Nessuna nuova, buona nuova.
Keine Neuigkeiten sind gute Neuigkeiten.
Tage bis Divorando: 11
Alessa war immer noch von ihrer Erkenntnis erschüttert und bemerkte nicht, dass die Tür zu ihrer Suite offen stand. Daher hätte sie sich fast zu Tode erschrocken, als eine Gestalt aus dem Nichts auftauchte.
»Oh, tut mir leid!«, quiekte Saida.
Kamaria stand unbeholfen vom Sofa auf, schonte ihr verletztes Bein. »Kaleb ist wach und in einer miesen Stimmung, aber er weiß nicht genug über das, was passiert ist, deshalb haben wir ihm gesagt, dass er wieder schlafen soll. Was ist da draußen passiert ? Wird es Dante gut gehen?«
Das Mitgefühl in ihren Gesichtern war zu viel für Alessa, und sie brach zusammen.
»Oh, nein.« Kamaria humpelte zu ihr und umarmte sie so fest, dass beinahe die Rippen knirschten. Saida tätschelte ihr den Rücken.
Es war nicht das erste Mal an diesem Tag, dass sie weinte. Aber dieses Mal hielten ihre Freundinnen sie im Arm.
Als die schlimmsten Schluchzer vorbei waren, forderte Saida sie auf, sich zu setzen, und ging die Zutaten für etwas besorgen, von dem sie schwor, dass es Kummer kurieren würde.
Alessa hatte keinen Appetit, aber als Tochter eines Bäckers wusste sie, dass Essen den Bäcker genauso beruhigte wie den Abnehmer seiner Waren, deshalb ließ sie Saida machen.
Kamaria schien erleichtert zu sein, dass sie die Gefühlsausbrüche hinter sich gelassen hatten, und begann, die nicht so schrecklichen Aspekte ihrer gegenwärtigen Situation an den Fingern abzuzählen. »Erstens, er befindet sich in der Fortezza, also wird er nicht von den Scarabei gefressen werden. Zweitens, es klingt so, als würden auch eine Menge anderer Leute in Sicherheit sein. Wir können uns nach Divorando etwas ausdenken, aber zuerst müssen wir es hinter uns bringen.«
»Ernsthaft?« Die empörte männliche Stimme gehörte Kaleb, der in der Tür stand und sich an den Türrahmen klammerte. »Ihr veranstaltet eine Party ohne mich? Dass ich fast gestorben wäre, reicht nicht, um mir eine Einladung zu verdienen?«
»Wir schmieden Pläne, Kaleb«, erklärte Kamaria.
»Und backen!«, rief Saida von der Küche aus.
»Wir benutzen unser Hirn und unsere Fähigkeiten.« Kamaria lächelte wie eine Katze, die drauf und dran war, zuzuschlagen. »Was könntest du dazu wohl beitragen?«
»Ha, ha, ha«, sagte Kaleb. Er drehte sich um und sah jemanden im Flur an. »Konntest nicht wegbleiben, was? Hilf mir bitte rein, ja?«
Alessa stand auf, als Josef Kaleb unterstützte, ins Zimmer zu wanken. »Du solltest nicht hier sein. Ich hatte Nina versprochen, dich von der Liste zu streichen.«
»Als Gegenleistung dafür, ein Geheimnis zu bewahren«, sagte Josef. »Das Geheimnis ist jetzt raus, also ist die Abmachung geplatzt.«
»War sie es?«, fragte Kamaria. »Hat sie es Ivini verraten?«
»Sie sagt, sie hat es nicht getan.« Josef hielt inne und zwang Kaleb dadurch, ebenfalls stehen zu bleiben. »Sie war verängstigt und hat versucht, mich zu beschützen, aber sie ist nicht schlecht. Dass Dante im Gefängnis ist, hilft niemandem.«
»Wenn sie sich also an die Abmachung gehalten hat …«, sagte Alessa. In ihrer Stimme schwang eine Frage mit.
