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Belle parole non pascono i gatti.

Schöne Worte nähren keine Katzen.

Tage bis Divorando: 11

Als die Sonne unterging, stand Alessa wieder vor einer Menge, die sich auf der Piazza versammelt hatte. Die erwartungsvolle Stille war so durchdringend, die Akustik so perfekt, dass sie nicht schreien musste.

»Heute ist ein Tag der Gnade«, begann Alessa. »Der Consiglio hat verfügt, dass dem Ghiotte nach Divorando der Prozess gemacht werden wird, und ich habe –« sie holte tief Luft – »ich habe zugestimmt. Denn wie Dea uns befohlen hat, müssen die Saveriones ein Volk der Gnade, der Vergebung und des Willkommens sein, wo jeder jeden vor den Kräften des Bösen und des Chaos schützt.«

Ihr Blick fiel auf ein scharf geschnittenes Gesicht, das von zurückgekämmten silbernen Haaren umrahmt wurde.

»Es gibt keine göttliche Gnade wie die Vergebung, oder, Padre Ivini?«, fragte sie.

Ivini nickte, seine scharfen Augen musterten sie abschätzend. »Eure Güte gegenüber den Boshaften ist so, als würde man das Gesicht Deas sehen.«

Ihr Lächeln war so zuckersüß, dass sie hoffte, es bereitete ihm Zahnschmerzen. »So ist es doch, oder?«

Alessa ließ sich einen Moment lang Zeit, um die schmutzigsten Gesichter in der Menge zu finden, die hohlen Wangen und ängstlichen Augen der Gezeichneten. Schon bald würden sich die Stadttore für immer schließen, und dann würden sie auf der anderen Seite stehen. Diese Leute suchten in ihr die Versicherung, dass sie stark genug sein würde, um den Schwarm zu besiegen, bevor er sich auf ihre maroden Häuser und Hütten senkte und sie verschlang.

Während sie dastanden, tröpfelten auch diejenigen in die Stadt, die aus den am weitesten entfernten Dörfern stammten, passierten die vielen Gruppen von Gezeichneten und zeigten an den Stadttoren ihre Handgelenke, um ihre Anweisungen für ihren Aufenthalt in der Fortezza zu erhalten.

Wenn Divorando kam, würde Alessa eine Armee im Rücken haben und Magie in der Hand. Die Gezeichneten würden ihre Fenster und Türen mit Brettern vernageln und sich im Innern zusammenkauern, beten und hoffen, dass sie den nächsten Morgen erleben würden.

»Vor fünf Jahren bin ich von Dea auserwählt worden, um euch zu beschützen, und ich habe nicht verstanden, wieso. Ich war weder die Klügste noch die Mutigste. Ich war nicht immer freundlich, und ich habe oft die schlimmsten Dinge in den schlimmsten Momenten gesagt. Signor Miyamoto und Signora Ortiz hatten eine wirklich harte Aufgabe vor sich.«

Ein paar Lacher waren zu hören, wurden aber schnell wieder zum Schweigen gebracht.

»Dea hat mich mächtig gemacht. Zuerst dachte ich, zu mächtig. Das denke ich nicht länger. Meine Gabe hat mich herausgefordert, mehr zu werden, als ich zu sein glaubte. Und heute werde ich euch herausfordern. Ich hatte einen Bruder, der immer daran geglaubt hat, dass ich das Richtige tun würde. Ironischerweise hat er mich damals gebeten, das Falsche zu tun, aber wie die meisten Schwestern habe ich nicht auf ihn gehört.«

Sie machte eine Pause und lächelte nachgiebig, als hier und da nervöses Kichern erklang.

