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Le leggi sono fatte pei tristi.

Gesetze werden für Schurken gemacht.

Tage bis Divorando: 2

Alessas abschließende Trainingseinheit mit ihren verbliebenen Fontes zerfiel allmählich. Der nächste Tag war Gebeten und Ruhe vorbehalten. Finestra und Fonte erbaten Deas Segen, die Soldaten machten ihre Waffen bereit, und die letzten Einwohner von Saverio ließen sich in den ihnen zugewiesenen Quartieren im Innern der Fortezza nieder, die um Mitternacht geschlossen werden würde. Sie sollte jede Minute zum Üben nutzen, aber es war ihr unmöglich, sich zu konzentrieren.

Saida war immer noch nicht zurückgekehrt, also musste sich irgendwo jenseits des Horizonts ein ganzes Schiff mit Fontes befinden, verloren auf dem Meer und völlig schutzlos. Das Wetter war inzwischen chaotisch – in der einen Stunde eiskalter Regen, in der nächsten sengende Sonne, dazu plötzliche Stürme, die Schindeln von den Dächern rissen und sie wie Herbstlaub über die Piazza schlittern ließen. Und bei jeder Wetteränderung bebte dazu noch die Insel.

In der Zwischenzeit vermoderte Dante in einer Gruft, und Alessa konnte die Augen nicht schließen, ohne einstürzende Marmormauern vor sich zu sehen und kreischende Metallstangen unter einem Dach, das in einem Trümmerhaufen zusammenbrach. Die Cittadella hatte jeden vorhergehenden Divorando überstanden, und Dea würde sie auch während des bevorstehenden zusammenhalten. Aber Alessas Eingeweide wanden sich jedes Mal, wenn sie an Dante dachte, der einsam und allein in der Dunkelheit gefangen war.

Sie hatte eine Aufgabe, eine Verantwortung – sie musste Deas Gabe nutzen, um alle zu retten. Aber bei dieser letzten Übung, bei der sie in Höchstform sein sollte, machte sie immer wieder einen Fehler, verlor die Kontrolle und überwältigte ihre Übungspartner.

Sie beharrte darauf, dass es nur die Nerven waren, aber das stimmte nicht.

Sie hatte Dante zweimal besucht, doch dann war sie Renata über den Weg gelaufen, als sie von der Gruft zurückgekehrt war, und sie hatte Alessa untersagt, es erneut zu tun. Jedes Mal hatte es so ausgesehen, als wäre er noch mehr dahingeschwunden als zuvor. Sie mochten beide bald tot sein, und seine letzten Atemzüge würde er in genau der Art von Elend verbringen, vor dem er Jahre zuvor weggelaufen war.

Kaleb warf seine Decken auf den Boden und stand auf. »Es reicht.«

»Was reicht?«, fauchte Kamaria. Ihr verletztes Bein hatte eine Stunde zuvor nachgegeben, und sie saß auf dem Boden. Sie wirkte rebellisch.

»Sie geht kaputt.«

»Es tut mir leid.« Alessa sackte in sich zusammen. »In der Schlacht wird das nicht passieren, das verspreche ich.«

Kaleb verzog das Gesicht. »Lasst es mich endlich tun.«

Kamaria funkelte ihn an. »Was tun?«

»Seinen Platz einnehmen. Was sonst. Wir alle wissen, warum sie so durcheinander ist. Ich werde ein Nickerchen hinter Gittern machen, und ihr werdet in der Lage sein, euch auf den Kampf zu konzentrieren.«

Alessa runzelte die Stirn. »Ich glaube nicht, dass die Menschen von Saverio ihren Fonte gegen einen Ghiotte tauschen wollen.«

»Sie müssen davon gar nichts erfahren«, sagte Kaleb grimmig. »Wenn man Angst vor jemandem hat, der in der Gruft sitzt, ist es egal, ob es wirklich er oder sonst jemand ist.«

»Wenn sie es herausfinden –«

»Sie schließen die Fortezza, bis die Schlacht vorüber ist, und wer auch immer versucht, heute Abend nach Mitternacht die Tore zu öffnen, wird rausgeworfen. Ich muss nur vermeiden, mich umzudrehen, bis die Tore verschlossen sind, dann ist es erledigt. Es ist wirklich für alle Seiten ein Gewinn. Na ja … für alle außer mich.«

