Im Januar standen Koffer und Reisetasche immer noch genauso im schmalen Flur, wie Franziska sie vergangenen November nach Inbesitznahme der Wohnung dort abgestellt hatte. Das sah, wenn sie darüber nachdachte, unendlich traurig aus. Längst machte sie automatisch diesen kleinen eingeübten Bogen, wenn sie an den Hindernissen vorbeigehen musste. Sie konnte sich nicht dazu durchringen, die Gepäckstücke wegzuräumen. Wohin auch in dieser kleinen Wohnung?
Seit über zwei Monaten lebte Franziska aus dem Koffer. Sie hatte sich einen wackeligen Kleiderständer gekauft, um wenigstens ein paar Blusen und die einzigen Jacken, die sie mitgenommen hatte, aufhängen zu können, und ein preiswertes Bügeleisen gekauft. Ordentlich aussehen. Nicht auffallen. Gebügelt wurde auf dem Tisch in der Küche. Die wenigen Teller, Gläser und Tassen und das Besteck hatte sie in die Schränke in der Küche geräumt. Weiter war sie in ihrer Einrichtung nicht gekommen. Und weiter würde sie auch nicht mehr kommen.
Sie hätte es natürlich noch viel schlimmer treffen können. Souterrain. Aber trotzdem, es war schlimm genug. Wie die Wohnung, in der sie sich verkroch, wirklich aussah, hatte Franziska in den ersten Wochen gar nicht realisiert. Als wäre sie tagaus, tagein durch dichten Nebel getappt. Die Erleichterung und auch das Erstaunen darüber, wie einfach es gewesen war, eine Wohnung unter falschem Namen zu mieten, hatte sie zusätzlich betäubt. Nachdem sie zwei Fünfzig-Euro-Scheine über den Schreibtisch des Hausverwalters geschoben hatte, war er sehr zuvorkommend gewesen.
In dieser Zwischenwelt, der Nebelzwischenwelt, hatte Franziska die notwendigsten Dinge gekauft, sich bemüht, jeden Tag etwas zu essen und nachts zu schlafen – beides gelang ihr nicht immer –, war froh gewesen, eine Dusche, eine Heizung und ein Bett zu haben. Sie hatte sich mit U-Bahn-Fahrten die Zeit vertrieben und mit dem Besuch einmal pro Woche auf der Museumsinsel. Die Museumsinsel war der Fixpunkt ihrer Woche. Ihr einziger. Und dann war Frau Mangold in ihr Leben getreten.
Die Wohnung im Seitenflügel war auch am Tag dämmerig. Vielleicht änderte sich das im Frühling, obwohl Franziska es sich nicht vorstellen konnte. Frühling. Wäre sie dann immer noch hier? Und im Sommer? Sie dachte jetzt nicht weiter als bis morgen. Oder bis maximal nächste Woche. Neulich hatte sie von ihrem Küchenfenster einen Hausbewohner bei den Mülltonnen gesehen, dem sie noch nie begegnet war. Er inspizierte die Flaschen im Altglascontainer. Statt nach Pfandflaschen zu suchen, wie sie erwartete, griff er nacheinander alle Weinflaschen heraus, überprüfte sie und trank, falls vorhanden, die verbliebenen Reste aus. Um zehn Uhr morgens. Wo war sie hier gelandet?
