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L’armi dei poltroni non tagliano, né forano.

Die Waffen eines Feiglings können weder schneiden noch etwas durchbohren.

Tage bis Divorando: 12

Als sie zur Cittadella zurückkehrten, war es bereits nach Mitternacht, aber Alessa musste es mit eigenen Augen sehen.

Eine Frau in medizinischer Kleidung machte einen kurzen Knicks, als Alessa die Suite der Fontes betrat. Die Ärztin der Cittadella beugte sich über das große Himmelbett. Sie sah nicht sofort auf von dem, was immer sie gerade tat.

Kaleb lag reglos unter frischen weißen Laken. Seine Lider waren blau und seine Lippen blass.

Die Wände schlossen sich um Alessa.

Sie hatten gelogen.

Sie griff hinter sich nach einer Hand, die sie halten konnte, aber Dante wartete im Korridor. Sie musste dies hier allein bewältigen.

»Wie geht es ihm?«, fragte sie und hielt die Luft an, während sie auf die Antwort wartete. Sicherlich würde eine Leiche keine medizinische Fürsorge benötigen.

»Er ist stabil.« Die knappe Erwiderung der Ärztin und ihre Miene verrieten, dass sie Alessa voll verantwortlich machte. »Er war ziemlich dehydriert und übermüdet. Ich hätte ihm von jeder anstrengenden Aktivität abgeraten, wäre ich vorher um Rat gefragt worden. Was man ja offensichtlich nicht getan hat.«

»Dann denkt Ihr nicht … ich meine, er ist die Male vorher in Ordnung gewesen.«

»Meiner professionellen Meinung nach war sein Zusammenbruch das Ergebnis verschiedener Faktoren. Euer Beruf, ob göttlich oder nicht, ist körperlich anstrengend, und Signor Toporovsky hätte besser auf sich achten sollen. Ich hoffe, dass Ihr auf den Consiglio einwirkt, ein Team von medizinischen Beratern zusammenzustellen, wenn Ihr einmal damit beauftragt seid, das nächste Duo zu trainieren. Was immer manche auch sagen, es ist keine Beleidigung von Dea, die Weisheit zu nutzen, die sie uns gewährt.«

Alessa senkte den Kopf wie ein schuldbewusstes Kind, obwohl sie niemals Einwände erhoben hatte. Die Mitglieder des Consiglio waren diejenigen, die sich aufgeregt hatten, als Tomo vorgeschlagen hatte, Meinungen von außen bezüglich Alessas kleinem Problem hinzuzuziehen.

»Ich gehe davon aus, dass er sich vollständig erholt, aber bis dahin braucht er Ruhe. Absolute Ruhe.«

»Ja, Dottoressa. Natürlich.«

Die Krankenschwester warf einen betrübten Blick auf Kalebs engelsgleiches Profil, als würde sie Alessa verdächtigen, ihn endgültig erledigen zu wollen.

Alessa schloss die Tür zu schnell, und das Geräusch klang laut in der Stille.

Dante lehnte an einem Steingeländer; er hob die Brauen, als wollte er sagen: »Siehst du? Ich habe es dir gesagt.«

Sie wollte lachen. Oder weinen. Oder beides.

Dante breitete die Arme aus, und Alessa schritt in sie hinein. Ihr Hafen im stürmischen Meer, warm und fest und schwer zu töten.

Kaleb war am Leben. Und er würde es auch bleiben, solange sie sich von ihm fernhielt. Sie hatte immer noch einen Fonte. Technisch gesehen. Er mochte nicht stark genug sein, um zu kämpfen, und sie würden ihn bei der Schlacht durch jemand anderen ersetzen müssen, aber sie hatte ihn nicht getötet.

Ein plötzlicher Ruf schreckte sie auf, und sie sprangen auseinander. Dantes Gesicht spiegelte ihre Besorgnis.

Sie hatte Angst hinzusehen, aber sie musste wissen, wer ihre zeitlich unpassende Umarmung gesehen hatte. Sie spähte über das Geländer.

Unten im Innenhof stand Renata und hielt sich die Hand vor den Mund.

Hinter ihr starrte Tomo zu Alessa hoch. Er wirkte zerzauster als jemals zuvor.

»Als ich weggegangen bin, waren sie deinetwegen völlig außer sich«, flüsterte Dante.

Alessa ließ diese Tatsache sacken, während ihre Mentoren die Stufen heraufeilten.

