Etwas mit der verlorenen Frau zu veranstalten – hierbei wusste sie allerdings noch nicht so genau, was –, würde Sina von ihrer Langeweile erlösen. Von der elenden Langeweile und der ganzen anderen Scheiße. Von der Schule. Dem Drecksloch. Ihrer Mutter. Und ja, auch von Bobby.
Nachdem sie die verlorene Frau im Dezember im Elektronikmarkt in den Neuköllner Arcaden sofort wiedererkannt hatte, war sie ihr draußen eine Weile gefolgt. Die Frau ging die Karl-Marx-Straße entlang und wirkte wie eine Art Roboter. Sie sah nicht zur Seite, betrat kein Geschäft, ging einfach stur geradeaus. So schnell, dass Sina Mühe hatte, sie nicht aus den Augen zu verlieren. Und als sie sich zu wundern begann, wie die Frau in diesem Tempo ohne Kollisionen an den vielen Leuten vorbeikam, rempelte sie prompt jemanden an. Soweit Sina erkennen konnte, entschuldigte sie sich nicht. Sich nicht zu entschuldigen, fand sie ja ganz in Ordnung, sogar gut, auch Sina entschuldigte sich nach Möglichkeit nie, bei einer Erwachsenen allerdings war es ungewöhnlich.
Es wiederholte sich noch ein paar Mal. Nicht ausweichen, anrempeln, ohne ein Wort weitergehen. Die Frau war Sina von Anfang an unheimlich gewesen. Drogen? Psychopillen? Komplett gestört? Alles zusammen? Offenbar ein noch schlimmerer Fall, als sie zuerst gedacht hatte. Doch sie war nach wie vor gut gekleidet, zu gut für diesen Teil Neuköllns. Sie war auch noch nicht alt, jedenfalls nicht so alt wie Leute, die Worte wie Disco, Jeansladen und Arschgeige benutzten, und auch jünger als Sinas Mutter, die Schlampe. Oder sie hatte sich besser gehalten. Irgendwann begannen sie alle zu vertrocknen. Oder sie wurden wabbelig. Sina würde das nicht passieren. Zumindest konnte sie sich das nicht vorstellen.
Eine Weile gefiel ihr die Verfolgung noch. Wie im Fernsehkrimi. Aber bald hatte sie keine Lust mehr. Wollte die Frau kilometerweit zu Fuß gehen? Ohne die U-Bahn zu nehmen oder ein Taxi, ohne irgendwo endlich eine Haustür aufzuschließen? Sina zweifelte nicht daran, dass es eine Haustür gab, zu der sie den Schlüssel hatte. So, wie sie gekleidet war, lebte sie weder auf der Straße noch in irgendeiner Anstalt.
Als sie am U-Bahnhof Karl-Marx-Straße immer noch unbeirrt weiterging, stellte Sina die Verfolgung ein. Vorerst. Sie verlor schnell die Lust, egal, worum es sich handelte.
Das Projekt Verlorene-Frau-Verfolgen hatte sie danach eine Weile ad acta gelegt. Sie würde sie ganz sicher nicht draußen suchen, ohne irgendeinen Anhaltspunkt, wer war sie denn, sondern es darauf ankommen lassen. So interessant war sie ja auch nicht. Wenn sie ihr nie wieder über den Weg lief, gut, dann war’s das mit ihr. Und wenn doch – und von dieser Möglichkeit ging Sina fest aus –, musste sie ernsthaft den zweiten Teil angehen. Doch vorher brauchte sie einen Plan.
Sina behielt recht. Sie traf die Frau tatsächlich in den folgenden Wochen. Mehrmals. Zu den verschiedensten Tageszeiten. Musste sie denn nicht arbeiten? Ihr Gesicht hatte Sina sich inzwischen gut eingeprägt, auch ihren Gang. Aber entweder war Bobby dabei – mit ihm hätte Sina das straffe Tempo, das die Frau an den Tag legte, keine fünf Minuten beibehalten können –, oder es passte aus anderen Gründen nicht. Weil es regnete. Weil es zu kalt war. Weil Sina einfach keine Lust hatte. Weil der Plan noch nicht ausgereift war. Für Grausamkeit musste man sich vorher genauso warmmachen wie für eine sportliche Leistung. Und konzentrieren. Grausamkeit kam nicht einfach so von selbst. Sonst könnte es ja jeder.
