Eines Mittags nach der Schule – von der letzten Unterrichtsstunde hatte sie sich großzügig selbst befreit – lungerte Sina ein wenig am Kottbusser Tor und in der Oranienstraße herum, weil sie noch nicht nach Hause wollte. Die üblichen Junkies und die schlimm Verlorenen waren wie immer zugegen und eine Menge Touristen, die sich das Ganze gern ansahen, die es mochten, sich wie ein Teil davon zu fühlen, sich in Wahrheit aber gruselten und froh waren, dass sie bald wieder zurück in ihre geordnete, langweilige Welt fuhren. Manchmal, nein, oft, wäre Sina auch gern in eine saubere, aufgeräumte Welt gefahren. Der englisch sprechende Typ von der Silvesterparty lief ihr zufällig an einem Döner-Imbiss über den Weg. Sie hatte seit Silvester nicht mehr an ihn gedacht und erkannte ihn zuerst nicht, kein Wunder, sie hatte ihn ja auch noch nie im Hellen gesehen. Und nüchtern auch nicht. Berlin war so klein, Sina traf andauernd irgendwo jemanden. Er umarmte sie, als würden sie sich gut kennen, und Sina spielte mit. Vielleicht würde sie ihn noch brauchen. Wozu auch immer. Sie war ohnehin lieber mit Älteren zusammen als mit den Kleinkindern aus ihrer Klasse. Mittags verstand sie sein Englisch plötzlich besser als in der Silvesternacht bei Bier und Rum. Also hatte sie doch irgendwas in der Schule gelernt. Er lud sie ein, ihn zu einer Party zu begleiten.
Die Party fand ein paar Tage später statt, in einer ähnlich heruntergekommenen Wohnung wie der in der Skalitzer Straße. Der englisch sprechende Typ wich Sina die ganze Zeit nicht von der Seite, was ihr zuerst schmeichelte und sie bald nervte. Um ihn loszuwerden, fing sie ein Gespräch mit einem anderen namens Bert an. Er gefiel ihr wesentlich besser als der Engländer. Außerdem kam er an alle möglichen Dinge heran, behauptete er. Messer? Ja, auch Messer, er hatte sogar eins dabei. Sina knutschte eine Weile mit ihm herum. Im Leben gab es schließlich nichts umsonst.
Bevor sie später am Abend ging, steckte Bert ihr wie versprochen das zweiseitig geschliffene Springmesser zu. Es hatte einen hübschen roten Griff.
»Mach aber keinen Mist damit, okay?«
»Klar.«
Was sollte man mit einem solchen Messer anderes anstellen als Mist? Figuren schnitzen? Gemüse schneiden? Gemüse gab es zu Hause sowieso nur, wenn Sina sich selbst darum kümmerte. Manchmal kochte ihre Mutter tiefgefrorenen Spinat und schaffte es dabei jedes Mal, die Spiegeleier anbrennen zu lassen. Aber das mit dem tiefgekühlten Spinat war sowieso eine Weile her, bestimmt schon ein Jahr.
Im Sommer wäre das vermutlich gar nicht passiert. Jedenfalls nicht so. Es wäre hell und warm gewesen und die Straßen belebter. Und mit Flipflops wäre Sina wohl kaum auf die Idee gekommen, so fest zuzutreten. Überhaupt zu treten. Im Grunde war die verdammte verlorene Frau also selbst daran schuld. Sie konnte ihr ganz schön viel Ärger machen. Das musste Sina unter allen Umständen verhindern – wenn es sein musste, auch dadurch, dass sie sich entschuldigte, bäh, kotz.
