das.
»Der Autor schreibt ziemlich … äh … anschaulich«, sagte er, sich ganz unschuldig gebend. »Ah, hier ist eine gute Stelle. ›Als der Prinzregent sich umdrehte, um sein höchst königliches Schwert zu präsentieren, keuchte die Lady auf. So eine beeindruckende Waffe konnte –‹«
Ein Kissen, das in seinem Gesicht landete, schnitt ihm das Wort ab. Lachend warf er es beiseite. »Gesteht. Wie oft habt Ihr es gelesen?«
»Ich habe dir gesagt, dass ich es nicht –«
»Ein Dutzend Mal? Hundert Mal?«
»Du bist ein schrecklicher Mensch, weißt du das?«
»Ich weiß.« Er klang viel zu ernst, und sie zögerte, fragte sich, ob sie sich entschuldigen sollte, doch sein Gesichtsausdruck veränderte sich, wirkte jetzt auf naive Weise aufrichtig. »Aber ich muss herausfinden, ob die unerschrockene Heldin sich für den Prinzen oder den Schurken entscheidet, also wagt es nicht, mir den Spaß zu verderben.«
Alessa richtete sich auf, Zoll für Zoll die stolze Finestra. »Das würde ich niemals tun. Nur die allerschlimmsten Menschen verraten das Ende eines Buchs.«
»Das stimmt. Und Ihr könnt es auch gar nicht. Das ist offensichtlich. Denn Ihr habt das Buch ja nicht gelesen.«
»Genau, ich habe es nicht gelesen.«
»Es ist nichts, dessen man sich schämen müsste, wisst Ihr?« Er sah kurz zu ihr auf. »Es ist vollkommen normal.«
»So was zu lesen?«
»Dass einem so ein Buch gefällt. Ihr mögt ein heiliges Gefäß und all so was sein, aber Ihr seid immer noch ein menschliches Wesen.«
»Mehr oder weniger.«
Er beugte sich vor. »Voll und ganz. Ob Ihr einen Titel habt oder nicht, Kräfte habt oder nicht, Ihr seid immer noch ein menschliches Wesen. Lasst nicht zu, dass dieser heilige Unsinn sich in Eurem Kopf breitmacht.«
»Heiliger Unsinn ?«
Er wedelte ihren entrüsteten Protest beiseite. »Lasst Eure Götter und Göttinnen auf ihren Sockeln, wenn Ihr wollt, aber die Regeln, die Rituale, die Isolation? Ihr wisst, dass diese Dinge nicht wirklich von ihnen kommen, oder? Sie wurden von Menschen geschrieben. Hauptsächlich Männern. Wir haben die schlechte Angewohnheit, Menschen einzusperren, die uns Angst machen, und das, was Männern mit Macht am meisten Angst bereitet, ist eine Frau mit noch mehr Macht.«
Sie konnte sich nicht vorstellen, warum irgendjemand ihre Macht haben wollen würde, aber wenn es um Menschen ging, gab es eine Million Dinge, die sie nicht verstand. Daher stritt sie nicht mit ihm. Sogar Adrick hatte neidisch geklungen, als sie sich das letzte Mal unterhalten hatten.
Dante sah sie eindrücklich an. »Wenn Teile dieser Abmachung für Euch nicht funktionieren, ignoriert sie. Nehmt die Traditionen, die Ihr braucht, und werft den Rest weg. Seid kühn.«
»Kühn, ja?« Sie schnappte sich das Buch vom Tisch. »In dem Fall nehme ich das hier zurück.«
Dantes Lachen folgte ihr zu einem Stuhl auf dem Balkon.
»Sie haben darüber gesprochen, heute Nacht Karten spielen zu wollen«, sagte er, während er ebenfalls auf den Balkon hinaustrat. »Ihr solltet zu ihnen gehen.«
»Ich habe sie den ganzen Tag gequält.« Alessa glättete ihre Röcke. »Ich bin mir sicher, dass sie mich nicht dabeihaben wollen.«
»Das werdet Ihr erst wissen, wenn Ihr es versucht«, sagte er. »Ihr wollt Freunde – also geht und sucht sie Euch.«
»Ich werde niemanden zwingen , mein Freund oder meine Freundin zu sein.«
»Ha! Ihr versucht andauernd, mich dazu zu nötigen.« Er legte die Hände auf die Rückenlehne ihres Stuhls und beugte sich vor, bis sein Mund dicht an ihrem Ohr war. »Ihr habt keine Angst , oder?«
Alessa riss entrüstet den Kopf herum, sodass ihre Haare Dante ins Gesicht peitschten.