»Gesegnte Dea , wir hatten dich für tot gehalten!«, rief Renata atemlos, als sie oben ankam.

»Nicht ganz«, meinte Alessa mit einem reumütigen Lächeln.

»Wir dachten, wir hätten dich verloren«, sagte Tomo.

Renata blickte zum Himmel, als würde sie ein stummes Gebet hinaufschicken. »Kind, du hast mir so einen Schreck eingejagt, dass ich zehn Jahre älter geworden bin.«

Auf Alessas Wimpern zitterten Tränen. Tomo und Renata waren erleichtert, dass sie am Leben war – sie , Alessa, nicht die Finestra. Ihr war nicht klar gewesen, wie sehr sie das brauchte. »Es tut mir leid. Ich dachte, ich hätte Kaleb getötet, und die Götter würden mir sagen, dass ich mich opfern soll.«

»Liebes Mädchen.« Tomo schüttelte reumütig den Kopf, zu gerührt, um weitersprechen zu können.

»Ich bewundere deine Entschlossenheit, aber dies wäre ein sehr guter Zeitpunkt gewesen, eine zweite Meinung einzuholen«, sagte Renata und atmete zittrig aus. »Doch ich muss sagen, ich bin stolz auf dich, auf deine Bereitschaft, schwierige Entscheidungen zu treffen. Du bist erwachsen geworden.«

Renatas sanfte Stimme bewirkte, dass sich das Schuldgefühl wieder zurückzog, und Alessa riss sich zusammen. »Was werden wir den Leuten sagen?«

»Nichts«, sagte Renata bestimmt. Sie strich über die Ärmel, als versuche sie, die Knicke in ihren Plänen zu glätten. »Du wirst jemand anderen wählen, und wir werden es bis nach Divorando für uns behalten. Es gefällt mir nicht, die Öffentlichkeit anzulügen, aber wenn du uns erst gerettet hast, wird alles vergeben sein.«

»Wir sind einfach nur dankbar, dass du in Sicherheit bist«, sagte Tomo inbrünstig.

Renatas Gesicht wurde weicher. »Dea, hab Erbarmen, heute Nacht werde ich vielleicht endlich schlafen können.«

»Dann komm mit.« Tomo zog an Renatas Arm. »Du brauchst Schlaf und ich was zu trinken.«

Alessa trat vom Geländer zurück, als die beiden gingen, und in der Cittadella wurde es wieder still.

Dante strich ihre Haare zur Seite und drückte ihr einen Kuss in den Nacken. »Ich sollte gehen«, sagte er, aber seine Arme schlangen sich fester um sie.

Sie drehte sich um und sah ihn an. »Nina hat geschworen, es niemandem zu sagen, und jener Mann hat keine Ahnung, dass du hier bist. Bleib bis Divorando, damit ich dich höchstpersönlich zur Fortezza zerren und mich mit dem Wissen dem Kampf stellen kann, dass du in Sicherheit bist und nichts Unbesonnenes unternimmst, wie etwa den Hafen im Alleingang zu beschützen.«

»Immer wieder dieses Heldenzeugs«, murmelte er an ihren Lippen. »Ich sage dir andauernd, dass das nicht mein Ding ist.«

Sie schob ihre Hände in seine hinteren Taschen und zog ihn dichter an sich. »Du kannst dich selbst belügen, aber mich kannst du nicht zum Narren halten.«

Beim Klang eines schroffen Räusperns sprangen sie wieder auseinander.

Renata stand oben an der Treppe; ihr Gesicht war bewusst ausdruckslos. »Ich habe vergessen zu erwähnen, dass deine Rüstung in deinem Zimmer ist.«

»Meine Rüstung?« Es waren immer noch zwei Wochen bis zur Schlacht.

»Für das Segnen der Truppen.«

Natürlich. Wenn die Sonne aufging, würde sie vor dem versammelten Heer und den meisten Saveriones stehen, um den Soldaten Deas Gnade zuteilwerden zu lassen. Carnevale war vorbei, am Tag der Ruhe und Buße hatten sie und Kaleb geheiratet, und jetzt begann die letzte Etappe der Vorbereitung. Soldaten würden sich von ihren Familien verabschieden, zu ihren Posten marschieren, und auf jedem Hang, jeder Klippe, jedem Stückchen Ufer um Saverio herum lagern, die Waffen bereit und die Blicke zum Himmel gerichtet. Saveriones mit Fortezza-Pässen würden nach und nach in Gruppen hineingehen, und jene, die gezeichnet waren, würden sämtliche Fenster vernageln, behelfsmäßige Barrikaden errichten und mit neu entdeckter Verzweiflung beten.