Die Frau lag zusammengekrümmt am Boden. Sie sah aus wie ein Tier, das gleich stirbt. Gruselig. Der Tritt war vielleicht ein bisschen zu fest gewesen. Langeweile oder Wut, eins davon hatte zugetreten. Sina wollte wegrennen. Wenn sie wegrannte, nach Hause zu Bobby, konnte sie so tun, als wäre das alles gar nicht passiert. Bobby würde sich wie immer freuen, wenn sie kam, so übertrieben, als hätte er Sina seit Jahren nicht mehr gesehen. Ihr Leben würde ganz normal weitergehen, und diesen kleinen Zwischenfall im dunklen Hauseingang hätte es nie gegeben. Doch so lief das nicht, das wusste sie, nicht in ihrem Alter. Sie war eine Jugendliche mit Verantwortungsreife. Sie würde die ganze Zeit daran denken müssen. Daran, ob die Frau sie anzeigte. Ob man durch irgendwelche Umstände auf sie kommen würde. Vielleicht hatte doch jemand zugesehen, ein Zeuge, obwohl Sina ringsherum niemanden entdeckte. Aber es gab ja immer welche, die den ganzen Tag nichts Besseres zu tun hatten, als aus dem Fenster zu starren. Sie war jetzt auch viel zu nervös, um darauf zu achten. Sie würde mächtig Ärger kriegen. Viel mehr als letztes Jahr in der Schule, als sie Annabelle, diese verschissene Bitch, so fest geschubst hatte, dass sie gestürzt war und sich dabei den Unterarm gebrochen hatte. Ob die Frau – und das war die andere Möglichkeit – vielleicht abkratzte, innere Blutungen und so, was Sina hätte verhindern können. Sina musste Hilfe holen. 110. Oder 112? Verdammt, was machte man da? Vielleicht musste die Frau ja wirklich schnell in ein Krankenhaus. Aber wenn Sina jetzt Hilfe holte, wäre natürlich bald klar, dass sie für das Ganze verantwortlich war. Spätestens dann, wenn es der Frau wieder besser ging und sie eine Aussage machte. Das konnte Sina wirklich nicht gebrauchen. Ladendiebstahl, mehrfach, der drohende Schulverweis wegen Annabelles Unterarm und jetzt das. Musste sie also dafür sorgen, dass es der Frau garantiert nicht wieder besser ging?
Das Interesse daran, sie auszurauben, hatte Sina längst verloren. Bloß weg von hier. Schnell. Sie wusste nicht, ob sie es tatsächlich wagen würde, erneut zuzutreten oder gar das Springmesser zu benutzen. Wie sich das wohl anfühlte, Messer ins Fleisch? Wahrscheinlich ein bisschen eklig. In lebendiges Fleisch, nicht in ein totes Huhn, das bleich und kalt auf der Arbeitsfläche lag. Wann hatte es zu Hause das letzte Mal Huhn gegeben? Musste schon ewig her sein. Ihre Mutter hatte die Geflügelschere auf die Arbeitsplatte geworfen und zu Sina gesagt: »Mach du das mal, mir ist das gerade zu viel.« Erst müsste sie sich sowieso durch etliche Schichten Stoff arbeiten. Sina hielt das Messer immer noch in der Hand, war versucht, es einfach in den Hauseingang neben die Scherben der Bierflasche zu werfen, aber im nächsten Moment hielt sie das für keine gute Idee. Fingerabdrücke und so. Kannte man ja. Sie ließ die Klinge verschwinden und schob das Messer in ihre Jackentasche.
Das hier war groß und beängstigend, viel ernster als Annabelles Unterarm. Was hatte Sina sich bloß dabei gedacht? Aber es war ja nicht sie selbst gewesen, sondern die Jahreszeit. Die Langeweile. Die Wut. Die Frau am Boden gab widerliche Geräusche von sich. Kratzte sie jetzt ab? Wenn Sina ihr schon nicht half, musste sie sich doch zumindest vergewissern, dass mit ihr alles in Ordnung war. Im weitesten Sinne in Ordnung. Noch war Zeit, einfach abzuhauen. Sie könnte anonym 110 anrufen. Mit unterdrückter Nummer. Und dann zusehen, dass sie wegkam. Bestimmt gab es keine Zeugen. Sie war im Augenblick viel zu panisch, um einen klaren und vernünftigen Gedanken zu fassen. Zu Hause würde Bobby vor Freude quietschen, dass sie endlich da war, und Sina die verlorene Frau vergessen. Sie würde heute sogar ihre Mutter aushalten, sie gern haben, o mein Gott!, zumindest vorübergehend, solange sie dafür die Frau vergessen konnte.