»Ich habe einmal jemanden aufgefordert, besser zu werden, und mir wurde gesagt, dass Menschen sich nicht ändern würden, dass sie selbstsüchtig und grausam sind und nur so tun, als wären sie gut. Ich war damals anderer Meinung. Und ich bin jetzt immer noch anderer Meinung. Heute bitte ich euch zu beweisen, dass ich recht habe. Wir sind fehlerhaft, unvollkommen, und oft gebrochen, aber wir alle verfügen über das Potenzial, mehr zu sein. Diejenigen, die das Zeichen von Verbrechen tragen, haben Fehler gemacht. Manche schwerwiegende. Sie haben gestohlen, andere Menschen verletzt, und manchmal auch Leben genommen. Ich bin eure Finestra. Ich habe auch Leben genommen.«

Hier und da begannen ein paar Leute besorgt zu murmeln, doch sie machte weiter.

»Nicht absichtlich und nicht aus Wut oder spontan oder aus Rache, aber wissentlich. Ich bin nicht so anders als diejenigen, die gestohlen haben, um zu essen, oder getötet haben, um zu leben. Ich vermute, viele von euch empfinden genauso über die Fehler, die ihr gemacht habt, doch ich glaube an euch, so wie Dea an mich geglaubt hat. Und wenn wir etwas lernen, dann, dass wir stärker sind, wenn wir mehr lieben, mehr vergeben. Nicht weniger.«

Sie war stärker, weil sie Dante liebte, der mit der tiefen Überzeugung aufgewachsen war, dass er böse war. Er hatte zugesehen, wie seine Eltern durch die Hand von Menschen gestorben waren, die er kannte und denen er vertraut hatte. Er hatte geglaubt, dass es sein Fehler, seine Schuld gewesen war, weshalb Furcht und Hass die Leute dazu getrieben hatten, so grausam zu sein. Er mochte der einzige verbliebene Ghiotte sein, aber er war nicht der einzige Mensch, der mit der Überzeugung aufgewachsen war, dass Sündhaftigkeit in ihm war, und dass sein Erbe seine Bestimmung wäre.

»Dea hat eine Finestra erschaffen, weil die Verbindung unsere Rettung ist. Heute bitte ich euch zu beweisen, dass sie recht hat. Werden wir unsere Türen verbarrikadieren und unsere Ohren bedecken gegen die Schreie jener, die uns die Milch bringen und unser Bier brauen, oder werden wir versuchen, jede einzelne Seele zu retten, die wir können?«

Schweigen.

Ein einzelnes Husten war in der Stille zu hören, und ihr Magen krampfte sich zusammen, als sie sich fragte, wie lange sie dort stehen musste.

Ein ordentlich gekleideter Mann trat vor, einen Hut in den Händen. »Es ist keine Festung, aber unsere Familie kann ein Dutzend oder mehr Leute beherbergen, und Wände aus Stein sind immer noch besser als gar keine.« Er deutete auf eine zerlumpt aussehende Frau mit einem Baby auf der einen Hüfte, an deren Bein sich ein Kleinkind klammerte. Ihre gezeichneten Handgelenke wurden sichtbar, als sie ihre Kinder an sich drückte. Sie brach in Tränen aus.

»Ich bin zu alt, um Soldat zu sein, aber ich habe einen guten Arm«, sagte ein dunkelhäutiger Mann mit dicken Muskeln. »Einer der Gezeichneten kann meinen Platz in der Fortezza haben. Ich würde sowieso lieber Steine auf die Käfer werfen.«

Einer nach dem anderen trat vor, dann Paare und Gruppen. Einige boten an zu kämpfen, andere, ihren Platz jenen zu überlassen, die ihn benötigten, und noch mehr hießen den Zustrom in ihre Heime willkommen.

Viele Hundert Menschen erklärten sich bereit, sich einer Armee von Dämonen entgegenzustellen, obwohl sie nichts als Stöcke und Schlaghölzer, Messer und verrostete Rohre zur Verfügung hatten. Sie entschieden sich zu kämpfen, damit andere vielleicht leben würden.

Wenn Dante es nur hätte sehen können. Deas Vertrauen in die Menschen war nicht falsch gewesen. Und indem sie ihr Opfer teilten, musste es niemand allein tragen.

Vereint beschützen wir. Gespalten wanken wir.

Und plötzlich begriff sie.

Der Schlüssel zu ihrer Macht war die ganze Zeit da gewesen.