Die Begegnung auf dem Tempelhofer Feld lag nun rund sechs Wochen zurück, und es war immer noch nichts passiert. Eine Weile hatte Sina unermüdlich gefragt, wer denn diese »Tussi« gewesen sei. Franziska war dabei geblieben, dass sie die Frau nicht kenne und sie sie mit jemandem verwechselt haben müsse. Das klang nicht sehr überzeugend, das wusste sie, aber irgendwann gab Sina schließlich auf. Oder sie vergaß es. Jedenfalls fragte sie nicht mehr. In ihrem jugendlichen Gehirn gab es sicher andere Prioritäten. Außerdem schätzte Franziska ihre Aufmerksamkeitsspanne als nicht allzu hoch ein. Sie tippte nach wie vor auf schulische Probleme, unentschuldigtes Fernbleiben vom Unterricht, schlechte Noten. Wenn sie nachfragte, wurde Sina wütend, und die anfängliche Furcht vor diesem zornigen Mädchen kehrte kurz wieder zurück.
Was für eine seltsame Verbindung. Sina war das genaue Gegenteil von ihr. Es gab keinen Grund, sich mit ihr zu treffen, ihre Welten lagen weit auseinander, ohne Schnittmengen. Doch war das wirklich so? In Berlin war Franziska nichts weiter als eine Putzhilfe. Sie gehörte jetzt zu den Abgehängten. Vielleicht ähnelten sich ihre Welten mehr, als sie wahrhaben wollte. In ihrem früheren Leben hätte sie Sina möglicherweise als lohnenswertes Forschungsobjekt betrachtet. Verwahrlostes Großstadtkind aus der Unterschicht. Vielleicht waren sie ja eine Art Schicksalsgemeinschaft, Sina und sie. Wenngleich Franziska nicht an das Schicksal glaubte.
Inzwischen kannte sie auch Bobby, den dicken japsenden Hund. Sina hatte ihn zu einem Spaziergang mitgebracht. Bobby hatte am Bauch kaum noch Fell, stattdessen eine rosige Speckschicht. Er watschelte vor sich hin und drohte im nächsten Moment umzufallen. Sina liebte ihn, das war offensichtlich. In seiner Gesellschaft erkannte Franziska sie kaum wieder. Ihre Gesichtszüge wurden weich, viel jünger als sonst, wenn sie geduldig auf ihn einredete. Sie hantierte sogar mit einem schwarzen Beutel für seine Hinterlassenschaften herum, geradezu vorbildlich. Vielleicht tat sie das auch nur wegen Franziska.
»Wovon lebst du eigentlich?«, fragte sie eines Tages, als Franziska sie zum Essen einlud. Sie saßen in einem Lokal am Landwehrkanal, auf der Kreuzberger Seite, wie Sina ihr erklärte. Kreuzberg oder Neukölln oder sonst was, das war Franziska egal. Warum waren den Leuten hier die Stadtteile so wichtig? Bezirke, nicht Stadtteile. Sie kannte sich immer noch nicht in Berlin aus. Entweder hatte sie einen völlig unterentwickelten Orientierungssinn oder ihre Abneigung war so groß. Frau M. hatte sie neulich um eine Sonderschicht ersucht und diese großzügig bezahlt. Und das Lokal war nicht allzu teuer, wie Franziska beim Blick in die Speisekarte feststellte. Sina, vermutete sie, kannte eher McDonald’s oder sonstige Imbisse. Wenn überhaupt.
»Willst du nicht darüber reden?«
»Nein, im Moment nicht.«
»Bist du Geheimagentin oder so was?«
»Ja, so ähnlich.«
Sina kicherte. »Cool. Hast du auch eine Pistole?«
»Sehr witzig.«
Wo war Frau M.s Pistole geblieben, der Revolver, das Ding? Hatte sie es selbst aus dem Hohlraum an der Badewanne geholt? Das musste ja wohl so sein. Aber weshalb? Frau M. sah nicht so aus wie eine Frau, zu deren alltäglichen Gebrauchsgegenständen Schusswaffen gehörten. Eigentlich sah sie eher so aus, als wüsste sie noch weniger als Franziska, wie man so ein Ding überhaupt handhabte.
