31 Tag hundertsechsundachtzig

 

Bedauerlicherweise hatte Franziska ihr schwarzes Notizbuch zu Hause vergessen, was sie erst in Frau M.s Wohnung bemerkte. Zum ersten Mal und ausgerechnet heute. Sie war nicht immer in der Stimmung dafür, es gab viele Tage mit leeren Seiten – war es bei ihrer Dissertation damals nicht ganz ähnlich gewesen? –, aber heute wären ideale Bedingungen, um sich diesem Buch für Notate und Reflexionen anzuvertrauen, ihrem einzigen richtigen Gesprächspartner.

Frau M. hatte sich den ganzen Nachmittag nicht blicken lassen und Franziska die große Wohnung für sich allein. Seit der Sache mit der Pistole ging sie ihr aus dem Weg, sagte etwas von »lange im Büro, so viel Arbeit«. Das glaubte ihr Franziska zwar nicht, aber sie war froh, wenn sie sich nicht mit ihr unterhalten musste. An diesem Nachmittag hätte sie genug Zeit gehabt, um ungestört im Nussschalensessel zu sitzen, das Notizbuch auf den Knien, und zu schreiben. Vielleicht konnte sie es ja nachtragen. Doch das funktionierte nicht, sie musste es erst gar nicht versuchen. Schreiben konnte sie offenbar nur auf den Bänken in der Alten Nationalgalerie, in Bibliotheken und vor allem auf dem teuren Sessel in Frau M.s Wohnzimmer. Seit sie aus Angst vor weiteren unheilvollen Begegnungen die Museumsinsel mied, blieben nur noch Bibliotheken und der Sessel. Auf dem durchgesessenen Sofa in ihrem Parterreloch oder an dem wackeligen Küchentisch – beobachtet von Johann Wilhelm Preyer zwischen Nüssen und Trauben im Rotweinkelch – brachte sie kein Wort zustande. Im Parterreloch fühlte es sich so an, als wären alle Worte in ihr versiegt. War das früher, in ihrem anderen Leben, auch so gewesen? Hatte sie einen bestimmten Platz zum Arbeiten gebraucht, einen Raum, einen Tisch? Franziska vermisste ihr altes Leben noch immer, das Institut, ihren Doktorvater, die Gespräche mit ihm und mit Evi. Nur das Haus in der Siedlung vermisste sie überhaupt nicht.

Neuerdings waren ihr die ersten Tage im Hotel am Berliner Hauptbahnhof manchmal präsenter als ihre Vergangenheit in der Westfälischen Wilhelmsuniversität Münster. Manchmal dachte sie häufiger an Frau M. oder an Sina als an ihre Eltern, Johannes, Evi, Sebastian. Sie fragte sich, warum sie nicht längst durchgedreht war. Vermutlich lag es daran, dass noch immer genug von ihrem alten disziplinierten Ich übrig geblieben war, von ihrem unbedingten Willen, niemals aufzugeben, der sie auch in der Wissenschaft ausgezeichnet hatte. »Verbissen« hatte Johannes das oft genannt, wenn sie sich stritten. »Du bist so verbissen. Mach doch was anderes, wenn du mit deiner Doktorarbeit nicht weiterkommst. Du kannst doch auch wirklich ohne diesen verdammten Titel leben.«

Der Doktor war ein akademischer Grad und kein Titel, aber Franziska hatte es schon lange aufgegeben, es Johannes zu erklären. Und als sie dann zu seiner Überraschung die Dissertation fertiggestellt und auch die Disputation erfolgreich hinter sich gebracht hatte – ein magna cum laude, leider kein summa, diese Kränkung, dass ihr die höchste Auszeichnung verwehrt geblieben war, nagte selbst jetzt noch an ihr –, hatte er immer noch nicht aufgehört. »Warum überlegst du dir nicht was anderes, wenn dir das mit der Assistentenstelle zu viel ist?« Wie kam er darauf, es könnte ihr zu viel sein? Was bildete er sich ein? Franziska fand sich nicht verbissen, sondern willensstark.