»Wenn wir Glück haben, wird sie so glänzend sein, dass niemand bemerkt, dass dein Fonte nicht bei dir ist.« Renata durchbohrte beide mit einem wissenden Blick. »Dürfte ich vorschlagen, dass ihr diese Wiedervereinigung bis dahin hinter eine geschlossene Tür verlegt?«

Alessa starb tausend Tode durch Demütigung, aber es gelang ihr, hoheitsvoll zu nicken. Sie hatte nie gefragt, mit welcher Strafe eine Finestra zu rechnen hatte, wenn sie die Regeln verletzte, denen zufolge sie vor Divorando niemanden berühren durfte, der kein oder keine Fonte war. Nichts auszuplaudern war wahrscheinlich eine der unausgesprochenen Gefälligkeiten, die eine Finestra der nächsten anbot.

Alessa folgte Dante ins Innere ihrer Suite, während Renatas Schritte mit dem Zuknallen einer Tür ein Stockwerk tiefer endeten. Sie schlug sich die Hände vors Gesicht. »Bitte sag mir, dass das gerade nicht passiert ist.«

Dante konnte nicht antworten; er hatte mehr als genug damit zu tun, sich ein Lachen zu verkneifen.

»Wie kannst du lachen ? Das war demütigend.«

»Betrachte es als einen Schritt ins Erwachsenenleben.« Er küsste ihr Gesicht dort, wo ihre Hände es nicht bedeckten. »Du weißt , dass die beiden sich vor ihrem großen Kampf angegrapscht haben?«

»Wieso erzeugst du dieses Bild in meinem Kopf?«, jammerte Alessa. »Abgesehen davon waren sie verheiratet und gesegnet, also war es erlaubt.« Sie stieß ihn sanft mit einem Ellbogen an. »Ich bin die schreckliche Person, die von der Seite ihres bewusstlosen Partners gewichen ist und dabei erwischt wurde, wie sie ihren Leibwächter begrapscht.«

»Das nennst du begrapschen?« Dante löste ihre Hände von ihrem Gesicht. Sein Lächeln erstarb, als sie sich ansahen. Sie wusste, dass er wieder darüber sprechen würde, sie zu verlassen, um für den Fall, dass Nina nicht den Mund hielt, ihr mit seiner Abwesenheit so viel an Sicherheit zu bieten, wie er konnte. Solange er weg war, würde Alessa in der Lage sein, irgendwelche Gerüchte als hysterische Erfindung abzutun.

Aber wenn er erst weg war … war er weg.

Auf ihrem Bett lagen zwei Rüstungen, wie steife Metallkörper. Die eine war genau auf Alessas Maße zugeschnitten; die andere – eine der vielen, die gewöhnlich in der Fonte-Suite gelagert wurden – war ausgewählt worden, weil sie Kalebs Maßen am nächsten kam.

»Du und Kaleb, ihr habt beinahe die gleiche Größe, wie du weißt. Ihr habt auch einen ähnlichen Körperbau. Wenn du in der Rüstung steckst, wird niemand den Unterschied bemerken.«

Dante schob ihr die Haare hinter die Ohren. »Ich kann nicht dein Fonte sein. Was könnte ich tun, mich selbst heilen, bis die Scarabei aufgeben und wegfliegen?«

»Ich bitte dich nicht, bis zur Schlacht zu bleiben und an ihr teilzunehmen.« Sie küsste die Kuhle zwischen seinem Hals und der Schulter. »Nur für die Segnung der Soldaten. Es ist mein letzter öffentlicher Auftritt, und die Leute werden reden, wenn mein Fonte nicht dabei ist.«

Alessa verschränkte ihre Finger hinter Dantes Rücken.

»Bitte«, sagte sie. »Bleib noch ein bisschen länger, und rette mich ein letztes Mal, ja?«

Dante ließ ein Kettenhemd über ihre Schultern gleiten, und das Metall fühlte sich kalt und unnachgiebig an, selbst über einer dünnen ärmellosen Tunika und Leggings. Dann half er ihr, den Brustharnisch anzulegen, und befestigte die Beinschienen.