Sie wollte die Frau nicht nur verfolgen, das war ja Kinderkram. Sie wollte sie zu Tode erschrecken. Und in die Enge treiben. Sie mit irgendeiner Waffe bedrohen, über die es noch nachzudenken galt. So nach dem Motto, rück dein Geld raus und dein Handy, sonst mach ich dich kalt. Die verlorene Frau hatte bestimmt ein nagelneues Smartphone. Sina könnte sie zwingen, einen Teil ihrer Klamotten auszuziehen, auch die Schuhe, sodass sie halbnackt und auf Socken durch Neukölln marschieren musste. Eine befriedigende Fantasie. Sina würde sie filmen und ihre Kleider einstecken. Ihre Mutter würde es sowieso nicht interessieren, woher sie stammten. Sinas Mutter bekam schon lange nichts mehr mit und existierte nur noch in ihrem eigenen stinkigen Dunstkreis. Allerdings entsprach die Kleidung der verlorenen Frau nicht ganz Sinas Altersklasse. Aber was sie damit anstellte, konnte sie sich später überlegen.
Bedauerlicherweise war Sina in all dem weitaus weniger geübt, als sie es sich wünschte. Bislang war sie immer Impulsen gefolgt und nie einem Plan. Ein ausgeklügelter Plan war etwas ganz Neues.
An den Feiertagen vergaß sie die Frau vorübergehend. Weihnachten verlief so unerfreulich wie erwartet. Inzwischen machte Sina sich auch keine großen Hoffnungen mehr. Nicht einmal kleine. Sie schlug nicht mehr vor, die Wohnung weihnachtlich zu dekorieren wie vor ein paar Jahren, als sie noch naiv und gutgläubig gewesen war. Ein Kind. Sie wusste, was ihre Mutter erwidern würde: Brauchen wir nicht. Kitschig. Als Kind hatte Sina manchmal selbst im feuchten Keller nach der Kiste mit dem alten Weihnachtsschmuck gesucht. Damals hatte ihre Mutter wenigstens noch so getan, als würde sie sich darüber freuen. Das ganze glitzernde Zeug war schon lange nicht mehr aufgetaucht, mit Ausnahme eines Strohengels von Sinas Großeltern, bis auch der für immer im Keller gelandet war. Oder im Müll.
Sina hatte sich gewundert, dass es überhaupt Geschenke gab und ihre Mutter nicht auch noch dieses fundamentale weihnachtliche Element vergessen hatte. Turnschuhe für sie. Erstaunlicherweise sogar die, die sie sich gewünscht hatte. Und in der richtigen Größe. Sinas Mutter kannte ihre Schuhgröße, yippie! Ein neues Smartphone wäre besser gewesen, aber Sina wollte nicht undankbar sein. Außerdem käme sie bald ja vielleicht auf anderen Wegen an ein teures Smartphone. Sie hielt ihrer Mutter zugute, dass sie überhaupt an Geschenke gedacht hatte. Eigentlich musste man sich schon freuen, wenn ihre Mutter morgens aufstand und nicht den ganzen Tag im Bett blieb.
An Weihnachtsdekoration konnte sie sich fast nicht mehr erinnern. Woran man sich nicht mehr erinnern konnte, vermisste man ja auch nicht, oder? Inzwischen tat Sina es auch als peinlich ab. Sie hätte niemals zugegeben, nicht einmal vor sich selbst, dass sie sich in Wahrheit jedes Jahr aufs Neue danach sehnte, sich also durchaus noch erinnern konnte. Gegenüber ihren Schulfreundinnen, blöde Bitches, zeigte sie nur Verachtung, wenn die von geschmückten Wohnungen erzählten, von ihren verdammten glücklichen Familien, von besonders großen Christbäumen, sooo groß, fast bis zur Decke!, und behauptete, Weihnachtsschmuck sei wirklich das Allerletzte, nur was für alte Leute oder totale Spießer oder Schwule.
Die Tage zwischen Weihnachten und Silvester waren ereignislos verlaufen. Sina war vor allem langweilig gewesen. Ein wohlvertrautes Gefühl. Manchmal schlug die Langeweile aus heiterem Himmel in Wut um. Sina wurde dann so wütend, dass sie am liebsten alles kurz und klein geschlagen hätte. Die Wut stieg aus ihrem Inneren empor, tief in ihr drin musste es einen Quell dafür geben, eine Drüse, die permanent Wut produzierte, eine entlegene Stelle, an die sie nicht herankam, wie ein Pickel am Rücken, den man spürte, aber nicht ausdrücken konnte. Vielleicht waren es aber auch einfach nur die schlechten Gene der alten Schlampe.
