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Chi mora mor, e chi camba cambe.

Jene, die sterben, sterben, und jene, die leben, leben.

Alessa beugte den Kopf zu Dantes regloser Brust, ohne auf den Dreck und das Blut und das Wundsekret der Scarabei auf seinem Hemd zu achten.

Die Welt zu retten war ein ziemlich hohler Sieg.

Sie presste die Augen zusammen und kämpfte darum, jede Erinnerung an ihn in sich zu verschließen. Die Art und Weise, wie seine dunklen Augen lächelten, auch wenn sein Mund es nicht tat. Wie er sie beobachtet hatte, als würde er sich verzweifelt wünschen aufzuhören, aber den Blick nicht abwenden konnte. Wie sicher und geschätzt sie sich in seinen Armen gefühlt hatte. Und wie sehr sie es geliebt hatte, wenn er zu ihr gesagt hatte –

»Luce mia.«

Alessa zuckte zusammen.

Dantes gequälter Blick begegnete ihrem.

Sie blinzelte, aber die Illusion verschwand nicht. Die Haut auf seinem Gesicht war vor Schmerz angespannt, doch er lebte.

»Dante.« Sie berührte seine Wange, und er schnappte nach Luft.

Alessa riss ihre Hand zurück, kam stolpernd auf die Beine und lief zum Korridor, wo sie um Hilfe rief.

Sie hielt sich im Hintergrund, als Ärzte eilig in den Tempel rauschten. Sie hatte den Krieg überstanden, ohne dass ihr übel geworden war, aber jetzt stieg ein säuerlicher Geschmack ihre Kehle hoch, als Dante aufschrie und in einer Grimasse der Agonie die Zähne bleckte.

Er war am Leben. Am Leben. Das Wort wurde ein Lied, dann ein Gebet.

Die Ärzte stocherten, stießen und bandagierten stundenlang, bevor sie Dante auf eine Trage legten, um ihn zum Triage-Zentrum in der Cittadella zu bringen, aber er war am Leben.

Er wäre auf dem Weg dorthin fast verblutet, doch als die Sonne aufging – oder unterging, sie war sich wirklich nicht sicher –, sagten sie, dass er stabil war.

Stabil.

Sie würde niemals die Geräusche oder die Gerüche der verletzten und sterbenden Soldaten vergessen. Ihr Kampf würde als einer der kürzesten in die Geschichte eingehen, aber die Opferzahlen waren hoch, und die Verwundeten waren zu sehr in ihrem Schmerz verloren, um sich um ihren Platz in der Geschichte zu scheren.

Alessa versuchte, bei Dante zu sitzen, doch er öffnete immer wieder die Augen, murmelte etwas von Schatten, die sprachen, und Erinnerungen an Zukünfte. Er schien so bekümmert zu sein, weil sie es nicht verstand, dass sie das Feld räumte, als eine Krankenschwester ihr vorschlug wegzugehen, damit er sich ausruhen könnte.

Dante war nicht der Einzige, der litt. Alessa schritt die unzähligen Reihen verwundeter Soldaten ab, blieb hier und da stehen, um ihnen zu danken und um Wasser und Brühe und Verbandsmaterial zu holen. Oder um Ärzte zu rufen, wenn es sich als wert darstellte zu versuchen, sie zu retten, oder ihren letzten Worten zu lauschen, wenn es nicht so war.

Sie hatte eigentlich geglaubt, dass sie vergessen hatte, wie man betet, aber sie betete mit Hunderten, und sie meinte jedes Wort.

Beschütze sie, Dea, und bring sie sicher nach Hause. Ob zu ihrem irdischen Leben oder zu ihrer ewigen Ruhe, trage sie in deinem sanften Griff und erleuchte ihren Weg mit Liebe.

Alessa hatte ihre Pflicht getan, und sie hatten ihre erfüllt.

Trotz der entsetzten Gesichter machte Alessa sich in jeder kleinen Weise nützlich, während sich die Stunden dahinzogen.

Sie betupfte die Stirn eines Soldaten mit einem feuchten Tuch, als eine dünne Stimme nach ihr rief.

»Jemand braucht Euch im Notfallbereich«, sagte eine Krankenschwester, die nicht alt genug aussah für diese Verantwortung.