Von den Holzfenstern ihrer Wohnung blätterte der Lack ab. Der Anstrich der Decken und Wände war vergilbt, was man aufgrund der Lichtverhältnisse allerdings nicht allzu deutlich sah. Die rissigen, abgewetzten Dielen hätte man längst abschleifen müssen. Das würde Franziska natürlich nicht tun. Sie würde gar nichts in dieser Behausung renovieren. Im Flur, dort, wo Koffer und Reisetasche standen, waren die Dielen an einer Stelle bedenklich tief eingesackt, eine sich nach innen wölbende Beule, sodass Franziska sich manchmal fragte, ob sie eines Tages durchbrechen und im Keller landen würde. In der ehemaligen Speisekammer neben der Küche, so eng, dass Franziska sich darin kaum umdrehen konnte, war eine Dusche eingebaut worden. Das musste schon Jahrzehnte zurückliegen. Ein Witzbold oder ein Dilettant hatte die Farben an den Wasserhähnen vertauscht, aus Rot strömte Kalt und aus Blau Warm. Die Fliesen waren rosa und fast vollständig mit Kalk überzogen. Seit Weihnachten hatte Franziska nicht mehr versucht, ihn zu entfernen, weil es aussichtslos war. Wie eine wuchernde Pflanze wuchs der Kalk an Fliesen und Duscharmaturen. Etliche Fliesen waren gebrochen. Der Fugenfüller war an vielen Stellen herausgefallen und mit Silikon notdürftig geflickt worden. Auch durch Lüften war der unterschwellige Gestank in der Wohnung nicht zu vertreiben und ließ nicht etwa nach, sondern nahm eher zu. Lüften konnte sie die Wohnung ohnehin nicht, weil alle Fenster zur selben Seite lagen. Wahrscheinlich dünsteten die Matratze und das durchgesessene Sofa und die billigen Küchenmöbel und sogar die Wände diesen Geruch aus. Immer, wenn es ihr besonders auffiel, versuchte Franziska, sich ihr ehemaliges Institut ins Gedächtnis zu rufen und wie es dort roch. Noch vor wenigen Monaten hätte sie sich nicht vorstellen können, unter solchen Umständen zu leben. Eine Welt ohne Schönheit. Ohne die Weite des Blicks wie im Münsterland, ohne das Vergnügen daran, ihren Kopf zu benutzen. Außer dazu, über die Ortung von Handys nachzudenken und wie man existieren konnte, ohne Spuren zu hinterlassen.
Am Freitag klingelte sie in Dahlem zuerst wieder, bevor sie mit ihrem Schlüssel die Haustür öffnete. Frau Mangold war nicht da, und Franziska war sicher, sie heute auch nicht anzutreffen. Frau Mangold vertraute ihr und verzichtete darauf, sie zu kontrollieren.
Wie beim ersten Mal zog Franziska sich im Bad um. Sie arbeitete zügig, hörte keine Musik. Sie war noch gründlicher als am Dienstag – einen guten Eindruck machen! – und verstand plötzlich Frau Mangolds Ärger über ihre Vorgängerinnen. Es war nicht so sauber wie zuerst gedacht. Der Staubansammlung nach zu urteilen war in manchen Ecken der Wohnung, natürlich den schwer zugänglichen, seit vielen Monaten nicht mehr geputzt worden, wenn nicht seit Jahren. Der Vorspann der ersten Star-Trek-Folgen aus den Sechzigern kam Franziska in den Sinn: Viele Lichtjahre von der Erde entfernt, dringt die Enterprise in Galaxien vor, die nie ein Mensch zuvor gesehen hat.
Gegen drei, Franziska schaltete gerade den Staubsauger im Wohnzimmer aus – sie hatte keine einzige Pause gemacht –, ging der Schlüssel im Schloss. Frau Mangold. Damit hatte Franziska nicht gerechnet. Und Frau Mangold war nicht allein, denn kurz darauf hörte Franziska, wie sie sich mit jemandem angeregt und bester Laune unterhielt. Gelächter. Eine andere Frau. Franziska wurde panisch, obwohl es dafür genau genommen gar keinen Grund gab. Der späte Termin heute hatte sie irritiert. Natürlich war ihr die Uhrzeit egal, weil sie sowieso nichts anderes zu tun hatte, aber sie hatte sich gewundert, dass Frau Mangold sie nicht für neun Uhr bestellt hatte wie am Dienstag. Dann wäre sie jetzt nicht mehr hier, sondern säße längst in ihrem Hinterhofloch. Das war zwar nicht verlockend, aber immer noch besser, als mit irgendwelchen Freundinnen oder Nachbarinnen oder Kolleginnen oder wen auch immer sie anschleppte konfrontiert zu werden. Zwei Personen waren doppelt so viele, die Franziska potenziell ausfragen konnten. Über ihre Vergangenheit. Über die Gründe, weshalb sie nach Berlin gekommen war. Was sie denn bisher gearbeitet hatte, doch sicher nicht immer geputzt? Man musste verdammt gut lügen können, um so zu leben wie sie, und Franziska war sich nicht sicher, ob sie das wirklich auf Dauer durchhielt.