Lachend wischte er sich ein paar Strähnen von der Wange. »Ihr riecht wie ein Obstgarten.«
»Ich rieche göttlich, vielen Dank auch. Meine Nonna macht mir Seifen und Peelings aus selbst angebauten Zitronen und Meersalz. Das ist gut für den Teint.«
»Ich werde mir das merken. Sie lassen Euch Eure Großeltern besuchen?«
»Nein. Ich darf ihnen noch nicht einmal schreiben, aber die Regeln legen nicht genau fest, bei wem ich einkaufen darf, daher bestelle ich mir alle paar Monate einen Korb, und Nonna kritzelt geheime Botschaften auf die Innenseiten des Einwickelpapiers.«
»Ich fange allmählich an zu verstehen, woher Eure rebellische Ader kommt.«
»Ich bin auch nach ihr benannt, und ich habe ihre Neigung geerbt, Streuner aufzulesen. Wenn sie dich jemals sieht, wird sie dich zwingen, jede Menge Pasta zu essen, und mit dir schimpfen, weil du viel zu gut aussiehst.«
»Ihr findet, ich sehe gut aus?«
Alessa wurde rot. »Nein. Aber sie würde es glauben. Und sie würde nicht erwarten, dass du viel redest. Wenn sie nicht vor sich hin singt, führt sie Selbstgespräche, und es ist unmöglich, zu Wort zu kommen. Mein Nonno ist taub, und sie vergisst immer, dass alle anderen es nicht sind.«
»Aaalsoooo« – er zog das Wort in die Länge – »ist sie eine ältere Version von Euch?«
»Ich vermute, dass du das nicht als Kompliment gemeint hast, aber ich akzeptiere es trotzdem als eins.«
»Was auch immer nötig ist, um Euer Selbstvertrauen zu stärken, Luce mia. Kommt, gehen wir.«
Sie rührte sich nicht.
»Bewegt Euch, Soldatin.«
Sie umklammerte die Armlehnen und klemmte die Knöchel hinter die Stuhlbeine, aber Dante neigte ihren Stuhl nach vorn, sodass sie keine andere Wahl hatte, als aufzustehen, wenn sie nicht auf dem Fußboden landen wollte.
»Ich verabscheue dich.«
»Damit kann ich leben.«
Als sie den Korridor überquerten, wurden Stimmen laut, gefolgt von Lachen über einen Witz, den sie nicht gehört hatte. Alles, was sie seit vielen Jahren gewollt hatte, war hinter dieser Tür, und sie musste nur anklopfen.
Furcht. Hoffnung. Zwei Seiten derselben Münze, die sich zu schnell drehte, um sie unterscheiden zu können.
Alessa hob die Hand, bis ihr Arm schmerzte, dann senkte sie diese wieder. »Ich kann nicht.«
»Wie wollt Ihr einem Schwarm Scarabei entgegentreten, wenn Ihr zu viel Angst davor habt, an eine Tür zu klopfen?«
»Ein gesellschaftliches Ereignis zu zerstören ist schlimmer als ein Kampf auf Leben und Tod.«
»Sagt einfach nur Hallo.«
Von drinnen war wieder Gelächter zu hören, und Alessa schreckte zurück.
»Na schön, dann werde ich es tun.«
Alessa stellte sich ihm in den Weg.
»Wage es nicht.« Sie wedelte mit einem sehr uneffektiven Finger vor seinem Gesicht herum, das sich ein gutes Stück über ihr befand.
»Feigling«, sagte er grinsend.
Die Tür schwang auf, und als Alessa herumwirbelte, sah sie sich einer ebenso überraschten Saida gegenüber, die im Türrahmen stand und die Arme um sich schlang.