Eine Weile hatte sie auf ihrem Bett gelegen und versucht zu lesen, sich aber nicht allzu lange konzentrieren können. Lesen war nichts für sie. Sie mied ihre Mutter, was umgekehrt auch der Fall war. Sina wollte gar nicht, dass ihre Mutter sich mit ihr abgab. Jetzt nicht mehr. Die Zeiten waren lange vorbei.
Silvester trieb Sina sich schon tagsüber herum. Es machte ihr Spaß, den Leuten Knaller vor die Füße zu werfen, zu sehen, wie sie erschraken und wie Hasen zur Seite hopsten. Nachmittags war auf den Straßen allerdings noch nicht viel los gewesen. Am frühen Abend ging sie nach Hause und aß mit ihrer Familie zu Abend. Sehr brav. Geradezu vorbildlich. Ihre Mutter hatte erstaunlicherweise ein Abendessen hinbekommen – Fischstäbchen, die Hälfte davon angebrannt – und so getan, als wären sie eine ganz normale glückliche Familie. »Cousinenfische!«, krähte Toni vergnügt, und, in einem fort: »Das ist das letzte Essen! Das letzte Essen dieses Jahr! Wir kriegen dieses Jahr nichts mehr zu essen!« – bis er damit allen auf die Nerven ging. Toni war noch zu klein, um sich an etwas zu stören. Er kannte es ja auch nicht anders. Bobby reichte es meistens, wenn man ihm zeigte, dass man ihn mochte. Zuneigung war für Bobby eine Art Lebenselixier, das ihn nährte. Sina liebte ihn. Manchmal wäre sie ihn aber auch gern los gewesen. Bobby war lieb und lästig. Beides gleichzeitig. Und so bedürftig. Mit seinen immer freundlichen Augen, nicht nur freundlich, sondern auch gütig, als steckte eine ungeahnte Weisheit dahinter, und seiner strikten Weigerung, etwas Böses in Menschen zu sehen.
Auch am Silvesterabend räumte Sina nach dem Essen die Küche auf und wusch das Geschirr – der Geschirrspüler war schon seit Monaten defekt –, gab sich aber nicht so viel Mühe wie sonst. Sollte doch alles verdrecken. Bis sich irgendwann das Ungeziefer überall breitmachte. Lange würde das nicht mehr dauern. Aber vielleicht wäre Sina bis dahin auch nicht mehr hier.
Ohne sich zu verabschieden, verzog sie sich wieder nach draußen. Sie sagte ihrer Mutter nicht, wohin sie ging und wann sie wiederkam. Sie wusste ja auch gar nicht, wann sie wiederkäme. Und ob überhaupt. Es interessierte ihre Mutter sowieso nicht. Das Denken ihrer Mutter kreiste nur um eine einzige Person auf diesem Planeten, sich selbst. Sina sagte nicht einmal Bobby tschüs, weshalb sie draußen eine Weile das schlechte Gewissen plagte. Bobby konnte schließlich nichts dafür. Für gar nichts. Bobby am allerwenigsten.
Draußen ohne Ziel herumzugehen, wurde ihr bald langweilig. Diese verdammte Langeweile, sie war Sinas zweite Natur. In der Schule hatte jemand von einer privaten Party in einer Seitenflügelwohnung in der Skalitzer Straße erzählt. Wie gut, dass Sina sich geistesgegenwärtig die Hausnummer notiert hatte. Mit einem schwarzen Edding auf ihrem weißen T-Shirt. Sie machte sich auf den Weg zur Skalitzer, an den Füßen die neuen Turnschuhe. Es war erst gegen neun, aber in Neukölln und Kreuzberg wurde schon so viel Feuerwerk gezündet wie um Mitternacht. Die Luft war verqualmt, und es roch nach Krieg. Zumindest stellte sich Sina das so vor. Sie mochte es. Sie wusste nicht, wer in der Skalitzer Straße überhaupt wohnte, aber das war auch egal. Hauptsache, nicht zu Hause. O Gott, mit ihrer Mutter aufs neue Jahr anstoßen, was für ein Albtraum.
