Die blonde Sekretärin mit dem knallroten Lippenstift, die am Empfang des Blitz Theater in Philadelphias Broad Street saß, dachte, er sei ein Gewerkschaftsmann. Sonst hätte sie den mittelalten Juden in seinem Overall auf der Stelle wieder hinausgeworfen. Er saß aufrecht in dem Plüschsessel im Warteraum des Büros und fingerte mit seinen schwieligen Arbeiterhänden an seinem Hut herum. Er musste eine Art Gewerkschaftsorganisator sein, dachte sie, denn er war nicht angenehm. Unorganisierte Arbeiter lächelten in der Regel und waren unterwürfig, freuten sich über Arbeit und waren vom schönen Wartezimmer, dem Ledersofa und den polierten Kaffeetischchen beeindruckt. Gewerkschafter dagegen waren überhebliche Männer in Arbeitskleidung, die sich auf die Sofalehnen setzten, rauchten und redeten, aufgeblasene Aufwiegler allesamt. Dieser Kerl gehörte eher zu Letzteren. Als Namen hatte er Marvin Skrupskelis angegeben und ihn dann buchstabiert, als wäre sie nicht dazu in der Lage, was tatsächlich zutraf, da sie Scoopskalek geschrieben hatte, doch er warf einen Blick auf ihre Notiz und korrigierte sie. Er sagte, er habe zwar keinen Termin mit Mr Isaac Moskovitz, müsse ihn aber sprechen. Nur, weil sie annahm, er könnte ein Gewerkschaftsvertreter sein, klingelte sie bei Isaac an. Der antwortete aber gar nicht erst, sondern drückte sie gleich wieder weg, was bedeutete, dass er verärgert war und sie diesen Mann, wer immer er auch sein mochte, hinauswerfen sollte. Sie nahm die Hand von der Sprechanlage und wollte genau das tun, als Mr Moskovitz die Tür seines Büros öffnete, zu dem Mann hinging, ihm die Hand schüttelte, »Da entlang«, sagte und ihn zur Tür in Richtung Aufzug schob.
Als er sie öffnete, sagte er zu seiner Sekretärin: »Ich bin eine Weile nicht da.«
Nach fünf Minuten Autofahrt in Isaacs schwerem schwarzem Packard die Broad Street hinunter warf Marv einen langen Blick auf Moshes Cousin, den großen, dominanten Burschen, der gelegentlich in Pottstown auftauchte, um seinem sanftmütigen Cousin durch Katastrophen und Chaos zu helfen. Er sah, wie Isaac den schweren schwarzen Wagen mit Leichtigkeit durch den Verkehr steuerte. Isaac wirkte wie eine ältere, festere Version Moshes, ohne das Lächeln, und er war auch nicht so gastfreundlich wie Moshe, er vergeudete keine Zeit. »Wie haben Sie mein Büro gefunden?«, fragte er.
»Es steht im Verzeichnis. Hätte ich zu Ihrem Haus kommen sollen?«
»Das wäre besser gewesen.«
»Ich wusste nicht, ob ich da willkommen gewesen wäre.«
»Das habe ich nicht gesagt, nur dass Sie besser dorthin und nicht in mein Büro hätten kommen sollen.«
»Nur, um es noch weiter zu verkomplizieren«, sagte Marv, »sind Sie einer von den verrückten rumänischen Theaterbesitzern, die eine Menge nutzloses Zeug wissen, wie dass Schmetterlinge mit den Füßen schmecken?«
»Sie haben es gerne kompliziert?«
»Ich bin Litauer«, schnaubte Marv, verstummte dann und sah aus dem Fenster, während Isaac langsam und vorsichtig dahinfuhr.