»Finestra. Stimmt etwas nicht?«
Im Zimmer hinter ihr ließ Josef eine Handvoll Karten auf den Boden fallen, und Nina sprang so hastig auf, dass sie anschließend einen ungeschickten Tanz aufführen musste, um zu verhindern, dass das Glas, das sie dabei halb umgestoßen hatte, seinen Inhalt über den Tisch ergoss. Wenn das Mädchen auch außerhalb der Cittadella nur halb so ungeschickt war wie hier, musste Josef die ganze Zeit seine Kräfte benutzen, um zu verhindern, dass er klitschnass wurde.
»Nein. Alles in Ordnung.« Alessa glättete ihre Röcke. »Ich wollte nur mal nachsehen, ob ihr vielleicht irgendetwas braucht.«
Die Fontes boten einen entsetzten Anblick, starrten sie an wie eine Mäusefamilie eine Katze ansehen mochte, die ihren Bau ausgegraben hatte.
Saida blinzelte. »Ich glaube nicht, dass wir irgendetwas brauchen. Brauchen wir irgendwas?«
Köpfe wurden geschüttelt.
Alessa nickte. Dann wurde ihr klar, dass sie das bereits seit einiger Zeit machte, und sie hörte abrupt damit auf. »Hervorragend.« Ein weiteres halbes Nicken. »Gut. Dann … einen schönen Abend noch.«
»Dir auch.«
»Danke.«
Saida schloss die Tür, aber sie legte den Riegel nicht vor. Immerhin ein Lichtblick.
Dante schürzte die Lippen. »Na gut. Vielleicht hättet Ihr etwas mitbringen sollen, damit sie ein bisschen lockerer werden.«
»Nina ist erst fünfzehn.«
»Kekse für sie und Alkohol für die anderen.«
»Das hättest du auch vorschlagen können, bevor ich wie ein Schwachkopf vor der Tür gestanden habe.«
Dante musterte sie mit einem kurzen Seitenblick, als sie sich in ihre Räume zurückbegaben. »He, Punkte für den Versuch.«
Sie warf ihm einen gespielt bösen Blick zu.
Ihre aufgestaute nervöse Energie konnte nirgendwohin, daher weigerte sie sich mitzuspielen, als Dante mit hochgezogenen Augenbrauen einen anderen romantischen Roman hochhielt, den er gefunden hatte.
»Der ist gut«, sagte sie. »Aber ich verbiete dir, dich ausgerechnet jetzt in ein Buch zu vergraben.«
»Ihr verbietet es mir? Ihr glaubt, Ihr könnt mir Befehle erteilen?«
»Ich erteile dir die ganze Zeit Befehle. Du befolgst sie nur einfach nicht.« Sie sah ihn scharf an. »Dante, du bist mein einziger Freund.«
»Ich glaube, Ihr seid auch meine einzige Freundin.« Er rieb sich den Nasenrücken. »Bei Dea , das ist ganz schön armselig, was?«
»Qualität, nicht Quantität. So, und jetzt frage ich dich sehr nett, und deshalb musst du Ja sagen.«
»Wozu?«
Sie klatschte in die Hände. »Mit mir zu spielen.«
Dante blinzelte, und sie lächelte breiter. Wenn er versuchte, sie damit aufzuziehen, dass sie Schmuddelromane las, würde sie in jeder Unterhaltung versteckte Andeutungen machen und es ihm so heimzahlen.
»Na schön«, sagte er, musterte sie dabei noch immer. »Soll ich die Bibliothek plündern, oder habt Ihr etwas zu trinken hier?«
»Ich bin die Finestra . Eine gottgewollte Kriegerin.«
»Das heißt nein?«
»Ich versuche dir nur sehr deutlich klarzumachen, dass es unangebracht wäre –« Sie zog sich auf den Tresen und streckte sich, um das oberste Schränkchen zu öffnen und einen Laib altes Sauerteigbrot zur Seite zu schieben. »Höchst unangebracht wäre, Alkohol in meinem Zimmer zu haben.«
Am leichtesten zu erreichen war eine staubige Flasche Limoncello, die sie vergessen hatte kalt zu stellen, und sie zeigte sie ihm. Dante zog eine Augenbraue hoch. Sie stellte sie zurück.
Alessa biss sich auf die Zunge und tippte mit den Fingerspitzen einen schweren Dekanter an, während sie die andere Hand bereithielt, um ihn aufzufangen, sollte er herunterfallen.