Sina hatte nie mehr das Messer erwähnt, das Franziska an sich genommen hatte. Sicher dachte sie, sie hätte es verloren. Das war auch besser so. Zwischen Fastsechzehn und Franziska bestand die unausgesprochene Abmachung, die andere nicht übergebührlich mit Fragen zu bedrängen. Als hätte dieses böse Mädchen für manches doch ein ungeahnt feines Gespür. Ausgenommen ihre derbe Sprache. Seit einer Weile hatte sie sich angewöhnt, ständig »ficken« zu sagen, unabhängig vom Zusammenhang und egal, ob es passte oder nicht. Wahrscheinlich wollte sie testen, ob sie Franziska damit schockierte. Und wahrscheinlich gehörte es einfach zu dem Bild, das sie von sich aufrechterhalten wollte. »Mit wem fickst du?«, fragte sie regelmäßig jedes Mal, wenn sie sich sahen. »Mit wem fickst du eigentlich?«
Wo war Sina überhaupt? Franziska hatte sie schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen. Aber was erwartete sie auch von ihr? Kontinuität? Fast sechzehnjährige Heranwachsende waren sprunghaft. Verwahrloste Heranwachsende vermutlich erst recht.
Von ihrem Putzlohn allein konnte sie nicht leben, auch wenn man Frau M. ganz sicher nicht der Knauserigkeit bezichtigen konnte. Franziska war deshalb froh über ihren Reservefonds, ein zweites, geheimes Konto, von dem Johannes nichts wusste. Ihre wohlhabenden Eltern hatten es eingerichtet, und von ihnen stammte auch das meiste Geld darauf. Es war gut gefüllt, weil sie bis vor einem halben Jahr nie etwas davon abgehoben hatte. Sie würde eine ganze Weile damit auskommen können, zumal sie sich in Berlin um äußerste Sparsamkeit bemühte. Von Ausnahmen abgesehen. Fastsechzehn zum Essen einzuladen, war eine solche Ausnahme. Oder ihre zahlreichen Museumsbesuche. Seit sie nicht mehr zur Museumsinsel fuhr, besuchte sie öffentliche Bibliotheken und las dort manchmal stundenlang. In Bibliotheken war sie an sich ja zu Hause – wenn es sich im früheren Leben auch um Fachbibliotheken gehandelt hatte. Von der Soziologie hielt sie sich fern. Vergiftet. Schmerzhaft. Sie las Romane. Oder besser, sie fing an, sie zu lesen, und stellte das Buch anschließend wieder zurück, ohne das Ende zu kennen. Oft war sie gar nicht neugierig auf das Ende. Sie blätterte großformatige Bildbände über weit entfernte Länder durch. Außerhalb des Münsterlandes. Außerhalb Berlins und Brandenburgs. Außerhalb Europas. Südamerika. Australien. Das Weltall. Oder Mikrokosmen. Ameisenstaaten. In einer Berliner Bibliothek würde sie ganz sicher nicht Petra oder Johannes über den Weg laufen. Ihren Eltern, die auf der Suche nach ihr durch die Stadt irrten. Nein, das würden ihre Eltern nicht tun. Nicht, wenn sie alles wussten – wovon auszugehen war. Franziskas Vater war immer auf Johannes’ Seite gewesen, nie auf ihrer. Auf welcher Seite ihre Mutter stand, blieb unklar. Sie hatte nichts zu sagen und fügte sich klaglos.
Frau M. war zu Hause, als Franziska an einem Tag Mitte April morgens die Dahlemer Wohnung betrat. Daran war sie inzwischen gewöhnt. Sie begrüßte sie freundlich wie immer, sagte »ich mache mich mal an die Arbeit«, zog sich zum Umziehen ins Badezimmer zurück und fing an.