Sie schaltete den Staubsauger wieder ein, als könnte sein Lärm sie abschirmen und schützen, und saugte zum wiederholten Mal den Teppich vor dem Sofa. Frau Mangold betrat das Wohnzimmer, gefolgt von einer jüngeren Frau. Frau Mangold setzte ihr gewohntes Strahlen auf, wohingegen die andere Frau Franziska misstrauisch musterte, beinahe feindselig. Nicht dass sie irgendwelche äußerlichen Ähnlichkeiten aufgewiesen hätten, aber Franziska dämmerte, um wen es sich bei der anderen Frau handelte.
»Marie, Hallo, ich hatte Angst, dass Sie schon weg sind.«
Entweder war das gelogen, nur so dahingesagt oder Frau Mangold achtete nicht auf Uhrzeiten. Wäre Franziska schon weg, hätte sie gerade mal die Hälfte der vereinbarten Zeit gearbeitet. Frau Mangold war der Ansicht, um gründlich zu putzen, benötige sie bei der großen Wohnung vier Stunden. Zumindest in der ersten Zeit. Und für diese vier Stunden bezahlte sie sie auch. Offenbar hielt sie es doch für nötig, Franziska zu kontrollieren. Heute zusätzlich mit fremder Unterstützung.
»Ich will Sie auch gar nicht weiter stören. Aber ich stelle Sie kurz vor. Marie, das ist meine Nichte Leonie, von der ich Ihnen schon erzählt habe.«
Franziska und Leonie reichten sich die Hand. Franziska brachte ein Lächeln zustande, Leonie bemühte sich gar nicht erst darum. Franziska ging auf, wie sie sich hier darbot, in Jogginghose und kariertem Wanderhemd. Sie war die Putzfrau. Sie hatte gedacht, die soziale Herabstufung würde ihr nichts ausmachen, würde sie kaltlassen, aber dem war nicht so.
»Leonie hat mich von der Arbeit abgeholt. Das hätte ich Ihnen vielleicht sagen sollen. Wahrscheinlich haben Sie einen Schreck bekommen, entschuldigen Sie.«
»Es ist deine Wohnung«, sagte Leonie. »Du musst dich nicht entschuldigen, wenn du deine eigene Wohnung betrittst.«
»Jetzt sei doch nicht so giftig. Komm, wir lassen Marie ihre Arbeit machen und gehen ins Esszimmer.«
»Ich bin mit dem Wohnzimmer fertig«, sagte Franziska und zog den Stecker des Staubsaugers aus der Steckdose.
»Ach so, dann bleiben Leonie und ich doch gleich hier.«
Frau Mangold schob ihre Nichte in Richtung Sofa. Franziska brachte den Staubsauger zusammen mit etlichen Staubwedeln ins Gästezimmer. Bevor sie das Gerät einschaltete, hörte sie noch, wie Leonie sagte: »Was machst du denn dauernd für ein Theater um sie? Das kann man ja nicht mit ansehen, ehrlich.«
Franziska saugte lange, übertrieben lange im Gästezimmer, damit der Staubsauger Frau Mangold und vor allem ihre Nichte übertönte. Nach dem Gästezimmer nahm sie sich den Flur vor, die Gästetoilette und zum Schluss das Bad.
Frau Mangold stellte keine Gefahr mehr für sie dar. Aber ihre verdammte Nichte.
Diesmal verzichtete Franziska darauf, die Fliese unten an der Badewanne zu lösen. Was dahinter verborgen lag und ob es wirklich das war, wonach es ausgesehen hatte, interessierte sie heute nicht. Sie zog sich um, packte ihre Putzfrauenkleidung in den Rucksack und sah auf die Uhr. Die vier Stunden waren um. Am liebsten wäre sie gegangen, ohne sich zu verabschieden. Das Geld, das wie schon am Dienstag auf dem Herd gelegen hatte, hatte sie längst eingesteckt. Hoffentlich sah das nicht gierig aus.
