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Traduttore, traditore.

Übersetzer, Verräter. Jede Übersetzung ist fehlerhaft.

Einen Monat nach Divorando sah Alessa zu, wie Kaleb und Dante einander halfen, sich hinzustellen. Wie sie schwankten, bis sie das Gleichgewicht fanden. Mit all den Verbänden und den locker sitzenden Gewändern wirkten sie wie zwei betrunkene Piraten, die ihre Hosen verloren hatten.

Dante bemerkte, dass Alessa ihn betrachtete, und wandte den Blick ein bisschen zu schnell ab.

Sie atmete durch die Nase ein und unterdrückte den Drang, ihn zu schütteln.

Ihre Gefühle hatten sich nicht geändert. Wenn überhaupt, machte sie sich sogar noch mehr aus ihm als zuvor. Dantes Stolz hatte jedoch einen Schlag verpasst bekommen, der brutaler war als der gegen seinen Körper, und seine Dämonen weigerten sich, ihm Frieden zu gewähren, flüsterten Drohungen oder Versprechungen, die er für sich behielt.

Zeit mochte vielleicht nicht ausreichen, um alle Wunden heilen zu lassen, aber es war das Einzige, was sie ihm bieten konnte.

Kaleb kippte zur Seite, seine Hand wedelte auf der Suche nach etwas, woran er sich festhalten konnte, durch die Luft. Alessa sprang auf, bereit, ihm zu helfen. Doch Dante stützte ihn, noch bevor sie es konnte, und die beiden Männer stählten sich, um anzufangen zu gehen.

Die anderen Fontes und die verwundeten Soldaten waren in ihr Zuhause zurückgekehrt, um sich dort zu erholen, aber Kaleb hatte behauptet, dass er sich zu sehr an den Luxus der Cittadella gewöhnt hatte, um ihn aufzugeben, und offiziell war er Alessas erwählter Fonte.

Dante hatte kein Zuhause.

Daher waren sie geblieben.

Kaleb fertigte Hüte aus Bandagen an, und er verlangte, dass die Krankenschwestern ihm sagten, dass er hübscher war als Dante. Er beklagte sich dramatisch, dass die Suppe zu suppig war und die Kekse zu süß, bis sie ihm etwas anderes brachten, und dann aß er all sein Essen und stahl Bissen von Dantes unangerührtem Tablett, bis dieser sich ärgerte und aus Trotz etwas aß.

Kaleb machte das nicht trotz Dantes wütenden Blicken, sondern wegen ihnen. Dante brauchte Ablenkung, und Kaleb bot sie ihm.

Noch viel wichtiger war, dass Kaleb ihm jene Art widerwärtiger Ermutigung durch Beleidigung bot, die Dante brauchte, so rätselhaft das auch war. Ihr erwählter Fonte und ihr erwählter Liebster verbrachten ihre Tage damit, Physiotherapeuten und Krankenschwestern zu frustrieren, die Übungen mit ihnen machten und ihre Genesung verfolgten, während sie einander mit einem bizarren Wettbewerb quälten, in dem es darum ging, wer sein Leiden mit der kreativsten Anwendung von Flüchen ausdrücken konnte.

Dante, der zweisprachig aufgewachsen war, war darin meistens besser.

Dea sei Dank hatte sie ihn kaum berührt, als er seine Augen auf dem Altar das erste Mal geöffnet hatte.

Wenn sie es getan hätte, wäre er womöglich sofort wieder gestorben.

Dante hatte seine letzte Heilkraft dazu benutzt, sie zu retten, und den größten Teil seiner Gabe mit sich genommen, als er die Welt der Sterblichen verlassen hatte. Den letzten Rest, den Nachhall, hatte er auf sie übertragen, als er gestorben war, und sie hatte ihn – mit mehr als nur ein bisschen Hilfe von Dea – benutzt, um seinen Körper zu überreden, zu den Lebenden zurückzukehren. Aber seine Macht war nicht mit ihm mitgekommen.

Alessa schluckte gegen einen Kloß in der Kehle an und rief Kaleb ein paar spöttische ermutigende Worte zu, als er einen zögernden Schritt machte. Er stöhnte und erfand ein neues Fluchwort, was der Krankenschwester einen Lachanfall bescherte.

Als Alessa beobachtete, wie Dante sich in seine Gedanken versunken auf das Kopfende ihres Bettes stützte, kämpfte sie die Hitze hinten in der Kehle nieder.

Er war am Leben .

Sie konnte ihn nicht berühren, oder zumindest jetzt noch nicht, aber er war am Leben.

Das war alles, das zählte.

Die Krankenschwester sagte etwas zu Dante, und er schüttelte den Kopf, biss die Zähne zusammen.