Heute also aller Voraussicht nach keine Notizbuchpause auf dem bequemen Sessel. Oder wenn, dann erst sehr spät. Falls Frau M. die Absicht hatte, heute noch mal die Wohnung zu verlassen. Franziska hörte nur noch selten Musik beim Putzen, ihre lauten Gedanken waren Hintergrundrauschen genug. Meistens nahm sie aber sicherheitshalber ihren alten MP3-Player mit, wenn sie nach Dahlem fuhr, für den Fall, dass Frau M. zu Hause war oder früher zurückkehrte. Kopfhörer bedeuteten Abschottung von ihr. Abschottung von ihrem Gerede, ihrem Marie-hier, Marie-da. Franziska wollte ihre Ruhe haben. Sie musste ungestört arbeiten. Vielleicht war das noch ein Überbleibsel aus dem anderen Leben. Aber jeder musste doch die Möglichkeit haben, seine Arbeit ungestört zu verrichten, selbst eine Putzhilfe. Obwohl das Gerede seit einiger Zeit weniger geworden war, manchmal fast ganz verstummt, ungefähr zeitgleich mit Frau M.s beginnender Nachlässigkeit, Flecken, unterschiedliche Strümpfe, zerknitterte, angeschmutzte Kleidung, nicht gekämmt, wirrer Blick, herumhuschende Augen, verwelkte Schnittblumen auf dem Esstisch, in fauligem Brackwasser.
Neulich hatte Franziska den zusammengefalteten DIN-A4-Zettel wiedergefunden. Das Lesezeichen in Frau M.s Celia-Fremlin-Krimi, den sie einige Wochen zuvor vom Nachttisch genommen und ins Bücherregal im Wohnzimmer geräumt hatte. Zu Hause im Parterreloch hatte sie den Zettel aus der Tasche ihrer Jogginghose gezogen, bevor sie diese in die getreue alte Waschmaschine steckte, auf den hässlichen runden Tisch vor dem Sofa gelegt, ihn nicht weiter beachtet und schließlich vergessen. Dort setzte er Staub an. Viel Staub. Wenn Frau M. sähe, wie ihre reinliche Marie lebte. Bis ihr der Zettel eines Tages wieder ins Auge fiel und sie ihn auseinanderfaltete. Unverkennbar Frau M.s Handschrift, Franziska kannte sie von den Mitteilungen auf dem Ceranfeld. Offenbar handelte es sich um eine Liste von Psychotherapeuten. Frau M. hatte hinter die Namen ihre Angebote geschrieben. Verhaltenstherapie. Hypnosetherapie. Coaching. Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie. Einige Therapeuten waren mit Haken versehen, andere mit Fragezeichen, manche durchgestrichen. Auffallend zittrige Linie beim Durchstreichen. Die Handschrift insgesamt bedenklich zittrig. War Frau M. psychisch angegriffen? Labil? Depressiv? Gestört? Immerhin bewahrte sie eine Pistole in einem Versteck unter der Badewanne auf. Hatte aufbewahrt, Plusquamperfekt.
Franziska hatte eine gute Stunde gesaugt und gewischt und abgestaubt, die ekelhaften Fettspritzer von den Fliesen hinter dem Herd entfernt, die diesmal nicht nach Fisch, sondern nach gebratenem Fleisch stanken, hatte nicht darauf geachtet, womit sich Frau M. währenddessen beschäftigte, als es an der Tür klingelte. Wahrscheinlich der Paketbote. Franziska ignorierte das Klingeln, schließlich war die Hausherrin daheim. Hoffentlich war es der Paketbote und nicht Leonie. Franziska war in der Küche mit den hinteren, vernachlässigten Bereichen der Arbeitsplatten zugange – fiel das nicht eigentlich unter Sonderaufgaben? –, wozu sie zuerst alles beiseite räumen musste, halbvolle Wasserflaschen, Brotschneidebrett, Toaster, diverse Dosen und Schachteln, wie viel Kram Frau M. doch hatte, offene Marmeladengläser mit eingetrocknetem Inhalt, samt darin festgeklebter Fruchtfliegen. In einem Glas zeigte sich pelziger Schimmel auf der roten Marmelade. War Frau M. vor ein paar Monaten auch schon so schlampig gewesen? Schlampe, so nannte Sina doch gewöhnlich ihre Mutter. Obwohl Franziska nun seit rund drei Monaten die Dahlemer Wohnung putzte, entdeckte sie immer noch Ecken darin, die nahezu unberührt wirkten. Sie drang in Galaxien vor, die nie ein Mensch zuvor gesehen hatte.