Sie ärgerte sich sogar auf dem Rückweg von Dahlem noch über das vergessene Notizbuch. Es war später Nachmittag, frühsommerlich warm und bliebe noch lange hell. Sie sollte die sich selbst auferlegten Vorsichtsmaßnahmen ein wenig lockern. Wieder zur Museumsinsel fahren. Zum Flugfeld gehen. Hatte Sina nicht etwas von einem Biergarten am Rand des Feldes gesagt? Franziska könnte das Notizbuch von zu Hause holen und dort schreiben. Vielleicht war es ein guter Ort.

Vorher kaufte sie ein. Inzwischen schätzte sie die Vorratshaltung, für den Fall, dass Sina unangemeldet vor der Tür stand. Sie machte sich Sorgen um Sina. Steckte sie in irgendwelchen Schwierigkeiten? Zuzutrauen war es ihr. Oder gab es Probleme zu Hause, mit ihrer betrunkenen Mutter, die sich nicht um die Kinder kümmerte?

Franziska beschloss, in einer kleinen Seitenstraße draußen einen Kaffee zu trinken. Abgesehen vom Schokoladenkuchen im Bode-Museum und dem Essen mit Sina am Landwehrkanal tat sie das in Berlin nie. In der Innenstadt von Münster hatte sie oft draußen gesessen, allein oder mit Evi, sogar im winzigen Ortszentrum von Senden.

An einem Tisch in Franziskas Nähe saß eine Frau vor einer Flasche Bier. Ihre Kleidung wirkte leicht schmutzig, ihr Blick huschte unstet hin und her, als würde sie sich bedroht fühlen. Franziska fand sie abstoßend und hatte Angst, von ihr angesprochen zu werden, war aber gleichzeitig fasziniert. Saß dort ihr Spiegelbild, die Person, zu der sie geworden war? Nein, entschied sie. Sie würde weiterleben. Sie würde von nun an darauf achten, niemals verdreckte Kleidung zu tragen. Sie würde mit der gleichen Selbstverständlichkeit auf sich achten, mit der sie es früher immer getan hatte. Sie hatte so viel überstanden. In Berlin, aber auch davor. Sie hatte das Tempelhofer Feld überstanden und den Besuch der Polizei bei Frau M. Reinhold Kessler. Leonie. Sie war von Frau M. erschossen worden und hatte auch das überstanden.

Die Waffe, die Frau M. an jenem Morgen auf sie gerichtet hatte, entpuppte sich als Schreckschusspistole, was Franziska aber sehr lange nicht verstand. Sie verstand nicht, weshalb es nicht wehtat, warum sich auf ihrem Oberkörper kein Blut ausbreitete, wieso sie nicht zu Boden ging. Es war nur laut. So ohrenbetäubend laut.

»Ach, Marie … o mein Gott … Marie … waren wir heute … hatten wir heute … was ist denn für ein Tag … o mein Gott, mein Gott!«

Frau M. hatte noch nie einen Termin vergessen. Es war mehr als offensichtlich, dass mit ihr etwas nicht stimmte – sehr viel nicht stimmte –, aber sie erklärte sich nicht. Sie sagte nur, dass es sich bei der täuschend echt aussehenden Waffe um eine Schreckschusspistole handele, die ihr verstorbener Mann angeschafft habe, um mögliche Einbrecher abzuwehren. »Hier in Dahlem wird ja so viel eingebrochen.« Sie erklärte nicht, warum sie auf Franziska gezielt hatte, und ebenso wenig ihr desolates Erscheinungsbild an einem Morgen mitten in der Woche, an dem sie eigentlich zur Arbeit hätte fahren müssen.