Isaac warf einen Blick auf Marv. Er hatte ihn bei Chonas Schiwa gesehen. Oder war es sein Zwillingsbruder gewesen? Er konnte sie nicht auseinanderhalten. Wer immer es gewesen war, war lange geblieben und hatte wenig gesagt. Isaac kam zur Sache. »Was hat Moshe diesmal angestellt?«
»Nichts hat er angestellt. Er führt ein ehrbares Leben. Was mehr ist, als ich von einigen von uns in diesem Land sagen kann.«
»Sie wollen also zurück in Ihre alte Heimat?«
»Nein, ich mag es hier. Die Politiker versuchen, uns mit einer Hand die Kehle aufzuschlitzen, während sie mit der anderen die Begrüßungsflagge schwenken. Und dann nehmen sie einem die Steuern. Das erspart es ihnen, uns dreckige Juden zu nennen.«
Isaac lachte. »Haben Sie Hunger? Wollen Sie was essen? Brauchen Sie was? Sie hatten eine lange Anreise.«
Marv sah aus dem Fenster, seine braunen Augen spähten zu den Häusern hinüber, an denen die Limousine vorbeifuhr. »Er ist nachgiebig, ihr Cousin.«
»Sagen Sie mir was, was ich noch nicht weiß.«
»Ich mache Schuhe«, sagte Marvin.
»Ich werde dran denken, wenn meine entzündeten Füße das nächste Mal wie Hefe aufgehen.«
»Ich mache sie für alle möglichen Leute«, sagte Marv. »Sie kommen von weither. Aus Reading. Baltimore. Sogar aus New York.«
»Sie haben einen Zwillingsbruder?«
»Richtig.«
»Waren Sie es, den ich bei der Schiwa gesehen habe? Oder war es der andere?«
»Wahrscheinlich der andere.«
»Wo waren Sie?«
Marv reagierte gereizt. »Ich erinnere mich nicht, Sie gesehen zu haben, als ich da war. Aber wir waren immer den ganzen Tag da. Ich oder mein Bruder. Einer von uns war immer da, jeden Tag. Überprüfen Sie, wer zu Schiwas kommt?« Er schwieg eine Weile, während Isaac den Hieb verdaute, und fuhr dann fort.
»Letzte Woche kam einer zu mir, der Probleme mit seinem Zeh hatte. Er brauchte einen Schuh dafür. Doc Roberts hat ihn zu mir geschickt. Erinnern Sie sich an ihn?«, fragte Marv.
»Warum sollte ich was auf den Scheißer geben?«
»Weil dieser Mann den Doc in die Zange nehmen könnte.«
»Woher wissen Sie das?«
»Wenn ein Mann keine polierten Schuhe trägt und weiß, wie man Märchen in Bildern erzählt, heißt das noch lange nicht, dass er nichts im Kopf hat. Der Mann heißt Plitzka. Gus Plitzka. Er betreibt Dinge in Pottstown.«
»Wie was?«
»Alles. Den Stadtrat, das Wasserwerk, die Cops. Er spielt mit zweierlei Karten. Er wollte die Molkerei kaufen und hatte dann zu wenig Geld. Er hat sich was von einem Mann namens Nig Rosen geliehen. Einem Geschäftsmann von hier. Vielleicht kennen Sie Rosen?«
Isaac nickte und fädelte die große Limousine durch den Verkehr. »Sie könnten ihn so nennen, aber wen wollen Sie damit hinters Licht führen? Er lebt von Bürgschaftsscheinen und Benzedrine. Keiner, mit dem man spielt. Woher wissen Sie von ihm?«
»Pinochle.«
»Was?«
»Nicht jeder Jude in Pottstown sitzt herum, lutscht am Daumen und wartet auf Zuteilungen von der Deutsch-Jüdischen Gesellschaft. Pinochle. Ich spiele jede Woche in Reading. Um viel Geld. Ein paar Spieler da in Reading arbeiten für Rosen.«
»Und?«
»Sie kommen jede Woche nach Pottstown und setzen Plitzka unter Druck. Er schuldet Rosen einen ganzen Batzen. Ohne das Geld von ihm hätte er die Molkerei nicht kaufen können, und die bekommt ihr Wasser von seiner alten Farm, aber die hat keins mehr.«
»Und?«
»Unser Tempel auf dem Hill hat lange einen Brunnen angezapft, aus dem Wasser für die öffentliche Zapfstelle gepumpt wurde. Der ist jetzt trocken, und ich weiß sicher, dass Plitzkas Wasser aus dem neuen Reservoir kommt. Ohne, dass er dafür zahlt. Wenn der Staat wüsste, dass er sein Wasser gratis bezieht und gleichzeitig das städtische Wasserwerk unter sich hat, kämen sie und übernähmen das Ganze. Die Stadt braucht Wasser. Die Fabriken brauchen es. Das heißt, er ist verletzlich. Da er da verantwortlich ist, kann ihn vielleicht jemand unter Druck setzen, damit er Doc Roberts unter Druck setzt.«
»Der Goi wird niemals zugeben, eine Jüdin vergewaltigt zu haben.«
»Er hat sie nicht vergewaltigt. Er hat es nur versucht.«
»Das ist egal. Er hat ihr die Kleider runtergerissen. Das reicht. Um was geht es hier?«
»Gerechtigkeit«, sagte Marv auf Jiddisch.