Doch um eine Verabschiedung kam sie wohl nicht herum. Sie verließ das Bad, stellte ihren Rucksack unter die Garderobe im Flur, zog ihre Jacke an, damit kein Zweifel daran bestand, dass sie es eilig hatte, und ging ins Esszimmer, in dem Frau Mangold und Nichte inzwischen saßen.
Vor jeder stand eine Portion Sushi. Sie hoben den Kopf. Leonie hatte noch immer diesen feindseligen Ausdruck im Gesicht, selbst beim Kauen.
»Marie, sind Sie fertig?«
»Ja, alles erledigt. Ich wollte Sie nicht beim Essen stören, ich mache mich jetzt auch gleich auf den Weg.«
»Aber Sie stören doch nicht. Es ist mir eher unangenehm, dass ich gar nicht an Sie gedacht habe.« Frau Mangold zeigte auf das Essen.
»Vielleicht mag sie ja kein Sushi«, sagte Leonie.
Damit wollte sie vermutlich zum Ausdruck bringen, dass jemand wie Franziska sich ausschließlich von Currywurst und Big Macs ernährte.
»Danke, aber ich habe sowieso keinen Hunger.« Das war gelogen. Nach dem Putzen war Franziska hungrig wie ein Wolf, und am liebsten hätte sie Frau Mangold samt Nichte zur Seite gedrängt und sich knurrend über das Sushi hergemacht. »Und ich muss auch mal los. Ich habe noch einen Termin.«
»Ja, sicher, ich will Sie nicht aufhalten. Könnten Sie denn nächste Woche kommen? Vielleicht wieder am Dienstag? Das heute war ja ein bisschen außer der Reihe, aber Sie haben bestimmt selbst gesehen, wie nötig das war. Sie sind jetzt schon unentbehrlich, wissen Sie.«
Leonie verdrehte die Augen wie eine Fünfzehnjährige.
»Dienstag passt mir gut. Wieder um neun?«
»Um neun, abgemacht. Und Sie haben wirklich keine Zeit mehr? Für einen Kaffee vielleicht? Nein, Entschuldigung, ich bin viel zu aufdringlich. Soll ich Sie noch zur Tür bringen?«
»Nein, nein, essen Sie ruhig weiter. Ich bin nächsten Dienstag pünktlich um neun hier.«
Damit, dachte Franziska, war es endlich überstanden. In Gedanken war sie bereits draußen, auf dem Weg zur U-Bahn. Die Nichte hatte sie heute hoffentlich zum ersten und zugleich letzten Mal gesehen.
»Hat meine Tante eigentlich Ihre Kontaktdaten?«
Leonie sah nur kurz auf und widmete sich anschließend wieder ihrem Sushi. Aber die Frage stand jetzt im Raum. Groß. Drohend. Mächtig. Franziskas Herz hämmerte wie bei einem Spurt, und sie fing an zu schwitzen.
»Ja, meine Adresse.« Hoffentlich fiel Frau Mangold in diesem Moment nicht auf, dass sie ihr immer nur Schöneberg genannt hatte und niemals eine genaue Anschrift.
»Jetzt lass sie doch, Leonie, du siehst doch, dass sie es eilig hat. Marie und ich können diese Formalitäten auch noch nächste Woche klären.«
Hieß das, sie wäre nächsten Dienstag um neun wieder anwesend?
»Ich muss mich wirklich beeilen. Bis Dienstag!«
Franziska musste sich beherrschen, um nicht aus dem Esszimmer zu rennen. Fast erwartete sie, jeden Moment zurückgerufen zu werden. Von Leonie. Die sie nach ihrer Adresse und ihrer Telefonnummer fragte. Die sie nach allem fragte. Wer sie wirklich war und was sie hier verloren hatte. Sie griff nach ihrem Rucksack, schaffte es in der Aufregung nicht, die Riemen über die Schultern zu ziehen, und verließ die Wohnung.
Nachdem sie die Tür zugezogen hatte, war ihr schwindelig vor Erleichterung. Gerettet. Vorerst.