Frau M. hatte erbarmenswert ausgesehen. Und nachdem Franziska endgültig realisiert hatte, dass sie nicht tot war und sogar ihr Gehör keinen Schaden genommen hatte, kümmerte sie sich um Frau M. Sie konnte sie schlecht in dieser Kleidung und sichtlich verwirrt in der Küche stehen lassen, wo sie ihr außerdem beim Putzen im Weg gewesen wäre. Sie schob sie behutsam ins Schlafzimmer und forderte sie auf, sich umzuziehen. Frau M. saß auf dem Bett und dirigierte Franziska zum Kleiderschrank. Franziska zog einen sauberen Schlafanzug aus dem Schrank, warf ihn aufs Bett und drehte sich um. Sie wollte keine unbekleidete Frau M. sehen. Anschließend steckte sie den rot-weiß gestreiften Schlafanzug in den Wäschekorb. Beim Anblick des Oberteils wurde ihr übel, und sie bemühte sich, nicht genau hinzusehen. Musste sie vielleicht auch bei Frau M.s Arbeitsstelle anrufen? Oder den Notarzt verständigen? Nein, das wäre zu viel der Fürsorge gewesen. Sie putzte wie gewohnt die Wohnung, ohne sich zwischendurch auf den Sessel im Wohnzimmer zu setzen. Das Schlafzimmer sparte sie aus. Zum ersten Mal lag auf dem Ceranfeld kein Geld. Das war sehr unangenehm, denn es bedeutete, dass sie Frau M. danach fragen musste.

Als sie mit dem Putzen fertig war, kochte sie Tee und brachte die Tasse ins Schlafzimmer. Tee bedeutete doch Fürsorge, oder? Frau M. setzte sich im Bett auf und nahm die Tasse entgegen. Sie sah so schrecklich aus, trotz des sauberen Schlafanzugs, dass Franziska nicht wagte, nach dem Lohn zu fragen. In der Küche fand sie dann Frau M.s Portemonnaie. Es war vollgestopft mit Fünfzig-Euro-Scheinen. Franziska beschloss, sich ausnahmsweise selbst zu bedienen, und nahm sich das Doppelte.

Sie trank ihren Kaffee aus, ohne von der Frau mit dem Bier, die ganz entschieden nicht ihr Spiegelbild war, mit der sie nicht die geringste Ähnlichkeit aufwies, behelligt zu werden. Mit den Einkäufen im Rucksack ging sie in ihre Straße, inzwischen dachte sie tatsächlich schon an »ihre Straße«, und genoss den milden Abendsonnenschein. Sogar in der hässlichen schmutzigen Stadt schien die Sonne. Sie würde mit ihrem Notizbuch zum Tempelhofer Feld gehen und sich nicht vor Angst in ihrem dunklen Loch verkriechen. Sie würde die Weite in sich aufnehmen. Atmen. Die Hochbeete-Gärtner beobachten, ohne dabei an einen wissenschaftlichen Aufsatz zu denken.

Ihre Wohnungstür war nicht abgeschlossen, aber das wunderte Franziska nicht. In letzter Zeit vergaß sie oft, die Tür zweimal abzuschließen. In ihrer Wohnung gab es kaum etwas zu stehlen. Selbst ihr Laptop war langsam veraltet, und kein Einbrecher hätte sich die Mühe gemacht, ihn einzustecken.

Die Luft in der Wohnung war anders als sonst, das spürte Franziska sofort. Anders als heute früh. Anders als gestern. Anders als an allen sonstigen Tagen. Es war weniger ein fremder Geruch, der hinzugekommen war, sondern eher so, als ob etwas fehlte. Als hätte ein anderer Mensch die ganze Luft weggeatmet.

Sie zog die Schuhe aus und brachte den Rucksack mit den Einkäufen in die Küche. Sie räumte alles in den Kühlschrank und sah nebenbei auf die Postkarte mit dem Stillleben über dem Tisch. Heute konnte sie Johann Wilhelm Preyers Blick nicht deuten. Wollte er sie auf etwas hinweisen? Sie warnen? Sinas Messer fiel ihr ein. Sie hatte ewig nicht mehr daran gedacht, es fast vergessen. Sie wühlte in den vorderen Taschen des Rucksacks, fand das Springmesser und schob es aus einer Eingebung heraus in ihre Hosentasche. Vielleicht sollte sie es wegwerfen, damit Sina es nicht fand und irgendeinen Unsinn damit anstellte.