Lange gebräunte Finger schnappten ihn vor ihrem Gesicht, und Alessa riss ihre Hand weg. Sie drückte sich gegen den Schrank und drehte sich zu ihm um, wollte mit ihm schimpfen.
Und vergaß, wie man sprach.
Dante stand so nah beim Tresen, dass er sich praktisch zwischen ihren Knien befand, und seine dunklen Augen waren so dicht vor ihr, dass sie die goldenen Flecken zählen konnte.
Sein Blick senkte sich zu ihren Lippen.
»Geh zurück«, piepste sie. »Ich will nicht noch einen Toten auf dem Gewissen haben.«
Dante, der mit der Flasche vorsichtiger umging als mit seinem Leben, drehte sich um und lehnte sich neben ihr an den Tresen. Er war immer noch zu nah. »Es wäre mein eigener Fehler, oder?« Er zog den Korken aus der Flasche und trank einen Schluck. »Oh, das ist gut.«
»Ich würde trotzdem mit dem Schuldgefühl leben und einen neuen Leibwächter suchen müssen.« Alessa nahm zwei Whiskygläser und hüpfte vom Tresen. Sie sah ihn scharf an. »Die hier werden Trinkgläser genannt.«
»Faszinierend.« Er hielt ihr die Flasche hin und seufzte, als sie diese griff und auf den Tisch stellte.
Alessa schenkte sich ein bisschen ein, verkorkte dann die Flasche wieder und drückte sie sich eng an die Brust. Eine Geisel. »Lass uns ein Spiel spielen.«
»Hm?«
»Ein Spiel .« Eine Ablenkung von ihrem sozialen Versagen.
»Was für ein Spiel?«
»Ein Trinkspiel.« Sie nahm einen kleinen Schluck – wie eine Lady – und ließ die Herausforderung in der Luft hängen.
Er ließ sich in den Sessel fallen; seine Ellbogen prallten mit einem dumpfen Geräusch auf die Tischplatte. »Ich höre.«
»Wahrheit oder Herausforderung. Wenn du an der Reihe bist, entscheidest du für die entsprechende Runde.«
Dante kippte seinen Sessel nach hinten; sein Gesicht wirkte skeptisch. Irgendwann würde er rücklings umkippen, und sie hoffte sehr, dass sie dabei sein und es sehen würde.
»Wenn du der Herausforderung nicht nachkommst oder die Frage nicht beantwortest, musst du etwas trinken.«
Langsam breitete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus. »In Ordnung.«
»Du wirst einfach nur Nein zu allem sagen, stimmt’s?«
»Ja.« Die vorderen Beine seines Sessels landeten krachend auf dem Boden.
»Nein . So geht das nicht.« Sie umklammerte die Flasche fester. »Ich werde dir nichts einschenken, solange du nicht richtig mitmachst.«
Er schnipste mit den Fingern, bedeutete ihr weiterzumachen. »Na schön. Aber meinen Namen werde ich Euch nicht nennen.«
»So schlimm kann er nun auch wieder nicht sein.«
»Ich habe nie gesagt, dass er das ist.«
»Irgendwann werde ich ihn aus dir rauskriegen, auf die eine oder andere Weise. Es ist zu meiner Lebensaufgabe geworden. Ich werde vor nichts Halt machen. Daumenschrauben, Streckbank. Kommt alles noch.«
»Würde mir Spaß machen zu sehen, wie Ihr es versucht.«
»Bist du kitzlig?«
»Kein bisschen.«
»Ich wette, du bist es. Ich wette, du kicherst wie ein Schulmädchen.« Alessa warf ihm einen schelmischen Blick zu. »Ich verdoppele deinen Lohn, wenn du ihn mir sagst.«
Um seine Augen bildeten sich Lachfältchen. »Keine Bezahlung könnte befriedigender sein, als Euch zu schlagen. Ich werde ihn mit ins Grab nehmen.«
»Oh, komm schon.«
Er dachte nach. »Na schön. Ich denke, ich könnte ihn Euch auf meinem Totenbett sagen.«
»Das sind dann bereits zwei Dinge, auf die ich mich freuen kann.«
»Spielen wir jetzt, oder was?«
Es machte Spaß, ihn zu ärgern, aber sie konnte nicht riskieren, dass er seine Meinung änderte. »Ich werde mit etwas Leichtem anfangen. Der schönste Ort, den du jemals gesehen hast?«
Er schürzte ein wenig die Lippen. »Ein kleiner Strand auf der anderen Seite der Insel.«
Ihr Herz zog sich zusammen. »Wie sieht er aus?«
Er hob sein Glas und ließ es auf den Tisch knallen, machte es dann noch mal. »Wie ein Strand.«
»Was für eine Art Strand?«
»Die Art, bei der Land und Meer aufeinandertreffen«, sagte er gedehnt; er genoss ihren Verdruss.