Als sie ankam, musste sie nirgendwo klingeln, was auch gut war, weil sie nur die Hausnummer wusste und keinen Namen. Die Haustür stand auf. Anhand der Lärmspur fand Sina die Wohnung sofort. Unten durchs Vorderhaus und dann in den Hof. Die Wohnung gleich unten im Erdgeschoss. Auch hier war die Tür nur angelehnt. Der Lack blätterte großflächig an ihr ab. Stimmen aus der Wohnung drangen bis ins Treppenhaus, laute Musik, Zigarettenrauch. Sina trat ein, ohne zu klingeln oder zu klopfen. Hätte sowieso keiner gehört.
Die Wohnung stank und war völlig verdreckt, dagegen war ihre eigene Wohnung ein Ausbund an Sauberkeit. Sinas neue Turnschuhe blieben bei jedem Schritt am Holzboden kleben. Offenbar gab es nur ein einziges Zimmer und eine kleine Küche. Die meisten Leute drängten sich in dem Zimmer. Sina blieb erst einmal in der Diele stehen. Jemand reichte ihr ein Bier. Kurz darauf hielt ihr ein anderer seine geöffnete Handfläche hin. In dem schummrigen Licht konnte Sina nicht erkennen, was dort lag. Irgendeine Pille. Sie lehnte ab. Vielleicht später. Das Bier trank sie in wenigen großen Schlucken aus und nahm sich aus einem der Kästen in der Küche ein neues. Ein nerviger Typ fragte, ob er ihr beim Öffnen behilflich sein solle, dabei konnte Sina das mit einem Feuerzeug selbst. Das Bier war viel zu warm. Sina blieb in der Küche. Und irgendwann, inzwischen war sie beim dritten Bier angelangt, weil sie wie eine Verdurstende trank, landete sie mit dem Feuerzeugtypen halb in der Speisekammer, die an die Küche grenzte und sich als winziges Bad herausstellte, auf dem klebrigen Fußboden. Der Typ schnaufte ihr ins Ohr und fing an, Sina zu begrapschen. Sie wunderte sich, warum er so seltsam redete, bis sie kapierte, dass er englisch sprach. Hätte sie in der Schule besser aufgepasst, könnte sie jetzt eine gepflegte Unterhaltung mit ihm führen. Ein Splitter der rissigen Dielen bohrte sich in ihre Handfläche. Von dem, was der Typ erzählte, verstand sie nur die Hälfte, wenn überhaupt. Aber wahrscheinlich war es auch gar nicht wichtig. Er war eindeutig nicht von ihrer Schule, zu alt. Von ihrer Schule hatte Sina hier überhaupt noch keinen gesehen. Der Splitter tat weh. Aber da Sina jetzt das vierte Bier trank und so viel in so kurzer Zeit nicht gewöhnt war, merkte sie es nicht so. Oder war es schon das fünfte? Der englisch sprechende Typ und sie fingen an zu knutschen. Er war nicht gerade das Beste, was ihr bisher untergekommen war, aber egal. Auch das merkte Sina nach dem Bier nicht mehr so deutlich. Es passte zu diesem Abend. In dem winzigen Bad roch es nach Schimmel und Pisse. Als der Typ energischer wurde, seine Hand erst unter ihren Pullover schob und dann in ihren Hosenbund, rutschte sie auf dem Hintern ein Stück von ihm weg. Ein anderer kam und sagte, er müsse pissen und sie sollten verschwinden.
Sina nutzte die Gelegenheit, stand auf, leicht schwankend, und ging in das einzige Zimmer. Dort beratschlagten gerade ein paar Leute, ob sie um zwölf vor die Tür gehen sollten. Zwölf war bald. Sina schloss sich ihnen an, auch, um dem englisch sprechenden Typen aus dem Weg zu gehen. Sie trank jetzt kein Bier mehr, sondern Cola-Rum. Oder eher Rum-Cola. Ihr Mund war ganz klebrig. Kam vielleicht auch von der englischen Spucke.