Bei der Segnung würde sie Handschuhe tragen, aber nicht in der eigentlichen Schlacht.

Wenn die Zeit zum Kämpfen gekommen war, würden ihre Hände, Füße und Beine unter der Rüstung bloß sein, damit der oder die Fonte sie berühren konnte, selbst wenn er oder sie zu verletzt sein würde, um noch stehen zu können.

Als Alessa ihre erste Einführung in Rüstungskunde bekommen hatte, hatte sie gefragt, warum die Helme für Fonte und Finestra den Nacken frei ließen. Tomo hatte erklärt, dass es in einem Krieg, in dem die Feinde von oben angriffen, von entscheidender Bedeutung war, nach oben sehen zu können. Wobei Finestra und Fonte ihre Aufgabe hoffentlich gut genug machten, dass ihnen nur wenige Scarabei überhaupt nahe kommen konnten. Die Soldaten, die dicht beieinander auf den Hängen standen, stellten eine viel verführerische Futterstelle dar als zwei durch Magie geschützte einsame Gestalten auf einem Gipfel. Hoffte sie.

»Ich hätte nicht gedacht, dass er sich auch nur aufsetzen kann«, sagte Renata, als Dante die Treppe zum Innenhof hinunter ging. »Wie hast du ihn in seine Rüstung bekommen?«

Dante hob das Visier.

»Oh«, sagte Renata. »Brillant.«

Dante schloss es wieder, als Hauptmann Papatonis anmarschiert kam, um sie zur Piazza zu begleiten.

Alessa musste zugeben, dass es ein beeindruckender Anblick war – viele Tausend gerüstete Soldaten, die in Habachtstellung in perfekten Reihen auf der Piazza standen. Das bewundernde Ooh, das sie von sich gab, als die Soldaten ihre erste Runde Übungen begannen, wurde von der beeindruckt zuschauenden Menge übertönt.

Als sie zur zweiten Runde ansetzten, erhaschte sie einen Blick auf etwas wallendes Weißes. Eiskalte Finger krochen ihr Rückgrat hinauf, während Ivini eine Gruppe weiß gekleideter Gestalten auf die Piazza führte.

Er hatte bisher nie irgendetwas Gutes in ihrem Leben bewirkt, und sie bezweifelte, dass er hier war, um Wiedergutmachung zu leisten. Die Fratellanza machte jedoch keine Anstalten, irgendwie zu stören, sie füllte lediglich die kleine Lücke auf der einen Seite. Alessa konnte ihn nicht einfach des Platzes verweisen, nur weil sie ein warnendes Kribbeln im Nacken verspürte.

Renata war auch nicht erfreut und sagte etwas zu Hauptmann Papatonis, der daraufhin mit einem kalten, entschlossenen Gesichtsausdruck zu Ivini ging.

Alessa starrte Ivini ein letztes Mal finster an, versetzte ihm Dolchstöße mit den Blicken. Dann wandte sie ihre Aufmerksamkeit wieder den Soldaten zu. Ivini hatte sich alle Mühe gegeben und war gescheitert. Er war es nicht wert, dass sie ihm noch einen Moment ihrer Zeit widmete.

Der Hauptmann kehrte zu ihnen zurück, als die Übungen endeten, und Alessa trat vor und nahm ihren Platz für die Segnung ein. Dante stand auf der einen Seite leicht hinter und neben ihr, Renata und Tomo auf der anderen.

»Dea, gesegnete Göttin der Schöpfung«, begann Alessa. »Wir bitten dich, unsere Waffen zu lenken –«

Mit einem zischenden, metallenen Geräusch zog ein Soldat in der ersten Reihe seine eigene Waffe.

»Crollos Kreatur!«, schrie er und rannte auf sie zu.

Alessa schnürte es die Kehle zu, und sie tastete wild nach ihrem Zeremonienschwert. Dante zog seines zuerst und trat vor sie. Um sie zu beschützen.

»Zurück, Finestra!«, brüllte der Hauptmann und lief nach vorn, um Dante als menschlichen Schutzschild zu unterstützen.

Dachte sie zumindest.

Aber als Hauptmann Papatonis sein Schwert hob, tat er das nicht, um den rebellischen Soldaten abzuwehren. Und Dante bereitete sich auf einen Angriff von vorne vor, nicht von hinten.

Alessa schrie eine Warnung, aber es war zu spät.