»Ich habe meine Entscheidung getroffen.« Josef half Kaleb, sich aufs Sofa zu setzen. »Ob es ihr gefällt oder nicht. Ich bin hier, um zu helfen.«
Saida wischte sich Mehl von den Händen und kam mit einem Tablett voller Teetassen zu ihnen. Kaleb schnüffelte an seiner und meckerte, dass da noch etwas Stärkeres rein musste.
»Noch weitere Ablenkungen, bevor wir weitermachen?«, fragte Kamaria. »Will noch irgendjemand zur Toilette? Haben alle eine Kleinigkeit zu essen? Das Getränk der Wahl?«
»Nein«, murrte Kaleb, den Tee beäugend.
»Oh, muss Baby ein Nickerchen machen?«
Kaleb streckte ihr die Zunge raus.
»Wenn wir dann alle fertig sind, sollten wir entscheiden, wer Kalebs Platz einnimmt. Ich bin zwar vielleicht nicht in der besten Verfassung meines Lebens, aber besorgt mir ein paar bessere Krücken, und ich werde da sein.«
»Jeder von uns würde es tun«, sagte Saida. »Es ist deine Entscheidung.«
Als sich alle freiwillig meldeten, erwachte Alessas Idee vollständig zum Leben. Tagelang waren die einzelnen Puzzleteile außer Reichweite gewesen, aber zu erkennen, dass so viele Menschen bereit waren, ihre Sicherheit zu opfern, erzeugte die letzte Verknüpfung. »Ich glaube, was in den Texten steht, ist falsch.«
»Könntest du das etwas näher ausführen?«, fragte Kamaria.
»Tut mir leid«, sagte Alessa. »Ich bin noch dabei, es zu sortieren. Also gut, von allen auf ganz Saverio, aus denen Dea wählen konnte, hat sie mir diese Gabe gegeben. Sie wusste, wer ich bin. Wie sehr ich es hasse, allein zu sein. Wie sehr ich Teil einer Gemeinschaft sein wollte. Verbindungen herstellen und Freunde haben wollte.«
»Oh, Gruppenkuscheln.« Saida trat mit ausgestreckten Armen vor.
Kamaria riss sie an ihrem Rock zurück. »Lass sie ausreden.«
»Die heilige Doktrin sagt, dass ich meine Identität aufgeben und mich isolieren muss, um die Verbindung zu bilden, die zwischen Finestra und Fonte nötig ist. Ich glaube aber, dass das möglicherweise Blödsinn ist.«
»Finestra.« Kaleb rang in gespieltem Entsetzen nach Luft. »Was für eine Sprache .«
»Halt den Mund, Kaleb«, sagte Kamaria.
»Halt den Mund, Kamaria«, versetzte Kaleb und ahmte ihren Tonfall so perfekt nach, dass Saida einen Lachanfall bekam.
»Wo wir gerade darüber sprechen«, sagte Alessa. »Könnt ihr bitte meinen Namen benutzen? Ich weiß, dass es Regeln gibt, aber ich glaube, dass einige von ihnen sich in den vergangenen paar Hundert Jahren überlebt haben.«
»Scheiß auf die Regeln«, sagte Kamaria. »Regeln werden überbewertet.«
Alessa lächelte. »Also … äh … hi. Ich bin Alessa Paladino. Freut mich, euch offiziell kennenzulernen.«
»Alessa?«, fragte Kaleb. »Wirklich? Ich hätte dich als Mary oder vielleicht auch Marie eingeschätzt.«
»Das ist eine witzige kleine theologische Unterrichtsstunde«, sagte Kamaria und ernte dafür einen Ellbogenstoß von Kaleb. »Aber du hast uns immer noch nicht gesagt, wer deine Hand halten wird, wenn die Käfer kommen.«
»Das versuche ich ja gerade zu sagen.« Alessa holte tief Luft. »Ich hatte quasi gehofft, dass es … alle sein würden.«
Vier Augenpaare starrten sie verblüfft an.
»Ich glaube, Kaleb ist zusammengebrochen, weil ihr alle einen Teil meiner Macht absorbiert hattet, sodass niemand überlastet wurde. Und als ihr losgelassen habt, hat Kaleb die ganze Wucht abgekriegt, und das war zu viel.«
»Das heißt?«, fragte Josef.