Auf der Skalitzer Straße bewarfen sie vorbeigehende Leute und Autos mit allem, was knallte und zischte. Ein Rudel Türkenjungs tat es ihnen gleich und bewarf sie, woraus eine kleine Schlacht wurde. Die Luft war jetzt komplett von Rauch erfüllt, als wäre sie nicht mehr gasförmig, sondern fest. Sina gefiel das. Endlich was los. Es hätte gut gepasst, wenn ausgerechnet jetzt die verlorene Frau aufgekreuzt wäre. An die hatte sie ewig nicht mehr gedacht. Sina fiel etlichen Fremden um den Hals, wobei sie sich nicht vorstellen konnte, dass irgendetwas im neuen Jahr gut werden würde. Den Typen aus dem Bad sah sie nicht mehr. Entweder war er nicht mit nach draußen gekommen oder schon weg.
Die Übelkeit, die sich in der schmutzigen Wohnung angekündigt hatte, verstärkte sich, vor allem, weil jetzt Sektflaschen herumgereicht wurden und Sina kräftig zulangte. Irgendwann konnte sie nicht mehr. Ihr war kotzübel. Sie ging, ohne sich von jemandem zu verabschieden, in Richtung Neukölln. Unterwegs erbrach sie sich mitten auf dem Gehweg. Ein Dreiergespann, zwei Typen und eine kichernde Tussi, sah sie angeekelt an. Der Splitter in ihrer Handfläche begann zu pochen. Es dauerte ewig bis nach Hause, aber das stumpfsinnige Voreinandersetzen der Füße, links, rechts, links, rechts, tat Sina gut. Verdammt, ihre neuen Turnschuhe hatten auch was von der Kotze abbekommen.
Immer noch betrunken und mit vielfältigen widerlichen Geschmacksrichtungen im Mund ging sie zu Hause die Treppe nach oben und schloss so leise wie möglich die Wohnungstür auf. Drinnen war alles dunkel. Wusste sie es doch. Niemanden hier interessierte, wann Sina kam und ging. Nicht einmal Bobby. Sie stolperte in ihr Zimmer und schloss die Tür hinter sich.
Ihr war immer noch übel. Sie besah sich ihre Handfläche. Die Stelle, an der der Splitter in die Haut gedrungen war, war gerötet. Sie suchte lange nach einer Pinzette, fand sie endlich und hantierte im Schein der Nachttischlampe damit herum. Es war zu dunkel und Sina zu betrunken, sie bekam den Splitter nicht zu fassen und wurde wütend. Auf sich. Auf den Splitter. Auf die Wohnung in der Skalitzer Straße. Auf den englisch sprechenden Typen und die drei, die sie draußen herablassend und voller Ekel gemustert hatten. Auf ihre Mutter. Auf ihre Mutter war Sina fast immer wütend. In dieser Neujahrsnacht wurde sie sogar wütend auf die verlorene Frau, obwohl sie sie gar nicht kannte.
Ihre Mutter stellte ihr am Neujahrsmorgen keine Fragen, aber damit hatte Sina auch nicht gerechnet. Ihre Übelkeit war immer noch nicht verflogen, und sie hatte den halben Tag Kopfschmerzen. Bobby hing wie eine Klette an ihr. Immerhin war also doch jemandem ihr Fehlen aufgefallen. Sie wusste nicht, warum er sie, und nur sie, so abgöttisch liebte.
In den kurzen Weihnachtsferien vergaß Sina die verlorene Frau. Das heißt sie vergaß sie nicht wirklich, aber sie kam ihr so vor wie eine Spukgestalt, die gar nicht richtig existierte, als wäre sie jemand aus so einem blöden Buch. Ihren Plan, den sie sich für die Frau zurechtlegen wollte, vergaß sie auch. Oder er war nicht mehr wichtig.
Und dann, an einem dunklen Tag im Januar, als die Schule längst wieder angefangen hatte und Sina es hinauszögerte, nach Hause zu gehen, begegnete sie ihr. Sina war abgelenkt, weil sie gerade darüber nachdachte, ob ihre Mutter heute Abend wohl etwas anderes als Tiefkühlpizza auf den Tisch brachte, aber sie schaltete trotzdem schnell. Sie wog die Möglichkeiten ab. Die Situation wäre einerseits günstig gewesen, weil nur wenige Leute unterwegs waren. Andererseits hatte sie nichts bei sich, was auch nur entfernt als Waffe hätte dienen können. Oder ging es auch ohne? Improvisieren? Nein, besser nicht. Und über einen Plan verfügte sie ja auch noch nicht. Sina begnügte sich an diesem Tag damit, der Frau unmissverständlich klarzumachen, dass sie sie kannte und dass sie sich künftig in Acht nehmen musste, bei jedem Schritt, den sie draußen machte.