Die Frau wimmerte jetzt und hielt sich die Seite. Sina wollte woanders hinsehen, konnte aber ihren Blick nicht abwenden. Einerseits drängte alles in ihr danach wegzurennen, andererseits war sie unfähig, sich zu rühren, als wäre sie am Pflaster festgeklebt. Was hielt sie hier? Eine Art Schocklähmung. Oder etwas wie ein Gewissen, womit möglicherweise auch Sina ausgestattet war.
Die Frau drehte sich stöhnend um. Das dauerte ewig. Immerhin konnte sie sich noch bewegen, lebte also noch. Anschließend setzte sie sich schwerfällig auf und streifte ihren Rucksack ab, der auf den Boden plumpste.
»Los, hilf mir mal.« Sie deutete auf den Rucksack. Sina sollte ihn offenbar aufheben. Ganz schön schwer. Die Frau fummelte ein Taschentuch hervor und drückte es auf ihre blutende Handfläche. An der Verletzung an der Hand war nicht Sina schuld, sondern die Bierflasche, um das mal festzuhalten. Sina hielt den schweren Rucksack in der Hand und hatte keinen Schimmer, was als Nächstes passieren würde. Ganz sicher nichts Angenehmes.
Die Frau stand auf, das Taschentuch noch immer auf ihre Hand gepresst.
»Bist du allein?«
»Was?«
»Los, sag schon, wo sind die anderen?«
»Was? Welche anderen?«
In dem Moment, als sie es aussprach, wurde Sina bewusst, dass sie einen Fehler gemacht hatte. Einen gravierenden. Die anderen, natürlich! Sie hätte die Frau in dem Glauben lassen sollen, dass an der nächsten Ecke eine finstere Neuköllner Gang wartete und dass alle von ihnen auf ihr Kommando hörten. Die Frau hatte es ihr doch selbst angeboten, wie auf dem Silbertablett. Verdammt! Warum hatte sie nicht besser nachgedacht? Sina, denk vorher nach, du musst erst nachdenken, bevor du etwas tust, das waren auch die Worte der ach so wohlmeinenden Lehrer.
»Keine anderen also. Gut. Dann kommst du jetzt mit«, sagte die Frau in einer Strenge, die Sina ihr nicht zugetraut hätte. Sie gehorchte. Sie gehorchte nie, warum dann jetzt? Wahrscheinlich wollte die Frau mit ihr direkt zur Polizei. Aber sie gingen nicht zur Polizei, die war irgendwo in der Rollbergstraße, sondern nur ein paar hundert Meter weiter. Sie sprachen die ganze Zeit nicht, kein einziges Wort. Was hätte Sina auch sagen sollen? Entschuldigung, tut mir leid, war nicht so gemeint? War ja so gemeint. Die Frau schloss eine Haustür auf und schob Sina vor sich her nach innen. Sina ließ alles bereitwillig mit sich geschehen.
Sie durchquerten einen Hausflur und gingen weiter bis in den Hof. Die Frau hielt Sina mit der nicht verletzten Hand am Ärmel fest. Es wäre sicher leicht gewesen, sich loszumachen, ihr den Rucksack vor die Füße zu werfen und wegzurennen, aber dafür hatte sie inzwischen die Energie verloren.
Gleich unten im Parterre des Seitenflügels schloss die Frau eine Wohnungstür auf. Sie betätigte den Lichtschalter im Inneren und bedeutete Sina einzutreten.