Dann sah sie zwei Männer in der Diele. Beide etwa Mitte vierzig, leger gekleidet, so durchschnittlich und unauffällig, dass sie schon wieder auffällig waren. Ernste Gesichter. Franziska hatte keine Ahnung, wer das war. Sie hatte sie noch nie gesehen. Sicher keine Handwerker, dazu passte die Kleidung nicht. Frau M. behandelte sie so zuvorkommend, fast unterwürfig, dass Franziska sofort alarmiert war. Sie verstand nicht, was sie sagten, bis auf ein Wort, ein einziges Wort, und dieses Wort war höchst beunruhigend: Polizeidirektion.
»Ja, das hier ist … das ist Frau Weber«, sagte Frau M. zu den beiden Männern, die einen Blick in die Küche warfen, »Marie Weber, eine … Freundin von mir. Eine gute Freundin.«
Die Männer standen an der Schwelle zur Küche und nickten Franziska zu, ohne zu lächeln. Franziska trug gelbe Haushaltshandschuhe und hielt einen Lappen in der Hand. Seit wann waren Frau M. und sie gute Freundinnen? – Natürlich, Schwarzarbeit. Ob es glaubhaft war, dass Frau M., die heute Vormittag sehr gut und sorgfältig gekleidet war, keine Flecken, keine falsch geknöpfte Bluse, eine in Lumpen gekleidete Freundin hatte, die sich gerade mit Gummihandschuhen in ihrer Küche zu schaffen machte?
»Aber wir müssen das alles ja nicht vor … Frau Weber … meiner Freundin … ich schlage vor, wir gehen hier hinein, da sind wir ungestört.«
Und schon lotste Frau M. die Männer weg, ins Gästezimmer, und schloss die Tür von innen.
Wenn die Polizisten ihretwegen hier waren, wieso zeigten sie dann keinerlei Interesse an ihr und gingen in ein anderes Zimmer? Oder war das ihre Taktik, die Franziska bloß nicht durchschaute? Würden sie jetzt erst in Ruhe mit Frau M. sprechen, die ihnen ihr Leid klagte, dass sie gar nichts über Marie wisse, nicht einmal ihre Adresse? Die flüsternd betonte, das sei doch verdächtig? Aber warum hatte sie sie dann »Freundin« genannt?
Frau M. wirkte nicht wie jemand, der mit dem Gesetz in Konflikt kam. Vielleicht war bei ihr eingebrochen worden. Aber sie hatte nichts dergleichen erwähnt. Und davon hätte sie Franziska garantiert erzählt. Hatte sie mit der verschwundenen Waffe jemanden erschossen? Dann würde die Polizei sicher andere Maßnahmen ergreifen, als ihr einen höflichen Besuch abzustatten. Wenn Franziska jetzt zur Haustür ging, ganz leise, würde das im Gästezimmer erst einmal niemand mitbekommen. Ihr Rucksack stand in der Diele an der Garderobe, mit ihren Schlüsseln, Frau M.s Schlüsseln und ihrem Portemonnaie darin, allem Wichtigen. Sie müsste ihre Kleidung im Badezimmer zurücklassen und in der Putzuniform fliehen.
Sie steckte das Geld, das immer noch auf dem Herd lag, in die Tasche ihrer Jogginghose. Normalerweise nahm sie es erst, wenn alles erledigt war. Sie war auf dem Sprung, wollte schon die Küche verlassen und auf Nimmerwiedersehen gehen – danach wäre die Bekanntschaft mit Frau M. natürlich schlagartig beendet, Franziska würde nie mehr nach Dahlem fahren, sie würde sich eine neue Prepaid-SIM-Karte kaufen und die alte vernichten –, aber sie konnte sich nicht rühren. Sie trug noch immer die gelben Gummihandschuhe. Die Fettspritzer an den Fliesen über dem Herd waren hartnäckig, wie sie jetzt sah. Sie schrubbte mit einem Schwamm daran herum. Aus dem Gästezimmer waren Stimmen zu hören, aber Franziska konnte nichts verstehen. Auch die Tonlage war nicht einzuschätzen. Wenn sie noch länger wartete, wäre es zu spät. Aber war es nicht höchst unwahrscheinlich, dass die Polizei ihretwegen hier war? Petra hatte sie zwar in Berlin gesehen, aber wer sollte eine Verbindung zwischen ihr und Frau M. herstellen? Es sei denn, Frau M. selbst. Doch bei genauerer Betrachtung konnte Franziska sich das nicht vorstellen.