Sie schüttelte die Flasche, sodass der Inhalt herumwirbelte. »Tu mir den Gefallen. Ich bin seit Jahren nicht mehr an einem Strand gewesen.«
Er blickte zur Decke hoch. »Hohe Klippen auf beiden Seiten. Es führt nur ein schmaler Pfad zu ihm, deshalb ist es den meisten die Anstrengung nicht wert. Aber das Wasser …« Seine Stimme verklang, und er lächelte wehmütig. »So eine Farbe habe ich sonst noch nirgends gesehen.«
»Es klingt perfekt«, sagte sie seufzend. Sie belohnte ihn mit einem knauserigen Schluck und klemmte sich die Flasche zwischen die Oberschenkel, den sichersten Ort auf der Welt. »Wie lautet meine Frage?«
»Wenn Ihr vor Divorando tun könntet, was auch immer Ihr wollt, was würdet Ihr dann tun?«
»Das ist leicht. Meine Kräfte kontrollieren und damit aufhören, Menschen umzubringen.«
»Nein, nein. Spiele sollen Spaß machen. Entscheidet Euch für was Gutes.« Dante hob das Glas an die Lippen.
»Meine Jungfräulichkeit verlieren.«
Dante verschluckte sich. Mit rotem Gesicht und Tränen in den Augen klopfte er sich gegen die Brust.
Alessa war stolz. »Besser?«
»Viel besser«, krächzte er. »Herausforderung.«
»Hmm. Sag was Nettes über Kaleb.«
»Nö.« Er leerte sein Glas.
»Mach langsam«, protestierte sie lachend. »Wenn du so schnell trinkst, wird das Spiel in fünf Minuten vorbei sein.«
»Ach was. Eiserne Konstitution.« Er klopfte sich auf den festen Unterleib. »Bäh, Kaleb. Es passt, dass er Elektrizität macht.«
»Wieso?«
»Seid Ihr jemals in der Nähe eines Blitzeinschlags gewesen? Ist nicht lustig.«
»Du hast schreckliches Glück.«
»Es war kein direkter Einschlag. Außerdem habe ich mir sieben Knochen gebrochen – einschließlich meiner Nase – und Stichwunden und Verbrennungen zugezogen. Und ich hätte fast einen Finger verloren.«
Sie verzog das Gesicht. »Die Götter müssen dich wirklich hassen.«
»Ich bin mir sicher, dass sie das tun.«
»Dann sind wir also schon zu zweit.«
Er spöttelte. »Ihr seid die Retterin. Nach Divorando werdet Ihr nie wieder in Eurem Leben auch nur einen einzigen Tag arbeiten müssen. Sie werden Sonette über Euch schreiben.«
»Oder ich werde alle noch übrigen Fontes auf der Insel umbringen, alle Menschen auf Saverio werden sterben, und alles wird meine Schuld sein.« Sie drückte sich das kühle, beschlagene Glas gegen die Wange. »Ich hasse es, Menschen zu verletzen.«
»Ach, wirklich? Wäre ich nicht drauf gekommen.«
»Ich habe eine Aufgabe. Eine . Warum kann ich sie nicht erfüllen?«
Er sah sie abschätzend an, biss sich auf die Unterlippe. »Ihr habt gesagt, Ihr habt Euch hungrig gefühlt.«
»Hmm?« Sie riss den Blick von seinem Mund los, aber seine Augen – warm und dunkel, wie mit Sahnebonbons gesprenkelter geschmolzener Schokoladenkuchen – machten es nicht leichter, sich zu konzentrieren.