Alessa schlug das Herz bis zum Hals, als sie zu dem Bereich zurückkehrte, der den schweren Fällen vorbehalten war. Dantes Verletzungen waren so schrecklich gewesen, aber sie hatte ihn schon zuvor heilen gesehen …

»Adrick?«, fragte sie verblüfft, als sie neben Dantes Feldbett einen blonden Lockenkopf sah.

Adrick war da und versorgte die Kranken. Er war Apothekenhelfer. Er war ihr Bruder. Natürlich war er gekommen.

Adrick erhob sich. »Ich habe die besten Schmerzmittel mitgenommen, die wir haben, aber er will sie nicht nehmen, bevor er nicht mit dir gesprochen hat.«

Dantes Augen waren geöffnet, doch er starrte zum Himmel hoch, nicht zu ihr. Sein Gesicht war blass, der Kiefer angespannt, die Hände hielt er zu Fäusten geballt an der Seite.

Er blinzelte, und sie atmete aus.

Adrick zog sie in eine Umarmung, riss sie vom Boden hoch und drückte sie fest an sich. »Du hast es getan, kleine Schwester.«

»Stell mich wieder ab, du Trottel.« Sie schlug ihm leicht auf den Rücken. »Ich bin immer noch gefährlich. Und um Deas willen, du bist zwei Minuten älter als ich. Also Schluss jetzt mit dem Kleine-Schwester-Unsinn.«

Adrick lachte und stellte sie wieder auf den Boden. »Ich möchte nicht, dass du größenwahnsinnig wirst, nur weil du uns alle gerettet hast. Und jetzt sag diesem gut aussehenden Dämon, dass er die verdammte Medizin nehmen soll, ja? Er ist noch störrischer als du.«

Sie sank auf die Knie und zog einen Handschuh aus. »Dante –«

Sein ganzer Körper verkrampfte sich, als ihre Hand seine fand.

»Es tut mir leid«, keuchte sie und zog sich zurück, beeilte sich, ihren Handschuh wieder anzuziehen. Sie fluchte innerlich. Natürlich war er noch zu schwach, um ihre Berührung ertragen zu können.

»Du willst die Medizin nicht nehmen, bevor du mir nicht etwas gesagt hast?«, fragte sie und lächelte unter Tränen. »Sprich also. Und danach werde ich sie dir einflößen.«

»Crollo«, röchelte Dante. Eine Träne glitt aus seinem Augenwinkel, und sie musste gegen den Drang ankämpfen, sie wegzuwischen. »Er ist noch nicht erledigt. Ich habe gesehen – habe gehört –« Er unterbrach sich und atmete kurz und zitternd ein. »Es ist alles miteinander verbunden. Deine Macht. Das Ende. Es ist noch nicht vorbei.«

Sie brachte ihn zum Schweigen. »Aber im Augenblick ist es vorbei, ja?«

Ein gepresstes, gequältes Nicken.

»Dann ruh dich jetzt ein wenig aus, damit du heilen kannst. Und um Deas willen, Dante, nimm die Medizin.«

Adrick maß eine Dosis ab und half Dante, den Kopf genug zu heben, um zu schlucken. Alessa winkte die nächststehende Ärztin zu sich.

»Ihr wisst, was er ist, ja?«, fragte sie, unterstellte dabei der Frau mittleren Alters, dass sie mit Dantes Identität ein Problem haben könnte.

Die Frau nickte mit zusammengezogenen Brauen. »Das tue ich, und es würde mich faszinieren zu hören, was Ihr miterlebt habt. Was wiederum die gegenwärtige Situation betrifft – er ist stabil, doch es geht ihm noch nicht besser. Diese Dinge brauchen allerdings Zeit.«

»Aber Ihr habt schon einige Fortschritte gesehen?«, fragte Alessa. »Kleine Schnitte, die heilen, blaue Flecken, die verblassen?«

Es war nicht ungewöhnlich, dass jemand nach einer schweren Verletzung tagelang oder sogar wochenlang auf der Schwelle des Todes stand. Für einen Ghiotte war es allerdings nicht üblich.

»Ich fürchte, nein, Finestra. Wenn überhaupt, hatte er einen kleinen Rückfall, aber wir haben es in den Griff bekommen, bevor es zu schlimm wurde.«

Alessa runzelte die Stirn. Es war immer noch zu früh. Und er war von den Toten zurückgekehrt. Was für einen einzigen Mann eine ganze Menge war. Es war nicht viel, woran man sich klammern konnte, aber sie hielt sich an einem Hoffnungsschimmer fest.