28

 

Nachts träumte Franziska von blutenden Kopfwunden, von Löchern in Köpfen, so groß, dass eine Faust hineingepasst hätte und kein Mensch sie überleben könnte, aber im Traum war das natürlich problemlos möglich, und so wandelten lebende Tote mit riesigen Löchern in der Schädeldecke herum, und als sie gerade zu ergründen versuchte, wie viele Tote es waren und ob sie auch dazugehörte, wachte sie auf der dünnen Matratze auf den Europaletten auf.

In der winzigen Duschkabine tropfte das Wasser, das nahm sie sehr deutlich wahr, wusste aber etliche Minuten nicht, wo sie sich befand. Sie wähnte sich in dem Haus in Senden, neben sich den schlafenden Johannes, aber in Senden stand ein teures Bett mit einer sehr guten Matratze, nicht so ein durchgelegenes, dünnes Ding, und nach und nach wurde ihr klar, dass sie in ihrem Neuköllner Parterreloch lag.

Franziska stand auf, ging in die ehemalige Speisekammer und rüttelte so lange am verkalkten Duschkopf herum, bis er endlich zu tropfen aufhörte. Sie hatte sich bis jetzt nicht daran gewöhnt, dass die Farben an den Wasserhähnen vertauscht waren, und sich schon oft verbrüht. Es lohnte sich nicht, noch einmal einzuschlafen, also kochte sie Kaffee. Heute stand die übliche Schicht bei Frau M. an.

Sie fuhr etwas zu früh los und schlenderte noch eine Weile in Dahlem herum. Doch lange hielt sie es nicht aus. Schon auf dem Weg hatte sie in der U-Bahn die ganzen Studierenden der FU gesehen, die neben ihren Umhängetaschen ihre fröhlichen, sorgenfreien Leben mit sich herumtrugen. Höchstwahrscheinlich machten sie sich gar nicht bewusst, dass sie im Paradies lebten, im Paradies aller Möglichkeiten. Es war wie eine Strafe. Immer noch. Franziska wurde mit dem Anblick Studierender bestraft. Aus den meisten von ihnen würde natürlich nichts werden, ein Großteil war erfahrungsgemäß mittelmäßig bis schlecht, aber einige wenige von denen, die sie verstohlen in der U-Bahn beobachtete, würden die Karriere machen, die eigentlich für sie bestimmt war.

Nach dem kurzen Umweg ging sie zu Frau M. und schloss die Haustür unten ausnahmsweise auf, ohne zu klingeln. Hatte Frau M. nicht gesagt, sie fahre heute sehr früh zur Arbeit? Sie hatte ihr das Aufschließen ja auch nicht verboten, im Gegenteil, sie ermunterte sie immer und fand es übertrieben, dass Franziska jedes Mal zuerst klingelte. »Aber deswegen haben Sie doch den Schlüssel, Marie. Und selbst wenn ich noch zu Hause bin, ich bin ja darauf eingestellt, dass Sie kommen. Sie werden mich schon bei nichts Verbotenem überraschen.«

Auch oben klingelte Franziska nicht. Die Tür war zweimal abgeschlossen. Sie hatte sich also richtig erinnert, Frau M. war sehr früh zur Arbeit gefahren. Umso besser. Dann hatte sie die Wohnung für sich allein.

Nach dem »lockeren Beisammensein« wäre sie am liebsten eine Weile gar nicht mehr nach Dahlem gefahren. Erst die aus Eitelkeit geborene Unvorsichtigkeit bei Reinhold Kessler, dann Leonie. Leonie hatte Franziska in der Küche am Ärmel festgehalten und ihren Namen ausgespuckt, als wäre er eine Lüge, Marie Weber, was ja auch stimmte. Sie hatte ihren Ärmel erst losgelassen, als Frau M. in die Küche gekommen war. Bald darauf war Franziska gegangen. In der U-Bahn, auf dem Weg nach Neukölln, hatte sie gedacht: Ich fahre nie wieder zu Frau M.

Aber natürlich erschien sie kurze Zeit später wieder zum Putzen. Nur wenige Tage danach, eine Sonderaufgabe, denn nach dem »Beisammensein« gab es nach Ansicht Frau M.s für Franziska mehr zu tun als sonst.

»Sabine Kesslers Mann hat mir da was erzählt …«, sagte sie an diesem Tag, noch bevor Franziska ihre Putzfrauenuniform angezogen hatte. »Klären Sie mich doch mal auf, Marie. Er hat behauptet, Sie seien promoviert? Äh, er nannte das anders, ich glaube, er sprach, äh, von der kleinen Frau Doktor. Ich habe gesagt, das wüsste ich aber. Wenn es so wäre, dachte ich, hätte Marie mir das doch längst erzählt.«

»Da hat er was missverstanden«, sagte Franziska.

»Missverstanden?«

»Na ja, er war ziemlich betrunken, falls Ihnen das aufgefallen ist.« Das war Franziska zwar auch gewesen, anders ließ sich das Ganze nicht erklären, aber nicht so betrunken wie Reinhold Kessler.