»Das heißt, ich soll mehr als einen Fonte haben. Gleichzeitig.«
»Oha«, sagte Saida. »In keinem der Texte wird so etwas jemals erwähnt.«
»Wirklich nicht?« Alessa lächelte traurig. »Vereint beschützen wir. Es findet sich in jedem Lied. Auf jedem Wandgemälde. Vielleicht wollte Dea genau das von Anfang an. Sie hat uns gesagt, dass wir Sicherheit in der Verbindung finden werden. In der Gemeinschaft. Wir – die Menschen – haben es niedergeschrieben und in eine Million Regeln verwandelt, die alles festlegen, was eine Finestra tragen könnte, berühren könnte, lieben könnte oder wozu sie sich äußern könnte. Diese Regeln haben nicht die Götter gemacht. Das waren wir .«
»Die Apokalypse kommt in –« Kaleb tat so, als würde er seine Uhr prüfen. »Zehn Tagen? Elf? Wer kann den Überblick behalten? Und wir werfen das Regelbuch weg. Nett. Was ist mit dem Teil, der behauptet, dass Ghiotte böse sind?«
Alessa konnte nicht lachen. »Das in Ordnung zu bringen könnte länger dauern. Aber wir werden es herausfinden, wenn wir die Welt gerettet haben.«
Josef wirkte immer noch verwirrt. »Ein Team aus Fontes?«
Kaleb räusperte sich. »Ähem. Ich weiß aus zuverlässiger Quelle, dass der korrekte Plural Fonti lautet.«
Kamaria knuffte ihn in den Arm, und es entspann sich ein kindischer Schlagabtausch.
Alessa sah mit wilder Zuneigung zu, wie sie sich stritten. Die Verità mochte sagen, dass niemanden zu lieben die einzige Möglichkeit wäre, überhaupt jemanden zu lieben, aber sie hatte sich in Dante verliebt, und jetzt hatte sie das Gefühl, als würde ihr Herz vor Liebe zu ihren Freunden schier platzen.
Die Liebe verlangte keine Vollkommenheit. Die Leute – menschlich, fehlerhaft, unvollkommen –, die vor etlichen Hundert Jahren angefangen hatten, die Verità niederzuschreiben, mochten auf dem rechten Weg begonnen haben. Doch sie hatten sich unterwegs verirrt, ein Pendel, das so weit zu einer Seite schwang, dass es abgebrochen war. Und wenn sie sich in dieser Hinsicht irrten, mochten sie es auch bei anderen Dingen tun.
Sie hatte versucht, stark und gleichmütig wie Renata zu sein, und ihre Gefühle hinter einer Schicht kalter Distanziertheit verborgen, aber es hatte niemals gepasst. Sie hatte versucht, das zu sein, was sie ihrer Meinung nach den Göttern zufolge sein sollte, was – wie ihr mitgeteilt worden war – die Menschen brauchten, und es hatte ihr drei tote Partner und einen Panzer um ihr Herz beschert. Sie war verkrüppelt gewesen, bis sie die Regeln weggeworfen, die heiligen Bücher geschlossen und sich zugestanden hatte, das emotionale, störrische, ablenkbare Fiasko zu sein, das sie war.
Ihr Fehler hatte darin bestanden, dass sie so getan hatte, als wäre sie jemand anderes .
Sie war immer noch Alessa. Sie war eine Person, eine Tochter, eine Schwester, eine Geliebte, eine Freundin. Sie musste all diese Rollen nicht ablegen, um Finestra zu werden. Sie musste nur die Teile neu umgestalten, die sie bereits hatte. Sie mochte nur ein Stich auf dem Wandteppich sein, aber jeder Stich hatte einen Zweck, und ohne sie konnten Fäden keine Kunst werden.
Um eine von vielen zu werden, musste sie eine sein.
Und um die Schlacht zu gewinnen, brauchte sie ihre Freunde.