Zu ihrem Handy zu greifen und gehetzt darin herumzusuchen – ohne genau zu wissen, wonach –, während Franziska im Badezimmer oder in der Küche war, erwies sich als ausgesprochen schwierig und brachte Johannes nicht weiter. Das wusste er auch. Aber er konnte es trotzdem nicht lassen. Andere Leute schalteten den Fernseher ein, kochten sich Kaffee, holten ein Bier aus dem Kühlschrank oder gingen eine Runde mit dem Hund, sobald sie zu Hause waren, Johannes suchte automatisch nach Franziskas Handy und Laptop. Es machte ihn verrückt. Dass sich einfach keine Möglichkeit ergab, in Ruhe zu stöbern, wie er es nannte. Er stöberte ein bisschen im Leben seiner Partnerin. Weiter nichts. Ganz harmlos. Weil seine Partnerin ihn interessierte. Eigentlich war das doch löblich. Die meisten seiner Freunde brachten kaum Interesse für ihre Frauen auf.
Er musste systematisch vorgehen. Doch dafür brauchte er mehr Zeit. Viel mehr Zeit. Ihre gemeinsame Wohnung in Münster war zu klein, um sich aus dem Weg zu gehen. Zwei Zimmer, Küche, Bad. Außerdem ließ Franziska ihr Smartphone nie achtlos herumliegen, und ihr uralter Laptop steckte meistens in der Tasche, es sei denn, sie benutzte ihn. Wie sie mit so einem Ding überhaupt arbeiten konnte. Sie bewegte sich immer so lautlos, schlich sich an, was ihn seit einiger Zeit ärgerte. Es erschwerte alles noch mehr. Tat sie das mit Absicht? Sie kam aus der Küche oder dem Bad und saß im nächsten Moment neben ihm auf dem Sofa. Sie würde sofort sehen, was er gerade tat, weil er das Smartphone nicht schnell genug aus der Hand legen konnte.
Johannes wusste nicht genau, wonach er suchen sollte, war aber gleichzeitig fest davon überzeugt, garantiert etwas zu finden. Ihre Passwörter hatte er bislang noch nicht knacken können, obwohl er anfangs dachte, das wäre ein Leichtes. Franziska gehörte nicht zu denjenigen, die sich keine Mühe damit gaben. Leider. Eigentlich hätte es zu ihr gepasst. Diese vergeistigten, lebensunpraktischen Akademiker, die nichts mit Technik am Hut hatten und sie in der Regel auch nicht beherrschten. Von verstehen ganz zu schweigen. Er selbst hatte es ihr dauernd vorgebetet: Du bist so sorglos! Mach irgendwas Kompliziertes beim Passwort, nichts, worauf man sofort kommt. Du würdest dich wundern, was für unsichere Passwörter sich die meisten Leute aussuchen. – Warum hatte Franziska ausgerechnet in diesem Fall auf ihn gehört? Das tat sie doch sonst auch nicht. In dieser Hinsicht war sie ganz anders als ihre Mutter. Franziskas Mutter gab ihrem Vater ständig und in allem recht und fügte sich. Sie bekam den Mund nicht auf, saß immer nur da und schaute die anderen dankbar an, wollte es ihnen recht machen.
Bei der Diskussion über die Passwörter hatte Franziska zuerst gelacht. Ob er denn glaube, jemand wolle sie bestehlen. Und was man bei ihr stehlen solle. Notizen? Literaturlisten? Exzerpte? Das Passwort hatte nichts mit ihm zu tun, so weit war Johannes bereits gekommen. Er hatte alles überprüft. Seinen Namen. Seinen Vor- und Nachnamen, beides in unzähligen Varianten. Seinen Geburtstag. Kombinationen aus seinem Namen und seinem Geburtstag und das wiederum in Varianten. Das Datum ihres Kennenlernens. Alles ohne Erfolg. Ihr Passwort hatte nicht das Geringste mit ihm zu tun, und das kränkte Johannes.
Im Übrigen war sie neuerdings sowieso meistens zu Hause. Keine Chance, sich in Ruhe an ihren Rechner zu setzen. Franziska hatte beschlossen, nach dem Studium auch noch zu promovieren, und mit ihrer Doktorarbeit begonnen. War das denn wirklich nötig? War die Welt nicht schon voller Dissertationen, für die sich kein Mensch interessierte? Und die die Welt nicht brauchte? Und es bedeutete, dass sie ewig weiterstudierte. Falls Franziska dem Ganzen überhaupt gewachsen war. Johannes war sich hierbei nicht so sicher. Sie hatte eine Assistentenstelle in Aussicht, was sie ihm erst neulich gesagt hatte, und würde künftig dauernd in ihrem Institut sein. Andererseits, wenn sie dauernd im Institut war, ergab sich öfter die Gelegenheit, auf ihrem Rechner zu stöbern – hätte sie sich seit einiger Zeit nicht angewöhnt, ihn mitzunehmen. »Warum schleppst du denn das alte Ding mit?«, fragte er gereizt. – »Weil meine ganze Arbeit auf dem alten Ding ist.« – Er hatte ihr ein Tablet geschenkt und fand das sehr großzügig, aber sie nutzte es so gut wie nie. Rausgeworfenes Geld.