Im Flur an der Decke hing eine nackte Glühbirne, die so schwach war, dass Sina kaum etwas erkennen konnte. Die Frau nahm ihr den Rucksack aus der Hand, ging in die Küche und räumte dort eine Weile herum. Sina blieb einfach stehen und sah auf den Dielenboden. Sie war in letzter Zeit oft in solchen Wohnungen gewesen, Erdgeschoss, finster, abgewetzte Dielen, aber hier war es ganz anders, obwohl sie nicht wusste, was und warum. Die Kühlschranktür wurde geöffnet und wieder geschlossen. Rascheln. Dann kam die Frau zurück in den Flur, beachtete Sina gar nicht, als wäre sie ein Garderobenständer, was leichte Wut in ihr hervorrief – wieso tut sie so, als wäre ich nicht hier? –, und verschwand in einem schmalen Raum, vermutlich das Badezimmer. Sina hätte jetzt gehen können. Diese Chance hatte sie in der letzten halben Stunde so oft verstreichen lassen, dass sie es gar nicht mehr zählen konnte. Was hielt sie hier? Neugier, was als Nächstes geschehen würde? Würde die Frau jetzt immer noch mit ihr zur Polizei gehen, nachdem sie sie mit zu sich nach Hause genommen hatte? Unwahrscheinlich. Sie verhielt sich anders, als Sina es von Erwachsenen gewohnt war. Sie war seltsam. Total seltsam. Mit dieser Tante stimmte was nicht. Im Badezimmer rauschte Wasser. Kurz darauf trat die Frau mit frisch verbundener Hand wieder in den Flur. Käme jetzt eine Standpauke? Vielleicht war sie ja so eine Sozialtussi, die ihr gleich Vorträge über Gewalt hielt, die glaubte, sie zu einem guten Menschen erziehen zu müssen. Oder noch schlimmer, etwas Christliches, Zeugen Jehovas oder so was. Trugen die teure Kleidung? Wer oder was immer die Frau war, sie verhielt sich angesichts dessen, was vorgefallen war, eigenartig, und Sina bekam es allmählich mit der Angst zu tun. Es sollte doch umgekehrt sein, die Frau sollte Angst vor ihr haben.
Die Wohnung war sehr klein, außer Küche und Bad gab es nur ein einziges Zimmer, soweit Sina es überblickte. Die Frau sagte, sie könne ruhig ihre Jacke ausziehen. Sie klang eigentlich recht freundlich, was Sina noch misstrauischer machte. Die Frau hatte keinen Grund, freundlich zu ihr zu sein. Sie hätte ihr die Hölle heiß machen müssen. Aber vielleicht war das bloß eine Falle. Sina legte ihre Jacke über einen Koffer, der im engen Flur neben einer Reisetasche herumstand, als wollte die Frau morgen verreisen oder als wäre sie gerade erst angekommen. Sie wusste nicht, was sie erwartet hatte. Ob sie überhaupt etwas erwartet hatte. Bislang war sie ja nicht davon ausgegangen, jemals die Wohnung der verlorenen Frau zu sehen.
Sina hatte die Frau von Anfang an seltsam gefunden, und dieses Gefühl verstärkte sich in ihrer Wohnung zusehends. Zumal sie kaum etwas sagte, sondern Sina weiterhin wie ein Möbelstück behandelte. Sie hätte nicht mitkommen dürfen. Natürlich hätte sie nicht mitkommen dürfen. War sie total bescheuert? Aber das komplette Misslingen der Messeraktion – und vor allem der Tritt – hatte sie dazu gebracht. Als wäre sie der verlorenen Frau etwas schuldig.
Vielleicht war Sina bei einer vollkommen Verrückten gelandet. Die sie gleich überwältigen und dann in kleine Stücke hacken würde. Sie versuchte einzuschätzen, wer von ihnen beiden die Stärkere war. Die Frau war ein Stück größer als sie und natürlich älter, und sie sah recht durchtrainiert aus, zumindest nicht so schlaff wie ihre Mutter. Aber mit ihrer verbundenen Hand, die sicher wehtat, war sie gehandicapt.
Die Frau schob Sina etwas unwirsch in das einzige Zimmer und fragte: »Willst du ein Glas Wein? Ich will jetzt eins. Cola oder was ihr sonst so trinkt, habe ich nicht.« Sie wartete keine Antwort ab, sondern verschwand in der Küche. Sina sah sich in dem Zimmer um. Bett, Tisch, Sofa. Nichts Persönliches. Weiße, kahle Wände. Kein Bild, kein Foto, gar nichts. Für eine Erwachsene mit so guter Kleidung wohnte sie total abgefahren. Eigentlich besaß sie nichts. Oder nur sehr wenig. Kein teures Sofa, nicht mal einen großen Flachbildfernseher. Die Möbel sahen allesamt gebraucht aus, sogar drei- oder vierfach gebraucht. Die Frau kam mit einer Flasche Wein und zwei Gläsern zurück. Keine Wein-, sondern Wassergläser.