Leonie hatte ja recht. Frau Mangold hätte Franziska nicht einmal Bescheid geben können, wenn sie einen Termin verschieben wollte, weil sie schlicht keine Telefonnummer von ihr hatte, keine E-Mail-Adresse, nichts. Hatte sie nicht neulich auch selbst gesagt: »Ich kann Sie ja gar nicht erreichen, Marie«? Oder hatte Franziska das bloß geträumt?
Erst in der U-Bahn beruhigte sich ihr Herzschlag wieder, und sie hörte auf zu schwitzen. Trotz der Panik in Frau Mangolds Wohnung – normalerweise schlug ihr das auf den Appetit – plagte Franziska inzwischen bohrender Hunger. Unterwegs kaufte sie ein. Der alte Gasherd zu Hause war ekelhaft, und sie hatte ihn nie richtig sauber bekommen, aber das war ihr jetzt egal, sie freute sich auf ein Essen in der Abgeschiedenheit ihrer Wohnung voller Schimmel und Kalk, sie sehnte ihr Parterreloch geradezu herbei. Hoffentlich blieb der Nichte das verdammte Sushi im Hals stecken und sie erstickte daran. Die Einkäufe stopfte sie zu ihrer Putzfrauenkleidung in den Rucksack. Zur Feier des Tages, weil sie der misstrauischen Nichte unbeschadet entronnen, weil sie immer noch nicht aufgeflogen war, kaufte Franziska auch eine Flasche Wein. Keinen Barolo wie im Hause Mangold, sondern einen Merlot für 3.49 Euro.
Sie wusste nicht, was sie morgen tun würde und übermorgen, sie wusste nicht, wie ihr Leben, falls man es überhaupt noch so nennen konnte, weitergehen würde, aber sie freute sich auf das Essen. Vielleicht reduzierte sie sich jetzt immer weiter und weiter. Bald dächte sie nicht einmal mehr an morgen – geschweige denn an die kommende Woche –, sondern nur noch an die nächsten Stunden. Am Wochenende würde sie ganz sicher nicht zur Museumsinsel fahren, zu groß war die Gefahr, Frau Mangold zufällig zu treffen. Vielleicht begleitete Leonie sie ja auch manchmal dorthin. Sie konnte Frau Mangold nicht dauerhaft eine Telefonnummer vorenthalten. Wenigstens eine Telefonnummer, wenn schon keine Adresse. Die alberne und zudem unnötige Lüge, sie wohne in Schöneberg, hatte sie zu lange aufrechterhalten, um jetzt noch die Wahrheit sagen zu können.
Am U-Bahnhof Neukölln sah Franziska inmitten des Gewühls das verwahrloste Mädchen. Erst Frau Mangolds Nichte und jetzt schon wieder diese Göre. Sie musste hier irgendwo in der Gegend wohnen. Wenn sie andere Kleidung getragen hätte und vor allem zwanzig Jahre älter gewesen wäre, hätte Franziska geglaubt, sie verfolge sie. Weil er sie schon längst aufgespürt hatte. Trotz ihrer Vorsicht in den letzten Wochen.
Sie war nur ein Teenager. Ein verhaltensauffälliger zwar, aber trotzdem nur ein Teenager. Franziska beschloss, sie nicht zu beachten, sie künftig nie mehr zu beachten, selbst dann nicht, wenn sie sie mehrmals am Tag treffen sollte. Sie stellte sich das Essen und den Wein vor. In den letzten drei Monaten hatte sie fast keinen Alkohol getrunken, was erklärte, warum ihr der Barolo bei Frau Mangold letzte Woche so zu Kopf gestiegen war. Bei ihrer bescheidenen Kücheneinrichtung hatte sie es nicht für nötig befunden, billige Weingläser zu kaufen. In ihrem Parterreloch spielte es keine Rolle, Merlot für 3.49 Euro nicht stilvoll zu trinken, zumal sie ja auch keinen Besuch erwartete. Sie würde dort niemals Besuch empfangen.