Dann ging sie durch den schmalen Flur ihres Parterrelochs in das einzige Zimmer. In ihrem einzigen Zimmer saß Johannes. Er lachte, als er Franziska sah.

»Guten Abend, du kleine Wichtigtuerin«, sagte er.

Sie hatte Johannes seit einem halben Jahr nicht mehr gesehen. Er saß auf dem alten Sperrmüllsofa, von dem man Rückenschmerzen bekam, wenn man zu viel Zeit darauf verbrachte. Er hielt etwas in der Hand. Franziskas schwarzes Notizbuch, das sie heute Morgen vergessen hatte.

»Hör dir das an«, sagte Johannes, »das nenne ich doch ein echtes literarisches Meisterwerk: Muss bei der Kuh putzen. Sie ist nicht meine Mutter. Geld auf dem Herd. Sie sind ja so nett. Berlin verschlingt mich. Ich hasse Leonie, ich will, dass sie verschwindet. Wer ist denn Leonie? Na ja, ist sicher nicht so wichtig. Und du findest dich hier also nicht zurecht, lese ich. Verläufst dich ständig. Mir kommen die Tränen. Und weiter hinten, da kannst du ja gar keine richtigen Wörter mehr schreiben. Ach je.«

Es war widerwärtig, Johannes aus ihrem Notizbuch vorlesen zu hören. Im Übrigen klang es laut vorgelesen ganz fremd und überhaupt nicht so, als hätte sie selbst es geschrieben. Was waren das für kurze, rohe, abgehackte, entsetzlich primitive Sätze? Johannes war ganz ruhig. Sogar seine Stimme war sanft, fast zärtlich. Franziska konnte sich nicht erklären, wie es möglich war, dass er hier saß, in ihrem geheimen Parterreloch, von dem niemand außer Sina Kenntnis hatte. Natürlich hatte Petra ihm in Senden vom Tempelhofer Feld erzählt, daran hatte Franziska nie gezweifelt. Aber woher wusste er vom richtigen Haus, der richtigen Wohnung mit dem richtigen falschen Klingelschild? Und wie war er in ihre Wohnung gekommen? Dass er über Einbrecherqualitäten verfügte, wäre Franziska neu gewesen. Aber es war egal. Es spielte keine Rolle, wie er es bewerkstelligt hatte. Franziska wunderte sich nicht einmal besonders darüber, dass er hier saß. Wenn er nur endlich ihr Notizbuch weglegen würde. Sie schob ihre Hand in die Hosentasche und umfasste Sinas Springmesser. Das alles passte nicht zusammen, es war so grundlegend falsch. Johannes aus ihrem alten Leben saß in ihrem neuen, falls es Leben zu nennen war. Es passte nicht zusammen und geschah trotzdem. Oder war sie schon so am Ende, ähnlich wie Frau M., dass sie Johannes auf ihrem Sofa bloß fantasierte? Er sah gar nicht wütend aus, und das war besonders beängstigend.

»Habe ich mal im Fernsehen gesehen, wie man in fremde Wohnungen einbricht«, sagte er. »Mit einer auseinandergeschnittenen Plastikflasche. Machen rumänische Kinder so. Nennt sich Flipper, glaube ich, wie der Delfin. Dass du deine Tür nicht abschließt, ts ts.«

Zumindest war damit eine Frage beantwortet. Und auch den Rest erklärte er.