»Eigentlich bist du dafür wahrscheinlich noch zu jung.«
»Ich bin sechzehn«, sagte Sina. »Also fast.«
»Fast sechzehn. Aha. Na ja, ein kleines Glas wird dich schon nicht umbringen.«
Sina stand vor einem der Fenster. In der Scheibe sah sie nur sich selbst und dahinter die Frau, die Flasche und Gläser auf dem Tisch vor dem Sofa abstellte. Glaubte sie ernsthaft, dass Sina noch nie Alkohol getrunken hatte? Sie schenkte ihnen beiden ein, reichte Sina ein Glas und stieß mit ihrem dagegen.
»Auf was?«, fragte Sina.
»Auf was?«
»Muss man nicht immer auf was Bestimmtes anstoßen?«
Das war ganz sicher eine dumme und unpassende Bemerkung, nach allem, was passiert war, und die Frau wirkte auch nicht mehr freundlich. Sina sah auf den Verband an ihrer Hand und wagte nicht zu trinken. Es war nicht zu leugnen, auch wenn sie sich darüber ärgerte, sie hatte Angst.
Nach einer Ewigkeit sagte die Frau: »Kann schon sein. Aber ich habe dafür keinen Anlass. Schon lange nicht mehr.«
Keinen Anlass? Schon lange nicht mehr? Wie alt war die Frau denn? Sina wurde neugierig, wollte gleichzeitig aber lieber gar nicht wissen, was sich hinter dieser Äußerung verbarg. »Schon lange nicht mehr« klang zumindest nicht so, als meinte sie damit den Tritt und das Springmesser. Es klang so, als läge es ziemlich weit zurück.
»Okay«, sagte Sina, »dann stoßen wir eben auf gar nichts an.«
»Auf gar nichts. Auf das Nichts. Das ist gut.«
Das Nichts? War sie so eine Art Philosophin, eine Spinnerin, die gleich komisches Zeug über die Welt quatschte? Hatte Sinas Mutter auch mal getan. Früher. Als sie sich noch besser im Griff hatte. Heute jammerte sie nur noch und fing dann an zu flennen. Oder sie brüllte herum. Warf Sachen durch die Gegend. Ein Kerzenständer war mal haarscharf an Sinas Kopf vorbeigeflogen, bevor er gegen die Wand gekracht war. Die Dellen sah man heute noch. Wer sollte das auch ausbessern? Schwer zu sagen, was schlimmer war, Jammern oder Brüllen. Es war wohl gleich schlimm, jedes auf seine Art. Das Jammern ihrer Mutter war ekelhaft, ihr Herumbrüllen zum Fürchten. Toni und vor allem Bobby ertrugen es noch schlechter als Sina.
Eigentlich sah die Frau nicht verrückt aus. Wobei Sina nicht wusste, ob man das den Leuten wirklich ansehen konnte. Vielleicht wollte sie sie zuerst betrunken machen, mit dem Wein und dem Gequatsche über die Welt, um sie besser überwältigen zu können, und dann in kleine Stücke hacken. Oder vielleicht ging es darum auch gar nicht, vielleicht wollte sie Sina betrunken machen und dann befummeln. War sie bei so einer kranken Lesbe gelandet, die sich junges Fleisch von der Straße holte? Gab es das überhaupt? Na ja, es gab ja nichts, was es nicht gab. Zumindest in Berlin. Das Messer in ihrer Jackentasche war nun schwer erreichbar. Fehler. Sie hätte die Jacke nicht ausziehen oder sie zumindest nicht auf dem Koffer ablegen dürfen.
»Coole Wohnung«, sagte Sina.