In Gedanken verloren setzte sie einen Fuß vor den anderen, ohne näher auf ihre Umgebung zu achten, vielleicht sollte sie doch wieder joggen gehen, sie vermisste das Laufen, Radtouren im Münsterland, physische, mehr aber noch geistige Verausgabung. Das Mädchen hatte sie bereits vergessen, als es ihr plötzlich auf dem Gehweg entgegenkam. Sie war es, kein Zweifel. Wieso kam sie aus der anderen Richtung? Wie war das möglich? Vorhin war sie doch noch am U-Bahnhof gewesen. Franziska stellte sich auf ein erneutes diabolisches Grinsen ein. Arglos spielte sie sogar mit dem Gedanken, Hallo zu sagen, schließlich kannten sie sich ja irgendwie.
Sie blieb so lange arglos, bis das Mädchen sie in einen unbeleuchteten Hauseingang stieß. Die Attacke kam so überraschend und schnell, dass Franziska das Gleichgewicht verlor und auf dem Boden landete. Genau auf den Resten einer zerbrochenen Bierflasche.
Im ersten Moment tat es gar nicht weh, und aus diesem Grund fragte Franziska sich, ob das gerade wirklich passiert war. Dann spürte sie klebriges Blut auf ihrer Handfläche. Sie hatte es noch nicht richtig begriffen, ihr Verstand, sonst doch so scharf, hinkte hinterher, aber etwas, vielleicht ein Urinstinkt, riet ihr, sofort aufzustehen. Der schwere Rucksack mit den Einkäufen behinderte sie. Sie versuchte, sich aufzustützen, und ein höllischer Schmerz schoss in ihre Hand.
Sie drehte den Kopf. Gerade noch rechtzeitig, um den schwarzen Stiefel auf sich zukommen zu sehen. Das Leder an der Spitze war abgewetzt. Dieses kleine Detail sah sie trotz des schlechten Lichts ganz deutlich, bevor der Stiefel sie in die Seite traf, so fest, dass ihr die Luft wegblieb.
Für einen Augenblick befand sie sich nicht mehr in einem schmutzigen Neuköllner Hauseingang. Für einen Augenblick lag sie auf den sauberen Fliesen in der Küche des Hauses in Senden. Kein Wunder, dass sie sauber waren, sie hatte sie selbst mit dem Schrubber gewischt. Schachbrettmuster, darauf hatte Johannes bestanden. Schwarz und weiß. Blut auf einem der weißen Fliesenquadrate. Im Hintergrund lief Bach. Wie unpassend. Der Schmerz bahnte sich seinen Weg aus ihrem Mund, gequälte Wimmerlaute. Das klang gar nicht so wie sie. Das klang ganz fremd. Was waren das für schwarze Stiefel? Johannes trug keine Stiefel. Schon gar keine abgewetzten. Und dann dachte sie: Das passiert mir jetzt nicht wirklich. Ich habe doch nicht alles aufgegeben, was mir von Bedeutung ist, mein ganzes Leben zurückgelassen, meinen Beruf, meine Karriere, bin in diese verfluchte Stadt gekommen, um in einem finsteren Hauseingang von einer durchgedrehten Jugendlichen zusammengetreten zu werden. Nur rund fünfhundert Meter weiter und Franziska wäre in ihre Höhle geschlüpft. In Sicherheit. Um Hilfe rufen, dachte sie auch noch, ich muss mich bemerkbar machen.
Und dann? Wenn sie um Hilfe rief und Glück hätte, weil irgendwer, dem nicht gleichgültig war, was draußen vor sich ging, die Polizei holte? Und wenn die Polizei dann käme und sie ihre Personalien nennen müsste, um die gestörte Göre anzuzeigen? Die Polizisten würden schnell feststellen, dass sie offiziell gar nicht dort wohnte, wo sie untergekrochen war, und dass mit ihr etwas nicht stimmte.
Sie sah zu dem Mädchen auf. Ein Reflex ließ sie den Kopf mit dem Arm schützen, falls der Stiefel ein weiteres Mal zutrat. Doch die Stiefel bewegten sich nicht, das Mädchen stand ganz ruhig da. Sie hielt etwas in der Hand. Dass es sich um ein Springmesser handelte, erkannte Franziska erst, als das Mädchen den Mechanismus auslöste und die Klinge herausschoss.