»Noch irgendwelche andere Witze?«
»Ich mochte Chona.«
Isaac überdachte das alles sorgfältig und atmete schließlich tief durch. »Religion und Politik. Sind nicht gut fürs Geschäft.«
»Sie tun also nichts. Was ist das Leben einer Jüdin wert?«
»Sparen Sie sich Ihre Belehrungen, mein Freund.«
»Was werden Sie tun?«
»Wenn Irene Dunne eine Woche lang kommen und Lieder singen soll, zum Vorzugspreis, kann ich das arrangieren. Und auch, wenn Cab Calloway in Moshes Theater sein Hi-di-hi-di-ho zum Besten geben soll. Aber Deals mit Dummköpfen zu machen, damit sie Politiker in einer Stadt, die ich nicht kenne, Marshmallows und Zigaretten abtrotzen, das liegt außerhalb meiner Reichweite.«
»Sie tun also nichts.«
Isaac sagte behutsam: »Das habe ich nicht gesagt. Lassen Sie Rosen Plitzka packen. Vielleicht ist er damit so beschäftigt, dass er aufhört, mich damit zu plagen, seine billigen Flittchen in meine Shows aufzunehmen. Keiner will die Cops dabei haben. Keiner will den Staat oder die Bundespolizei. Keiner will Steuern. Keiner Probleme. Oder was zahlen. Vergessen Sie den Cowboy-Unsinn. Um in diesem Land Dinge zum Funktionieren zu bringen, geht man keinen Mann frontal an. Man bleibt ruhig. Macht Deals. Lassen Sie Rosen und Plitzka in Ruhe. Vielleicht stolpern die über einen Kanaldeckel und fallen rein. Ich brauche bei was anderem Hilfe.«
»Was für Hilfe?«
Isaac seufzte. Er warf einen langen Blick auf Marv und steuerte die Limousine vom belebten Boulevard in eine Seitenstraße mit Reihenhäusern, fuhr an den Rinnstein, zog die Handbremse und wandte sich Marv zu.
»Was Chona wollte«, sagte er, »war, dass die Schul überlebt. Machen Sie das Wasserproblem mit Plitzka öffentlich, dann ziehen Sie die Schul mit rein. Es hat keinen Sinn, Plitzka damit unter Druck zu setzen.«
»Was machen wir also?«
»Lassen Sie Plitzka sein Wasserproblem mit der Molkerei selbst lösen. Ich löse es für die Schul. Das läuft bereits, und der Tempel wird nicht dafür verantwortlich gemacht. Ich brauche nur bei einer Sache Hilfe, damit es funktioniert. Nichts sonst.«
»Und was ist das?«
»Ich brauche zwei Männer, Juden, um einen Zug für mich zu fahren. Von der Gewerkschaft.«
»Ein Gewerkschafter kann keinen Zug fahren. Das macht die Pennsylvania Railroad.«
»Ich meine nicht, ihn selbst fahren. Sie müssen nur drauf sein. Zwei. Auf ihm arbeiten.«
»Auf welchem Zug?«
Isaac sah in den Rückspiegel, dann aus dem Fenster, als ein Auto vorbeiwischte, gefolgt von einem Pferdekarren. »Der farbige Junge von Chona, der, der alles gesehen hat, er ist in Pennhurst, und es gibt einen Güterzug, der jede Woche Kohlen und Mehl dort hinbringt. Ich brauche zwei Männer auf diesem Zug, die sich das Kind schnappen, wenn es aus der Klapse kommt. Ich kümmere mich um den Rest.«
»Es sich wo schnappen?«
»Wo der Zug seine Fracht entlädt. Der Junge wird da sein, wenn sie kommen.«
»Wer bringt ihn hin?«
»Darum sorgen Sie sich mal nicht. Er wird da sein.«
»Und wohin sollen sie ihn bringen?«
»Sie müssen ihn nur in den Zug setzen, um den Rest kümmere ich mich. Können Sie zwei Juden finden, denen zu trauen ist?«