»Ihr habt gesagt, Ihr habt Euch hungrig gefühlt, als Ihr Euren ersten Fonte berührt habt. Seid Ihr jemals wirklich hungrig gewesen?«
Sie rümpfte die Nase. »Alle sind irgendwann mal hungrig gewesen.«
»Nicht so wie wenn es mal spät Essen gibt – richtig hungrig. So ausgehungert, dass Ihr Dreck schlucken würdet, um das Loch in Eurem Bauch zu füllen.«
»Vermutlich nicht.«
»Nun, wenn Ihr so leer seid und dann etwas zu essen in die Finger kriegt, wisst Ihr, dass Ihr krank werdet, solltet Ihr zu schnell essen, doch Ihr tut es trotzdem.«
Sie starrte in ihr Glas, als würde es Antworten beinhalten, aber alles, was sie fand, war ihr verzerrtes Spiegelbild. »Okay …«
»Darum haben sie Euch hier oben eingeschlossen, stimmt’s? Um Euch an Verbindung und Gemeinschaft zu erinnern, indem sie Euch beides genommen haben?« Er wartete, bis sie aufblickte, dann sah er ihr in die Augen. »Sie haben Euch hungern lassen, und Ihr habt Euch bei der ersten Gelegenheit den Bauch vollgeschlagen.«
In ihrem Magen bildete sich ein schwerer Knoten aus Unbehagen. »Willst du damit sagen, ich töte Menschen, weil ich so einsam bin, dass ich sie verschlinge? Das sorgt nämlich nicht dafür, dass ich mich besser fühle.«
»Ich sage, dass es nicht Eure Schuld ist.«
Ihr schnürte sich die Kehle zu. »Bücher lassen es romantisch klingen, an Einsamkeit zu sterben, aber jemand anderen mit der eigenen Einsamkeit zu töten? Also – das ist vielleicht mal eine Begabung.«
Dante beugte sich vor, stützte die Ellbogen auf den Tisch. »Vielleicht würdet Ihr eine gewisse Kontrolle erlangen, wenn Ihr dem Ganzen die Schärfe nehmt.«
Ihre Lippen zuckten. »Mit so was wie einem Häppchen Zuneigung?«
»Etwas in der Art.« Dante trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte. »Könntet Ihr ein Haustier bekommen?«
»Ein Haustier ?«
»Klein? Pelzig? Domestizierte Tiere?« Er tat so, als würde er mit Klauen nach der Luft greifen. »Wie eine Katze.«
Alessa nahm einen Schluck Whiskey und hustete, als er in der Kehle brannte. »Du schlägst vor, dass ich eine Katze bekomme. Um das klaffende, leere Loch in meiner Seele zu füllen. Eine Katze .«
»Warum nicht? Vielleicht würdet Ihr dann im Dunkeln besser sehen.«
»Oder eine Katze umbringen.«
»Glaubt Ihr das?« Er wirkte überrascht. »Sie haben ein Fell.«
»Ich weiß es nicht, und ich will es auch nicht herausfinden. Wenn ich ein kleines süßes Kätzchen töten würde, würde ich mir niemals vergeben.«
»Wegen einer Katze? Ihr habt bereits –«
»Drei Menschen getötet? Wolltest du das gerade sagen?«
Er hatte den Anstand, so zu tun, als würde er sich unwohl fühlen.
»Zumindest haben sie der Sache zugestimmt. Ein Tier kann das nicht.«
Dante wirkte immer noch nachdenklich.
Alessa hob warnend einen Finger. »Wenn ich morgen früh aufwache und eine Katze in meinem Zimmer finde, werdet ihr beide hinausgeworfen.«
Er lachte und griff nach ihrem Glas, da seins leer war, aber sie wischte seine Hand weg.
War es möglich?
Sie hatte immer geglaubt, dass sie ihre Isolation annehmen musste, hatte sich vorgeworfen, dass sie selbst zugelassen hatte, dass Einsamkeit die Räume gefüllt hatte, die Göttlichkeit bewahren sollten, aber Dantes Worte brachten sie ins Grübeln.
Vielleicht hatte sie gegen die Strömung gekämpft und war dabei die ganze Zeit in die falsche Richtung geschwommen.
Würde es dumm sein, noch einmal nach der Klinge der Hoffnung zu greifen, nachdem sie sich so oft an ihr geschnitten hatte?