Und während sie immer noch unschlüssig war, ob sie bleiben oder fluchtartig die Wohnung verlassen und zur U-Bahn rennen sollte, öffnete sich die Tür zum Gästezimmer, und Frau M. und die beiden Polizisten kamen heraus. Franziska streifte die Gummihandschuhe ab. Sie kochte Kaffee, ohne Frau M. vorher zu fragen, was sie fast verwegen fand. Aber Freundinnen taten ja so etwas, der anderen einen Kaffee kochen. Entweder wollten die beiden Polizisten in Zivil sie in Sicherheit wiegen, oder ihr Besuch hatte tatsächlich nicht das Geringste mit ihr zu tun. Sie standen noch eine Weile mit Frau M. vor der Wohnungstür herum und verabschiedeten sich bald darauf.
Frau M. kam in die Küche. »Ah, Sie haben Kaffee gekocht, das ist eine gute Idee. Sie fragen sich sicher, was die Polizei bei mir wollte. Das war nämlich die Polizei, ich weiß nicht, ob Sie es mitbekommen haben. Aber es ist auch nicht so wichtig. Trinken wir doch erst einen Kaffee. Sagen Sie, Marie, wollen Sie mir nicht beim Pflanzen helfen? Ich meine, wenn Sie fertig mit allem sind. Und natürlich nur, wenn Sie Zeit haben. Ich habe mir heute frei genommen. Ich war gestern beim Gärtner und habe alles Mögliche besorgt. Sie werden sehen. Natürlich nur, wenn Sie noch Zeit haben, Sie haben ja sicher noch was anderes zu tun. Ich zahle das natürlich extra.«
Extra zahlen klang gut. Außerdem war Franziska so erleichtert, dass sie bereitwillig alles für Frau M. gemacht hätte, nicht nur Blumen pflanzen. Nach dem Kaffee putzte und saugte sie auch alle anderen Räume. Anschließend bat Frau M. sie auf den Balkon, um ihr die Geranien und kleinen Nelken zu zeigen, die sie gekauft hatte. Die Polizisten erwähnte sie nicht mehr – geschweige denn den Grund ihres Besuchs. Sie war doch sonst immer so mitteilsam.
Frau M. zog sich Gartenhandschuhe an und schnitt einen Sack Blumenerde auf. Sie zeigte auf einen am Balkongeländer hängenden Kasten. »Hier die Geranien und da an der Seite die Nelken, dachte ich. Die Nelken sind ja eigentlich perennierend, also …«
»Mehrjährig. Ich weiß, was das heißt«, sagte Franziska, die sich jetzt auch Handschuhe anzog. Frau M. zuliebe war sie in die leuchtend blauen Gartenclogs gestiegen, die eigentlich Leonie gehörten.
»Entschuldigung, ich sollte inzwischen wissen, dass ich eine sehr gebildete … äh … Putzhilfe habe. Jedenfalls, die letzten Nelken habe ich nicht durch den Winter bekommen.«
Vergleichbar mit den bunten Balkonblumen blühte Frau M. sichtlich auf. Als wäre sie gedüngt worden. In dem Rest alter Erde vom Vorjahr entdeckte sie einen Regenwurm und geriet ins Schwärmen: »Oh, ein Regenwurm, die sind ja so nützlich! Wir achten und ehren diesen Regenwurm, nicht wahr, Marie? Das Leben ist ja so kostbar.«
Sie fragte Franziska, die anfangs nur untätig danebenstand, ständig nach ihrer Meinung, als gingen sie ein enorm bedeutsames Projekt an, wie groß der Abstand, welche Farben nebeneinander, welche Komposition – die »Komposition«, so nannte sie es auch, war Frau M. enorm wichtig –, was meinen Sie, Marie, lieber einheitlich oder wild durcheinander? Sie haben keinen Balkon in Schöneberg, oder? Einheitlich sieht ja vielleicht ein bisschen bieder aus.