»Petras Mann hat mir gesagt, wo du wohnst. Er ist dir hinterhergerannt. Das hast du wohl nicht mitbekommen. Er ist ziemlich schnell, war mal Sportler. Wusstest du das? Würde man gar nicht denken, was? Er geht auch jeden Tag joggen, aber das weißt du ja. Oh, wie konnte ich das vergessen, du wohnst ja nicht mehr in Senden. Aber vielleicht erinnerst du dich noch daran. Er ist in dieselbe U-Bahn gesprungen und hat dich bis hierhin verfolgt. Und du hast überhaupt nichts mitbekommen. Tja, unscheinbar zu sein, hat wohl auch Vorteile. Jedenfalls hat er mir die Adresse gegeben. Er fand, das ist seine Pflicht. Guter Junge. Und das mit dem Namen war nicht weiter schwer. Petras Mann hat die Klingelschilder fotografiert. Dass du dich nicht Oswald nennst, war ja klar. Du hältst dich wohl für besonders schlau. Ich wusste schon, als er mir das Foto gezeigt hat, wie du dich jetzt nennst, Weber, klar, wie dein blöder Max Weber, über den hast du mir ja dauernd diese öden Vorträge gehalten.«

Franziska hatte die ganze Zeit noch nichts gesagt, aber das schien Johannes auch nicht zu erwarten. Sie hatte ihm Vorträge über Max Weber gehalten? Daran konnte sie sich überhaupt nicht erinnern. Es musste schon sehr lange zurückliegen.

»Falls du dich fragst, warum ich erst jetzt komme – wir hatten einen großen Auftrag in der Firma. Und einer in der Familie muss ja schließlich arbeiten. Du tust das wohl nicht, wenn ich mich hier so umsehe. Neuerdings gehst du also ins Museum, so so. Du hast dich doch nie für Kunst interessiert. Und übrigens auch nicht für mich. Und du bist jetzt eine Putze, verstehe ich dein Geschreibsel hier richtig?« Er stach mit dem Zeigefinger auf das aufgeschlagene Notizbuch ein. Hatte er ihre Arbeit auch immer so aufgefasst? Als Geschreibsel? »Putzfrau, Franziska, Putzfrau, ich bitte dich! Mein Gott, das ist so erbärmlich. Ich fand ja schon wissenschaftliche Mitarbeiterin nie so glorreich wie du, ist doch eigentlich nicht viel mehr als Studentin, oder? Aber Putze? Was würde Papa wohl dazu sagen? Und putzen könntest du auch zu Hause in Senden.«

Franziska war versucht, Putzhilfen zu verteidigen, doch bevor sie zu Wort kommen konnte, Sinas Messer in der Hosentasche fest im Griff, sagte Johannes: »Ich komme hier überhaupt nicht vor! Kein Wort! Zuerst dachte ich, ich hätte was übersehen, aber ich habe alles gelesen, dieses ganze weinerliche Zeug, und ich komme kein einziges Mal vor! Und in was für einem widerlichen Loch lebst du eigentlich? Man muss hier ja aufpassen, dass man sich nichts holt. Ekelhaft, sieh dich doch mal um, das ist einfach ekelhaft.«

Johannes hatte das alles gelesen und interessierte sich nur dafür, dass er nirgendwo auftauchte? Aber wurde man aus dem, womit Franziska seit einigen Monaten ihr Notizbuch füllte, überhaupt schlau? Sie wusste es nicht, konnte es nicht einschätzen. Sie hatte geschrieben, im Museum und auf Frau M.s Sessel, und jedes Mal eine neue Seite aufgeschlagen, ohne die zurückliegenden weiter zu beachten.

»Warum gehst du dann nicht wieder, wenn alles so ekelhaft ist?« Es war das Erste, was sie zu ihm sagte. »Nachher steckst du dich noch mit irgendwas an.«

»Das könnte dir so passen. Meinst du, ich lasse mir das alles gefallen? Dass du bei Nacht und Nebel auf Nimmerwiedersehen verschwindest und ich wie der letzte Idiot dastehe?«

Franziska stand mitten im Zimmer, näher an der Tür als bei Johannes. Er klappte das Notizbuch zu, hielt es eine Weile in der Hand und schleuderte es dann mit voller Wucht gegen die Wand. Ihr ging im Kopf herum, dass er recht hatte, wie erbärmlich sah diese Behausung doch aus, ihr ganzes neues kleines Leben – war ihr altes Leben wirklich so viel großartiger gewesen? –, und sie war eigenartigerweise froh, dass Johannes die Wohnung zu Gesicht bekam und nicht Frau M.