»Natürlich. Im Bereich Reading arbeiten wahrscheinlich um die vierzig Juden für die Bahn.«
»Wie viel, denken Sie, wird das kosten?«
»Für Sie? Nichts.«
»Sie machen Witze.«
Marv schüttelte den Kopf. »Die Eisenbahnjuden sind alle in der Gewerkschaft. Sie lesen die Zeitungen, singen die Lieder, sie sind verrückt. Sie sind alle voll von Geschichten über die amerikanische Gerechtigkeit für einen und alle. Sie wissen von Chona, den Briefen, die sie geschrieben hat, den irren Sachen, die sie getan hat. Die Farbigen waren nicht die Einzigen, denen sie geholfen hat, ohne Geld dafür zu wollen. Der halbe Laden war voll mit Eisenbahnern, besonders am Wochenende. Chonas war sonntags der einzige offene Laden in Pottstown. Ich kann ihnen zehn Gewerkschaftsjuden von der Eisenbahn bringen.«
»Zwei, mehr brauche ich nicht. Wie viel wird es kosten, sie für mich anzuheuern.«
»Ich sagte doch, nichts.«
»Nichts gibt’s für nichts.«
»Ich übernehme das.«
»Wie?«
»Alle brauchen Schuhe.«
»Sie machen Spaß, oder?«
»Frage ich Sie, wie Sie Ihr Geschäft betreiben? Bieten Sie einem Gewerkschafter ein Bestechungsgeld an, und er spuckt Ihnen ins Gesicht. Sie wissen, ich habe kein Geld wie Sie, um damit um mich zu werfen. Aber wenn ich meine Arbeit anbiete, meinen Beruf, dann wissen sie das zu schätzen. Sie ehren Prinzipien.«
Isaac wurde rot, weil er von Scham erfasst wurde. Prinzipien. In all den Jahren als Fusgeyer, als er und Moshe noch Kinder gewesen und um ihr Leben gelaufen und vor Soldaten und Hunger geflohen waren, waren sie das eine, von dem Moshe nie abließ. Er hasste niemals jemanden. Er blieb immer menschlich. Hätte noch seinen letzten Krümel weggegeben. Und hier in Amerika hatte er eine Frau geheiratet, die genauso war. Güte. Liebe. Prinzipien. Sie bestimmten diese Welt. »Ein Nein ist kein Nein. Es ist nur der Anfang einer Verhandlung«, sagte Moshe. Was für ein wundervoller Verhandler er war. Mit all seinen Talenten hätte er hier in Amerika ein reicher Mann werden können. Stattdessen lebte er in einem Scheißkaff, mit einer toten Frau, dank eines … Isaac schluckte und biss sich auf die Lippe.
Er hörte Marv etwas sagen.
»Was?«
»Das Wasser«, sagte Marv. »Was ist mit dem Wasser? Wer löst das Problem? Sind Sie sicher?«
»Das ist bereits im Gange«, sagte Isaac. »Sorgen Sie nur dafür, dass die beiden Männer da sind, wenn der Junge aus dem Irrenhaus kommt. Das ist meine Seite des Handels.«
»Was ist mit Plitzka?«
»Vielleicht enden er und Rosen irgendwo in einer Urne. Wen stört’s?«
»Wann wollen Sie die Männer dort haben? Mit welchem Zug?«
»Es gibt am Tag nur einen, der nach Pennhurst fährt, wie man mir gesagt hat. Ich schicke eine Nachricht, an welchem Tag. Halten Sie ihre Jungs bereit. Und würden Sie mir einen Gefallen tun?«
»Vielleicht.«
»Das nächste Mal, wenn Sie zu mir kommen. Meine Sekretärin ist eine Goi mit einem großen Mundwerk.«
Marv grinste. »Wem Sie an die Wäsche gehen, ist Ihre Sache.«
Isaac zog die Stirn kraus. »Wir können nicht alle Moshes sein«, sagte er.