Schon in der Schulzeit hatte Johannes kein Glück in der Liebe gehabt. Erste Freundin mit achtzehn, reichlich spät, weshalb ihn viele lange für schwul gehalten hatten. Später dann, im Studium, prahlten seine Kommilitonen mit ihren Affären. Für Johannes war das nichts. Er wollte etwas Festes, etwas von Bestand, schon immer. Er konnte es auch nicht leiden, wie abfällig sie über Frauen sprachen, zumindest, wenn keine Frau dabei war. So einer war Johannes nicht. Und dann war er Franziska begegnet. Attraktiv. Klug. Keine, die nur über Kleidung redete oder was Frauen sonst noch beschäftigte. Sie hatte etwas Mitreißendes. Auch wenn ihn die Gesellschaft, ihr Lieblingsthema, oder irgendwelche Theoretiker, die er nur dem Namen nach kannte, wenn überhaupt, nicht besonders interessierten. Ihn interessierten Computer. Schon immer. Und ein schönes Leben.
Ihren Entschluss zu promovieren hatte Franziska ihm erst sehr spät mitgeteilt. Besprach man so etwas in einer Partnerschaft nicht gemeinsam? Mit diesem Sebastian hatte sie bestimmt viel früher darüber geredet. Alle waren im Bilde, wahrscheinlich schon seit Monaten, nur er nicht. Johannes erfuhr es als Letzter. Warum Franziska das Thema nicht angesprochen hatte, lag auf der Hand: Sie hatte sich längst entschieden und wollte keine Gegenargumente hören.
Johannes hatte kürzlich die Stelle als Entwickler in einer kleinen Softwarefirma in Billerbeck angenommen, rund zwanzig Kilometer von Münster entfernt. Er verdiente jetzt unverschämt viel Geld mit dem, was er sowieso am liebsten tat. Alles in seinem Leben ging in die richtige Richtung. Franziska. Der neue Job. Und ausgerechnet jetzt kam sie mit der Doktorarbeit. Vermutlich würde das Jahre dauern. Und ihr ständiges Gejammer, sie brauche unbedingt ein Arbeitszimmer. Sie quengelte wie ein kleines Kind, ich will ein Eis, ich will ein Eis, ich will aber! Johannes fand ihre kleine Wohnung in der Stadt ja ganz gemütlich, wenn auch etwas beengt. Und wäre statt eines Arbeits- nicht eher ein Kinderzimmer angebracht? Das konnte er sich gut vorstellen.
Seine Ex-Freundin hatte ihn schmählich verlassen. Johannes wurde das Gefühl nicht los – bis heute, obwohl es jetzt doch Franziska in seinem Leben gab und er gar nicht mehr daran denken sollte, aber es nagte noch immer in ihm –, dass er es hätte verhindern können, wenn er mehr auf sie geachtet hätte. Ein solcher Fehler würde ihm kein zweites Mal passieren. Seine Ex-Freundin hatte sich von ihm entfernt, ohne dass er etwas davon mitbekommen hatte. Eines Tages sagte sie aus heiterem Himmel: Hör mal, ich habe einen anderen kennengelernt. Tut mir leid. Aber es lief ja sowieso nicht mehr so gut zwischen uns, das siehst du doch genauso? – Nein, so hatte er es nicht gesehen, ganz und gar nicht. Immerhin hatte sie es ihm persönlich gesagt, statt bloß eine SMS zu schicken. Er stand da wie ein Idiot. Etwas später dann, nach vielen elenden, alkoholisierten Wochen, er hatte seine Ex permanent angerufen und nachts vor ihrer Tür gestanden, bis sie mit der Polizei drohte, als er wieder unter Menschen ging und sich eine Zukunft vorstellen konnte, nahm er sich vor, dass ihm das nicht noch einmal passieren würde.
Franziska jedenfalls würde er nicht auf diese Weise verlieren. Und das mit der Doktorarbeit würde er ihr auch noch ausreden. Johannes gestaltete ihr gemeinsames Leben im Kopf, wie ein Architekt. Er, er allein, wusste am besten, was gut für sie war. Erst musste er ihr das Arbeitszimmer ausreden. Und dann die nutzlose Dissertation.