»Wieso willst du so etwas tun?«

Kaleb fummelte an seinen Fingernägeln herum. »Er wird auf der Finestraspitze sehr viel nützlicher sein als ich. Ich kann nicht sagen, dass ich mich darauf gefreut habe zu kämpfen, aber es hat sich gezeigt, dass ich noch weniger begeistert bin, herumzusitzen und mich wie ein wertloser Trottel unter Decken zu verstecken. Also gebt ihm ein Schwert und steckt mich zu den Toten. Zumindest kann ich dann irgendwie helfen.«

»Und was schlägst du vor – wie sollen wir euch beide austauschen, ohne dass jemand es merkt?«, fragte Kamaria.

Kaleb sackte auf seinem Stuhl zusammen. »Erwartet ihr von mir, dass ich die ganze Arbeit hier mache?«

»Ich habe eine Idee.« Hoffnung leuchtete in Alessas Augen. »Zufälligerweise habe ich einen Bruder, der mir etwas schuldig ist.«

»Nun?«, fragte Kaleb und kam hinter Alessas Paravent hervor. »Wie sehe ich aus?« In Dantes Sachen und mit fettbeschmierten Haaren, die dadurch dunkler wirkten, hätte Kaleb wohl den meisten Leuten weismachen können, dass er Dante war. Allerdings nicht Alessa. Vielleicht, wenn sie ihn nicht direkt ansah. Nein, nicht einmal dann. Aber seine Verkleidung würde reichen müssen.

Soweit Renata und Tomo wussten, igelten sich Alessa, Kaleb, Kamaria und Josef in ihrer Suite ein, besprachen Strategien und tauschten letzte Ratschläge aus. Das war nicht vollkommen falsch. Sie mussten zuvor nur noch einen anderen Sieg erringen.

Kaleb lehnte mit verschränkten Armen an der Wand und starrte Josef und Kamaria an. »Nicht schlecht, oder?«

»Volltreffer«, sagte Alessa. Es fühlte sich falsch an, ausgerechnet in dieser Zeit zu lachen, aber sie waren alle nervös, und Lachen mochte die beste Entspannung sein.

Kamaria stieß Kaleb in die Seite. »Du musst dich nur hinlegen und darfst dich nicht bewegen. Dies ist nicht die Zeit, um übermütig zu sein.«

Kaleb sah an seiner Nase entlang auf sie hinunter und griff nach einem weiten lodengrünen Umhang mit magentafarbenem Futter, den er sich über die Schultern warf. »Kammy, ich war von Geburt an übermütig.«

»Krass.« Kamaria machte ein Gesicht, als würde sie würgen. In ihrer hellbraunen Hose, die sie an der Taille mit einer Schnur befestigt hatte, und den von einer karierten Mütze bedeckten Haaren sah sie aus wie der hübscheste Lieferjunge der Welt. Mit etwas Glück würde niemand sie erkennen und sich fragen, wieso so viele Fontes ein paar Stunden bevor die Cittadella als Teil der Vorbereitung für Divorando verschlossen werden würde, in den Grüften herumliefen.

»Können wir uns bitte auf die Aufgabe konzentrieren?«, fragte Alessa. »Josef, du wirst warten. Kamaria?«

»Bereit.« Sie zog Streichhölzer aus ihrer Tasche und zündete eins an. Mit einem Auflodern brachte sie die flackernde Flamme dazu, von dem Streichholz zu einer Laterne zu springen, die auf dem Tisch daneben stand. Sie ließ die Flamme wachsen und schwinden, bis sie genau so war, wie sie sie haben wollte. »Das wird ein Spaß.«

»Sofern wir nicht erwischt werden«, sagte Alessa.

»Was sollen sie tun?«, fragte Kaleb. »Uns verbannen? Dazu ist es jetzt zu spät. Sie sperren um Mitternacht zu. Niemand kommt rein, niemand kommt raus, bis der Krieg gewonnen ist. Oder verloren. Aber bitte verliert nicht. Ich werde sauer sein, wenn ich meine letzten Tage in irgendeiner hässlichen Zelle verbringen muss.«

Alessa atmete geräuschvoll aus. »Ich schätze, dann sind wir bereit.«

Kamaria zwinkerte Alessa frech zu und tippte an ihre Kappe.