Nein, Franziska hatte keinen Balkon. Genau genommen hatte sie aber einen kleinen Garten vor dem Fenster ihres Parterrelochs, in dem zwischen den ungesund aussehenden Sträuchern Plastiktüten und Pizzaschachteln wuchsen.
Was hatte die Polizei hier gewollt?
Um nicht bloß herumzustehen, schließlich hatte Frau M. eine Extrabezahlung angekündigt, also sollte sie sich auch nützlich machen, grub Franziska irgendwann auch in einem Blumenkasten herum, setzte Geranien nebeneinander, von Frau M. genauestens beaufsichtigt, drückte sie fest, gab Streudünger dazu, obwohl ihr all diese Tätigkeiten widerstrebten.
»Machen Sie nicht gern Gartenarbeit? Mich entspannt das ja. Ich kann dann alles vergessen, wissen Sie.«
Den Besuch der Polizei?
»Und bald sind wir ja auch fertig. Zu zweit geht das viel schneller. Ach, das wird herrlich aussehen. Klaus mochte die kleinen Nelken so gern.«
Frau M. zeigte Franziska stolz einen zweiten Regenwurm, den sie gefunden hatte. Franziska lächelte gequält und wandte sich ab, ihren Geranien zu.
»Aber Marie, Sie werden sich doch nicht vor einem kleinen Regenwurm fürchten.« – Der ist so nützlich, dachte Franziska. – »Regenwürmer sind doch so nützlich! Ach, mich entspannt das immer so. Das Graben. Das Pflanzen. Sie nicht, Marie? Mir geht es gleich viel besser. Gut, dass ich beim Gärtner war. Mir ging es die letzten Wochen nämlich … also, mir ging es nicht so gut. Ich müsste es länger erklären, aber das wollen Sie sicher gar nicht hören … Und wie schön das dann ist, wenn alles wächst und man dabei zusehen kann, finden Sie nicht?«
Den Weg, den du einmal beschritten hast, musst du auch zu Ende gehen. Der Regenwurm macht, dass er davonkommt, wie die anderen kleinen borstigen Tiere. Tränen. Sicher nur wegen der Erde in den Augen. Wenigstens regnet es nicht, das würde alles erschweren. Oder ein gefrorener Boden. Doch bisher hat noch kein Frost eingesetzt. Wie tief denn noch? Langsam müsste es reichen. Seitlich von den Katzenskeletten ein bisschen weitergraben, und tiefer, die Katzen nicht stören. Ihre Totenruhe zu stören, war keine Absicht. Aber woher sollte ich wissen, dass ausgerechnet hier Katzen begraben liegen. Hoffentlich halten die Batterien der Taschenlampe durch. Im Dunkeln würde ich den Weg zum Auto gar nicht mehr finden. Im Münsterland kann es komplett dunkel werden. Zum Fürchten. Aber ich brauche die Dunkelheit jetzt, sie ist meine Komplizin. Die Batterien müssen halten, bis ich fertig bin, sie müssen einfach. Das Haus, zu dem dieses Grundstück gehört, ist nicht allzu weit entfernt. War das Fenster im Erdgeschoss vorhin schon erleuchtet, oder hat gerade jemand das Licht eingeschaltet? Weil er etwas gehört hat? Mein Schluchzen? Aber wer rechnet schon damit, dass spätabends jemand unter den Tannen kniet, bemüht, mit einer lächerlich kleinen Schaufel ein großes Loch zu graben. Die Tränen lassen einfach nicht nach. Wegen der Katzen, rede ich mir ein, wegen der hier begrabenen Katzen, die ich gar nicht kannte. Ich muss mich zusammenreißen.