Er stand auf und kam auf sie zu. Franziska wich automatisch zurück. Auf den wenigen Quadratmetern gab es nicht viel Spielraum.

»Was hast du denn?«, sagte er. »Hast du etwa Angst vor mir?«

Franziska umschloss das Messer in der Hosentasche. Sie war sich nicht sicher, ob sie es wirklich würde benutzen können, wenn es darauf ankam. Sie hatte Johannes doch mal geliebt, oder nicht? Oder hatte eher ihr Vater seinen künftigen Schwiegersohn geliebt? Sie drehte sich um, obwohl das bedeutete, Johannes im Rücken zu haben, und ging die paar Schritte vom einzigen Zimmer durch den Flur bis zur Küche, die direkt neben der Wohnungstür lag. Er folgte ihr. In der Küche versetzte er ihr von hinten einen Stoß, so unerwartet, dass sie zu Boden stürzte.

Keine Spur mehr von seiner anfänglichen Ruhe. Johannes wurde jetzt laut. »Hast du gedacht, du kommst mir so einfach davon?«

Würden sich hier eigentlich die Nachbarn kümmern, wenn sie etwas hörten? Franziska hatte keine Ahnung. Außerdem kannte sie so gut wie keine Nachbarn. Begegnete sie im Treppenhaus oder im Hof jemandem, wusste sie meist nicht, ob diese Person im Haus wohnte oder nicht. Lauter scheue Gestalten wie sie selbst, die unbehelligt bleiben wollten.

Sie lag auf dem Boden. Ihr Arm und ihr Ellbogen schmerzten. Neben ihr bewegten sich Johannes’ Beine in der engen Küche, er gab sich keine Mühe, ihr auszuweichen, sondern trat absichtlich auf ihre Hand. Er fingerte an den wenigen Dingen herum, am Wasserkocher, der billigen Espressokanne, der Pfanne auf dem Herd. Pfanne, dachte sie. Pfanne. Kopf. Er öffnete die Schränke und ließ nacheinander Franziskas wenige Tassen und Gläser zu Boden fallen. Sie wusste, dass es nicht vorbei war, noch lange nicht, und dass ihm die Scherben ihrer Tassen und Gläser ganz sicher nicht reichen würden, aber mit dem Tritt in den Bauch, der dann kam, hatte sie dennoch nicht gerechnet. Ihr blieb die Luft weg. Auf genau diese Weise hatte sie auch Sina kennengelernt, Fastsechzehn, die böse Kleine. Aber es war kein Film, der sich wiederholte. Mit Sina war es gut ausgegangen. Heute und hier würde das nicht der Fall sein. Er hatte sie gefunden. So schnell. Oder so spät, je nachdem. Er hatte sechs Monate gebraucht. Aber er hatte sie gefunden. Sollte sie alles nun Folgende vollkommen wehrlos über sich ergehen lassen?

»Tja, Evis Beerdigung ist ja jetzt auch schon ein halbes Jahr her«, sagte er nach dem gut platzierten Tritt. »Stell dir vor, ich war sogar da. Das hättest du wohl nicht gedacht, was? Stimmt schon, ich konnte Evi echt nicht ausstehen. Auf dem Friedhof in Albachten, also ganz nah bei uns. Wenn du noch in Senden wärst und nicht hier in diesem Drecksloch, könntest du sie jeden Tag besuchen, die gute Evi. Es war schön, muss ich schon sagen, wirklich schön. Aber natürlich auch sehr traurig. Sie haben Bachs ›Erbarme dich‹ gespielt, das hat mir richtig gut gefallen, aus welcher Passion ist das noch gleich? Los, sag doch mal!« Er trat Franziska mit der Schuhspitze erneut in den Bauch. »Johannespassion? Ha ha, Johannespassion, lustig. Oder Matthäuspassion? Du hättest wirklich dabei sein sollen, Franziska. Du hast was verpasst.«