»Findest du?«
»Ja, so schön leer. Bei mir zu Hause … ach, ist auch egal.«
»Was ist bei dir zu Hause?«
»Nichts. Es ist bloß … sehr voll.«
»Wie heißt du eigentlich?«
»Sina. Und Sie?«
»Marie. Marie Weber.«
»Werden Sie mich jetzt anzeigen oder so was?«
»Grund genug hätte ich wohl. Es tut ganz schön weh.« Die Frau rieb sich die Seite und zuckte dabei leicht zusammen. »Ich hoffe, es war dein erstes Mal und du machst so was nicht dauernd. Leute auf der Straße überfallen, meine ich. Aber ich denke nicht, dass ich dich anzeigen werde. Dann hätte ich dir ja auch wohl kaum einen Wein angeboten, für den du im Übrigen wahrscheinlich doch noch zu jung bist.«
»Und Sie haben auch nicht vor, bei mir zu Hause aufzukreuzen?«
»Um mit deinen Eltern zu reden, meinst du? Wäre das so schlimm?«
»Ja. Ich meine, nein, wäre mir egal.«
Die Frau – Marie – fragte nicht weiter nach. Aber das konnte ja noch kommen. Sina wollte nicht über zu Hause reden, mit niemandem. Nicht mit den Idioten aus der Schule, nicht mit Lehrern. Manchmal erkundigten wohlmeinende Lehrer sich nach zu Hause. Sina konnte ihr Getue nicht ausstehen. Die Frau – Marie – holte einen ziemlich wackelig aussehenden Stuhl aus der Küche und forderte Sina auf, auf dem Sofa Platz zu nehmen. Sie stellte den Stuhl vor das Sofa und setzte sich. Jetzt saßen sie sich gegenüber, Sina auf dem Sofa, die Frau auf dem Stuhl, etwas höher als Sina, was Sina nicht gefiel. Seitlich von ihnen ein dunkelbrauner runder Tisch, auf dem die Weinflasche und die Gläser standen. Liefen so nicht Therapiesitzungen ab? Sina wurde wieder nervös, nachdem sie sich vorübergehend fast entspannt hatte. Fehlte nur noch, dass die Frau gleich einen Schreibblock holte und etwas notierte. Vielleicht ging es gar nicht darum, Sina in Stücke zu schneiden oder sie zu begrapschen. Vielleicht kam jetzt so was wie: Findest du es gut, mit einer Waffe herumzulaufen? Warum machst du so etwas? Hast du Probleme mit deinen Eltern? War das ein Schrei nach Aufmerksamkeit?
Noch schlimmer als die Polizei wäre es, wenn die Frau darauf bestehen würde, zu ihr nach Hause zu kommen, um mit ihrer Mutter über den Vorfall zu reden. Dabei ging es weniger um ihre Mutter, die damit konfrontiert wurde, dass ihre Tochter draußen mit einem Messer herumfuchtelte und fremden Frauen in den Bauch trat, sondern eher darum, dass sie dann sehen würde, wie sie lebten. Und ihre Mutter. Bei Sinas Mutter konnte man vorher nie wissen, in welchem Zustand sie gerade war.
Den Gedanken, die Frau auszurauben, hatte Sina noch nicht ganz aufgegeben. Sie sah sich um. Zu holen gab es hier nichts. Der Aufwand und das Risiko lohnten sich also nicht. Am Ende würde es noch schiefgehen und sie wäre in einer noch schlechteren Position als jetzt. Außerdem war ihre kriminelle Energie inzwischen erschlafft.
Die Frau – Marie – glaubte offenbar tatsächlich, dass Sina, die in ihrem Leben bereits Bekanntschaft mit Hasch, allerlei Pillen und Hochprozentigem gemacht hatte, zum ersten Mal Alkohol trank, denn nun sah sie sie fast besorgt an und fragte, ob ihr der Wein schmecke.
»Ganz okay. Haben Sie keine richtigen Weingläser?« Viel lieber hätte sie gefragt: Sind Sie eigentlich verrückt? Aber obwohl sie sich aus guten Umgangsformen wahrlich nichts machte, wusste Sina, dass man eine solche Frage besser nicht stellte. Vielleicht war sie es, hatte es vorübergehend aber vergessen, und die Frage danach erinnerte sie wieder daran.