»Ja, das stimmt. Als Sie dann gegangen waren, hat er die ganze Zeit über Sie geredet. Obwohl seine Frau danebenstand. Das war schon richtig peinlich. Ich hätte die beiden gar nicht einladen sollen, das war ein Fehler. Und als er dann mit der Frau Doktor anfing, dachte ich, das hätten Sie mir ja ruhig sagen können, damit ich es nicht von ihm erfahre.«

Der Vorwurf in Frau M.s Stimme und auch die Bitterkeit und die Enttäuschung waren nicht zu überhören.

»Nein, nein, er hat was missverstanden«, beteuerte Franziska. »Ich glaube, ich habe erwähnt, dass ich nach dem Studium über eine Promotion nachgedacht habe. Aber daraus ist dann nichts geworden. Wie das Leben manchmal so spielt. Und das hat er wohl falsch verstanden.«

Ich verstecke alles, wofür ich so hart gearbeitet habe, dachte sie. Ich verleugne meine Zugehörigkeit zum akademischen Milieu.

Sie hätte Frau M. von Anfang an die Wahrheit sagen sollen. Gleich nach dem Schwächeanfall auf der Museumsinsel, als sie sie zum ersten Mal zu Hause aufgesucht hatte. Einen gewissen Auszug aus der Wahrheit zumindest. Was wäre so schlimm daran gewesen? Wenn sie die Promotion erwähnt hätte, wenn sie gesagt hätte, dass sie in Neukölln wohnte statt in Schöneberg? Sie war geradezu besessen davon gewesen, dass nichts auf Franziska Oswald aus Senden in Westfalen hindeutete, dass nichts zurückzuverfolgen war und dass niemand je erführe, in welchem Loch sie sich verkroch. Nach so vielen Monaten konnte sie es nicht mehr richtigstellen.

Die Angelegenheit mit der Promotion betrachtete Franziska inzwischen als erledigt. Frau M. hatte ihr schließlich geglaubt, dass Reinhold Kessler betrunken etwas missverstanden hatte. Begünstigend war, dass Frau M. ihn sowieso nicht leiden konnte, wie sie sagte. Blieb noch Leonie. Und die Frage, wie viel sie von dem Gespräch mit Kessler mitbekommen hatte. Aber Franziska wollte sich nicht die ganze Zeit wegen ihr verrückt machen. Inzwischen war sie sich gar nicht mehr sicher, ob das Verhältnis der beiden wirklich so gut war, wie Frau M. immer behauptete. Manchmal wirkte es eher distanziert. Kühl.

Franziska schloss die Tür auf, ohne zu klingeln, und trat ein. Sie hatte gleich viel bessere Laune, weil sie Frau M. heute nicht antreffen würde. Vielleicht würde sie den inzwischen gewohnten Ablauf ändern und ausnahmsweise nicht sofort anfangen, sondern sich einen Kaffee kochen und ein paar Minuten auf den teuren Sessel im Wohnzimmer setzen. Irgendwann war auch Schluss mit dem Pflichtgefühl, das sie ja sowieso nicht weit gebracht hatte. Sie stellte ihren Rucksack vor die Garderobe, zog ihre Jacke aus und überlegte, ob sie nach längerer Zeit wieder Musik beim Putzen hören sollte, als sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung bemerkte.

Frau M. stand auf der Schwelle zur Küche, ungefähr da, wo Leonie sie am Ärmel festgehalten hatte. Frau M. schien Franziska gar nicht zu erkennen. Sie sah schrecklich aus. Zum Fürchten. Schmutzig. Völlig verwirrt. Wie diese Personen, bei denen man besser die Straßenseite wechselte. Nicht wie die elegante Frau M. aus der Alten Nationalgalerie. Ihre Haare wirkten so, als wären sie seit Tagen weder gewaschen noch gekämmt worden. Sie trug einen rot-weiß gestreiften Schlafanzug, auf dessen Oberteil vorne ein großer, ekelhafter Fleck prangte, der wie Erbrochenes aussah. Ihre Lippen waren eigenartig blau verfärbt, als litte sie unter Sauerstoffmangel oder wäre halb erfroren oder als hätte sie mit zitternder Hand einen Horrorlippenstift aufgetragen. Kein Erkennen in ihren weit aufgerissenen Augen, kein »Marie, ach, Marie« – nur wild flackernde Panik.

Und Frau M. hielt etwas in der Hand. Etwas Großes, Schwarzes, das Franziska erst mit einiger Verzögerung identifizierte. Die Pistole, der Revolver, das Ding. Frau M. zielte damit auf sie. Franziska ließ ihre Jacke zu Boden fallen. Sie hatte gar keine Angst. Sie hatte keine Zeit, Angst zu haben, es ging zu schnell, und außerdem passte das alles überhaupt nicht zusammen, sie verstand es nicht, nichts davon. Was war hier los? Bevor sie etwas spürte – immerhin fragte sie sich noch, wie schmerzhaft es wohl sein würde –, hörte sie diesen ohrenbetäubenden Knall. Jetzt, gleich, in der nächsten Sekunde wären ihre Eingeweide zerfetzt oder ihr Herz oder ihre Lunge, sie hatte nicht darauf geachtet, wohin Frau M. zielte, aber noch bevor das Geschoss durch ihre Haut drang, waren als Erstes ganz sicher ihre Trommelfelle geplatzt.