Kaleb wurde auf Alessa aufmerksam und bedeckte in einem übertriebenen Ohnmachtsanfall seine Stirn mit dem Handrücken. »Gnade! Schwester, dieser Ghiotte versucht, mich zu töten! Lass mich ruhen, Bestie!«

Dante verbarg ein halbes Lächeln, als Kaleb die Hilfe der Krankenschwester annahm und aus dem Zimmer humpelte.

Er setzte sich mit einer Grimasse aufs Sofa, und sein Kopf sank mit einem Seufzer der Erleichterung nach hinten.

»Kann ich dir irgendetwas bringen?«, fragte Alessa.

»Nein, komm einfach nur her«, murmelte Dante. »Ich verspreche, dass ich meine Hände bei mir behalte.«

Alessa vergewisserte sich, dass keine Haut zwischen ihren Handschuhen und ihren Ärmeln sichtbar war, bevor sie zu ihm ging. »Das habe ich schon mal gehört.«

Als sie an den offenen Balkontüren vorbeikam, stieg Jubel von der Piazza auf. Dort unten versammelte sich täglich eine Menge und hoffte, einen Blick auf ihre Retter auf dem Balkon zu erhaschen. Alessa kam ihnen jeden Morgen und jeden Abend entgegen, während Kaleb darauf bestand, oft zum Fenster gerollt zu werden, um seinen Anhängern von dort aus zuzuwinken.

Dante weigerte sich beharrlich. Er wusste nicht, wie er sich feiern oder lieben lassen sollte. Das war auch etwas, das Zeit benötigen würde.

Sie machte es sich neben ihm gemütlich, bemerkte die dunklen Ringe der Erschöpfung unter seinen Augen. »Du hast wieder geträumt.«

Ein Schatten wanderte hinter seinen Augen vorbei. »Ich bin mir nicht sicher, ob es Träume sind.«

Alessa runzelte die Stirn. »Das bedeutet?«

»Ich denke, sie versucht, mir etwas zu sagen.«

»Sie?«

»Dea. Meine Mutter. Wer auch immer sie ist. Sie war stolz, als würde ich endlich derjenige sein, der ich sein sollte, oder so. Aber sie wollte, dass ich weiß, dass ich noch nicht fertig bin.« Dante starrte zur Decke. »Je mehr Zeit vergeht, desto weniger sicher bin ich mir über das, was ich gesehen habe – gehört habe –, ich weiß nicht, wie ich es nennen soll. Aber sie hat versucht, uns zu helfen, uns einen Hinweis zu geben.«

Alessa trug immer noch ihre Handschuhe, daher strich sie ihm eine dunkle Locke von der Schläfe.

Dante lehnte sich in ihre Handfläche, seine Lippen bewegten sich an der Seide. »Ich glaube, sie will, dass ich La Fonte di Guarigione finde.«

Alessa setzte sich auf. »Sie existiert noch? Dann werde ich unverzüglich dorthin gehen und dir ihr Wasser bringen. Du wirst geheilt werden. Vielleicht kannst du sogar wieder –«

»Nein.« Er schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, dass es so funktioniert.«

»Wieso nicht? Es ist mir egal, wie weit ich gehen muss, ich werde es tun. Du könntest geheilt, deine Macht wiederhergestellt werden. Und wenn du recht hast, und Crollo etwas viel Schlimmeres plant, brauchen wir das Wasser für die Soldaten.«

»Ich glaube, das versucht sie mir zu sagen. Dass wir sie finden müssen, bevor er schickt, was auch immer er vorhat.«

»Nun, wo ist sie dann? Ist sie auf Saverio?«

Er schloss die Augen. »Nicht mehr.«

»Nicht mehr?« Ihre Kopfhaut kribbelte. »Dante, wie kann eine Quelle sich bewegen?«

»Es ist eine andere Art Quelle.«

Sie verzog das Gesicht. »Ich kenne nicht viel von der alten Sprache, aber ich kenne diesen Teil ›Lei diede loro una fonte di guarigione – sie gab ihnen eine heilende Quelle ‹.«

»Dein Akzent ist immer noch schrecklich.« Dante lächelte leicht. »›E quando venne il momento della battaglia, i guerrieri sarebbero stati forti, perché Lei diede loro una fonte di guarigione.‹ Es kann Quelle im Sinne von sprudelnder Quelle im Boden bedeuten, aber alles kann eine Quelle sein.«

Alessa sagte es flüsternd sich selbst vor, probierte die Worte mit der neuen Bedeutung.

Und wenn die Zeit für die Schlacht kam, würden die Kämpfer stark sein, denn ihnen gab sie eine heilende Quelle.

Sie erstarrte. »Du sagst also, dass Deas dritte Gabe nicht mehr auf Saverio ist, weil …«

Dante schloss die Augen. »Weil wir sie verbannt haben.«

Ihr blieb die Luft weg.

Um das Grauen zu überleben, das Crollo plante, brauchten sie eine Armee aus nahezu unbesiegbaren Soldaten.

Aber zuerst mussten sie sie finden.