»Oh, wir sind aber vornehm.«
Sie schwiegen eine Weile vor sich hin, Sina auf dem durchgesessenen Sofa, die Frau auf dem Stuhl. Sie besaß nicht mal einen zusätzlichen Sessel. Ob sie nie Besuch hatte? Zwischendurch hielt sie sich manchmal die Seite und verzog das Gesicht. Sinas Blick konnte nirgendwohin ausweichen. Rechts und links von ihr gab es nichts in diesem kahlen Raum. Sie kam sich vor wie bei einem Durchhaltespiel: Wer von ihnen musste als Erste den Blick abwenden, wer hielt das Schweigen nicht länger aus.
Sina hielt es nicht mehr aus. »Warum steht Ihr Gepäck eigentlich im Flur rum?«
»Ich kam noch nicht zum Auspacken.«
»Sie sind also gerade erst hier eingezogen?«
»Ja, vor ein paar Wochen.«
»Ach, deswegen.«
»Deswegen was?«
»Na ja, es sieht noch nicht so richtig eingerichtet aus. Und was machen Sie so? Ich meine, was arbeiten Sie?«
»Dies und das.«
Dies und das? Was war das denn für eine Antwort? Es klang so, als wollte die Frau nicht darüber reden. Großes Geheimnis. Gut, Sina wollte ja auch nicht über zu Hause reden. Die Frau sah mittlerweile gar nicht mehr verloren aus. Im Gegenteil, auf einmal sah sie erschreckend selbstsicher aus und irgendwie unergründlich, was Sina überhaupt nicht in den Kram passte. Sie wusste gern, mit wem sie es zu tun hatte. Alles hatte sich ins Gegenteil verkehrt, es hatte doch genau andersherum laufen sollen. Zwischendrin stand die Frau auf und verschwand eine Weile im Badezimmer. Wasserrauschen. Geklapper. Vielleicht würde sie Sina immer noch anzeigen, obwohl sie behauptet hatte, es nicht zu tun. War diese kahle, unpersönliche Wohnung überhaupt ihr Zuhause? Eine Anzeige konnte Sina wirklich nicht gebrauchen. Annabelles Unterarm war nicht der erste Vorfall dieser Art gewesen. Ein Jahr zuvor hatte Sina sich auf dem Schulhof mit einem älteren Jungen geprügelt. Er war eindeutig stärker als sie, aber Sina war fieser. Er gab auf, nachdem sie ihm in die Eier getreten hatte, und trug außerdem ein blaues Auge davon. Danach war eine Weile von ihrem »Aggressionspotenzial« die Rede. Die wohlmeinenden Lehrer mit ihrem Getue hatten sie verstärkt nach zu Hause gefragt, ob zu Hause alles in Ordnung sei, und natürlich wurde ihre Mutter einbestellt. Immerhin, diesen Termin hatte sie damals wahrgenommen. War ja auch schon länger her, ungefähr zu der Zeit, als sie noch Spinat mit angebrannten Spiegeleiern kochte. Sina hatte niemals verraten, was sie dazu gebracht hatte, sich mit dem Jungen zu prügeln, weder ihren Lehrern, die einige Wochen nicht lockerließen, noch ihrer Mutter, die das Ganze aber ohnehin schnell vergaß. Oder vergessen wollte.
»Sind Sie eigentlich verrückt?«
Nun war es ausgesprochen, Sina konnte es nicht mehr zurücknehmen. Täuschte sie sich, oder war die Frau von der Frage belustigt?
»Verrückt? Sehe ich so aus?«
»Nein, eher nicht.«
»Dann bin ich ja beruhigt.«
Sie schwiegen wieder eine Weile. Entweder war die Frau komplett irre – immerhin nahm sie ihre Angreiferin mit zu sich nach Hause, falls das ihr Zuhause war, und wem würde das schon einfallen – oder sie war ganz in Ordnung. Irgendwas dazwischen schloss Sina aus.