Im Haupttunnel unterhalb der Cittadella polterten Stimmen. Die Luft war dick vom Atem und ständigen Lärm vieler Leute. Überall waren Menschen.

Alessa und Kaleb blieben häufig stehen, um ermunternde Worte entgegenzunehmen und ein mitfühlendes Lächeln mit den Altarianern zu wechseln, die sich unter die Saveriones gemischt hatten.

Kaleb, der an Alessas Arm ging, lächelte strahlend und warf Kusshändchen, machte eine Schau daraus, mit dem Umhang herumzuwedeln, um dafür zu sorgen, dass alle ihn darin sahen.

Die Tore waren noch eine weitere Stunde lang geöffnet.

Sie bogen in den letzten Korridor zu den Grüften ein und stellten fest, dass der Eingang von einer Menschenmenge blockiert war. Die meisten waren Stadtbewohner, aber es waren ebenso ein halbes Dutzend Kultisten in weißen Gewändern zu sehen. Zu denen auch Ivini gehörte.

Einer der Gewandträger war Adrick. Er warf Alessa einen vielsagenden Blick zu und hob eine Hand, als wollte er sich am Ohr kratzen, und signalisierte ihr dann einhändig: »Ich habe es versucht.«

Alessa biss die Zähne zusammen. Adrick hatte nur die Aufgabe gehabt, Ivini davon zu überzeugen, dass er in dieser Nacht beim Ghiotte Wache halten sollte. Er hätte allein sein sollen. Stattdessen sah es fast so aus, als würden alle, die sie nicht sehen wollte, hier unten eine Party feiern.

»Ah, Finestra, Fonte«, sagte Ivini. Seine Augen strahlten, als er Alessa und Kaleb sah. »Was führt Euch hier herunter?«

Alessa lächelte voller gütiger Anmut. »Ein letzter Besuch, um bei der Kreatur zu beten, Padre. Indem ich ihn segne, hoffe ich, den Schatten abzuschwächen, den er auf unsere Fortezza wirft.«

»Wunderbar«, hauchte Ivini. »Wir sind aus dem gleichen Grund hier. Ihr müsst ebenso wie ich gehört haben, dass die tapferen Soldaten, die ihn bewacht haben, sich zum Dienst auf dem Schlachtfeld melden sollen. Aber keine Angst, wir haben versprochen, dass wir die Aufgabe übernehmen. Wir werden dafür sorgen, dass der Gefangene ordentlich bewacht wird.«

»Schön«, sagte Alessa und ballte die Hände in den Taschen zu Fäusten. Zeit für den Ersatzplan.

Alessa führte die absurd große Prozession in die Grüfte und kniete vor Dantes Gefängnis nieder. Er hatte sich ganz hinten auf dem Boden zusammengerollt, und trotz des Lärms so vieler Leute draußen rührte er sich nicht.

Ihr Herz pochte in ihren Ohren, aber sie begann, so langsam wie möglich Deas Segen aufzusagen. Es gab nicht einmal den kleinsten Hinweis, dass Dante überhaupt noch am Leben war.

Dea, wenn du mich auch nur ein bisschen liebst, ist dies der perfekte Augenblick für ein Wunder.

Stattdessen flog ein Stein.

Er traf die Gitterstäbe, prallte zu ihr zurück. Alessa wirbelte herum und sah die Menge an.

»Wer hat den geworfen?«

Ausdruckslose Gesichter starrten sie an. Ein kleiner Junge hob die Hand. »Ich hatte nicht auf Euch gezielt, Miss. Ich dachte, ich dürfte es auch mal versuchen.«

Alessa sah rot. »Wir sind hier, um zu beten.«

»Aber ich hatte meine Chance noch nicht«, quäkte der Junge, als ein Mann – vermutlich sein Vater – ihn an seinem Hemd zurückriss und ihm zuzischte, still zu sein.

Seine Chance. Er hatte noch nicht seine Chance gehabt, einen Stein auf den Ghiotte zu werfen.

Dantes Reglosigkeit war unheilvoller als je zuvor. Und für sie war es noch nie so schwierig gewesen, sich ruhig zu verhalten und zu beherrschen.

Als es kaum noch schlimmer werden konnte, tauchte Nina auf.