»Kannst du das denn erkennen?«, fragte die Frau. »Verrückte, meine ich.«
»Klar.«
Machte die Frau sich über sie lustig? Wenn Sina eins nicht ausstehen konnte, dann das. Wenn jemand über sie lachte, wurde sie schnell wütend. Wenn sie wütend wurde, handelte sie unüberlegt. Sie musste allerdings zugeben, dass sie fast immer unüberlegt handelte. Bei der Aktion mit dem Messer hatte sie einen großartigen Plan verfolgen wollen, und was war dabei herausgekommen? Nichts. Kläglich versagt.
»Musst du nicht langsam mal nach Hause?«, fragte die Frau.
»Ich kann kommen, wann ich will.«
»Aha. Das kann ich mir zwar nicht vorstellen, aber gut. Ich glaube, du solltest trotzdem bald gehen. Und ein Glas Wein reicht auch für dich.«
»Sie wollen den Rest ja nur für sich haben.« Was dachte diese Frau denn? Dass sie noch ein kleines Kind war?
»Stimmt. Ich muss in Ruhe über einiges nachdenken.«
Etwas Überraschendes trat ein. Sina, die die ganze Zeit hatte fliehen wollen, fühlte sich ausgeschlossen. Weggeschickt. Fast hätte sie darum gebeten, noch ein bisschen bleiben zu dürfen. Ach bitte, bitte, nur noch eine halbe Stunde. Die kahle Wohnung erschien ihr plötzlich sehr gemütlich, ein guter Ort. Ein Ort, an dem sie alles hinter sich lassen konnte. Zu Hause. Die Scheißwelt. Die Frau konnte doch zusammen mit ihr in Ruhe nachdenken. Sie wollte noch nicht gehen. Zu Hause erwarteten sie Toni, Bobby und ihre Mutter. Sina mochte gar nicht daran denken, was es zu essen gab und in welcher Verfassung sie ihre Mutter antreffen würde.
Die Frau stand auf und holte aus einer schmalen Aktentasche einen Block, den sie Sina zusammen mit einem Bleistift reichte. »Wir sind noch nicht fertig miteinander, das ist dir hoffentlich klar. Schreib mir deine Handynummer auf.«
Etwas zweites Überraschendes geschah, Sina notierte tatsächlich ihre eigene Nummer und keine erfundene. Sie wünschte sich sogar, dass die Frau – Marie – sie anrief. Ein bisschen zumindest.
Die Frau schien es jetzt sehr eilig zu haben und brachte Sina zur Tür. »Wir sehen uns ganz sicher wieder. Komm gut nach Hause. Und mach unterwegs keinen Unsinn.«
Und so stand Sina bald auf der Straße und schlug den Weg nach Hause ein. Ihr war nichts passiert, sie war davongekommen. Die Frau hatte nicht die Polizei verständigt, und mit ihrer Mutter wollte sie auch nicht sprechen. Wahrscheinlich war es ein Fehler, ihr die Handynummer gegeben zu haben. Und warum war sie so blöd gewesen, ihr ihren richtigen Namen zu sagen? Sie konnte auch morgen früh noch zur Polizei gehen, eine Beschreibung von Sina abliefern und den Bullen ihre Nummer zeigen. Selbst wenn es keine Zeugen gab, wem würden die Bullen wohl eher glauben, Sina oder einer gut gekleideten Erwachsenen? Sie würde der Frau bald einen Besuch abstatten, morgen oder übermorgen, um das zu verhindern. Ihr etwas mitbringen. Blumen vielleicht. Sich bei ihr einschmeicheln. Konnte sie das? Nein, das war nicht gerade Sinas Stärke.
Als sie die Straße entlangging und die Hände in die Taschen schob, merkte sie, dass etwas fehlte. Ihr Handy war da, Taschentücher, ein angefressener Schokoriegel, irgendwas Ekliges, das sich klebrig anfühlte, Kaugummi?, aber das Springmesser mit dem hübschen roten Griff nicht. Sie durchforstete all ihre Taschen. Kein Messer. Entweder war es ihr herausgerutscht, in der Wohnung oder draußen, was Sina allerdings bezweifelte, weil sie sicher das Geräusch mitbekommen hätte, wenn es zu Boden gefallen wäre, oder die Frau hatte es unbemerkt aus ihrer Tasche genommen.