Franziska sah nach oben, zum Küchentisch, auf dem noch ihre Kaffeetasse vom Morgen stand. Ihre einzig verbliebene intakte Tasse, soweit sie das überblickte. Heute Morgen, als sie noch nicht ahnte, was sie am frühen Abend bei ihrer Rückkehr erwarten würde. Johann Wilhelm Preyers Gesicht war aus dieser Entfernung und von hier unten nicht zu erkennen. Franziska war Johannes wirklich böse wegen der Tassen und Gläser. Nicht dass sie schön oder teuer gewesen wären, aber es waren ihre Tassen, ihre ganz eigenen, in ihrem neuen Leben.

Sie hätte in die Hosentasche fassen können, Sinas Messer greifen, vielleicht war es an der Zeit, dass mit diesem Messer endlich etwas Sinnvolles, Gutes vollbracht wurde, wenn es schon einmal in der Welt war, aber Johannes hatte sich nach unten begeben und hielt ihre Arme auf den Boden gedrückt. Keine Chance, an das Messer zu kommen.

Den Weg, den du einmal beschritten hast, musst du auch zu Ende gehen.

Dann richtete er sich wieder auf und war einen Moment unachtsam. Diesen Moment nutzte Franziska und trat ihm so fest, wie es in ihrer Lage möglich war, gegen das Knie. Die Kniescheibe war ein fragiles Ding, noch wackeliger als der alte Küchentisch. Und Johannes war zwar größer und stärker als sie, aber gleichzeitig auch dieser leptosome, ein wenig unsportliche Typ, trotz seiner Fahrradleidenschaft in zweiundzwanzig Gängen.

Sie hatte gut getroffen, und es wirkte. Er lehnte an der Spüle und hielt sich übertrieben jammernd das Knie. Überall lagen Glas- und Keramikscherben herum. Franziska stand auf. Sie trat in Strümpfen in eine Scherbe und schnitt sich die Fußsohle auf. Durch den Strumpf sickerte sofort Blut. Sie musste die Wohnung verlassen. Schuhe, Jacke, Schlüssel, Geld. Schuhe anziehen, Jacke anziehen, Rucksack greifen. Und wohin, bitte schön, Franziska Oswald, Marie Weber? Egal. Schuhe, Jacke, Schlüssel, Geld, Handy. Sie würde Sina anrufen, etwas anderes fiel ihr nicht ein.

Johannes stieß Franziska mit aller Kraft gegen die Wohnungstür, die laut schepperte. Sie ging erneut zu Boden und schrie. Musste das nicht irgendwer von den Nachbarn hören? Johannes setzte sich auf sie und legte die Hände um ihren Hals. Franziska sah in seine sehr blauen Augen, die sie doch immer gemocht hatte. Er hockte auf ihr und drückte zu. Ihr wurde schwindelig, und sie strampelte automatisch, weil ihr die Luft wegblieb. Es hämmerte in ihrem Kopf, sie spürte, wie ihr Gesicht knallrot wurde, ihr Mund öffnete sich, sie versuchte, nach Luft zu schnappen.

Sie würde am nächsten Morgen nicht mehr aufwachen. Es war alles umsonst gewesen, die Flucht in eine Stadt, in der sie niemand vermutete, das Verwischen aller Spuren, das geheime Konto, der falsche Name, wie geschickt und schlau und vorsichtig sie sich bei allem angestellt hatte. Sie würde kein weiteres Mal auf der dünnen Matratze auf den Europaletten in einen unruhigen Schlaf fallen. Sie würde gleich nämlich für immer schlafen. Es war ganz sicher nicht wie Schlafen. Die Ewigkeit. Evi. Eigentlich hatte sie sich inzwischen an das Parterreloch gewöhnt. Wie gut, dass sie heute bei Frau M. geputzt hatte und nicht morgen oder in den nächsten Tagen ein Termin bei ihr anstand, zu dem sie dann nicht erscheinen würde, ohne vorher Bescheid zu sagen. Die Vorstellung, unzuverlässig zu sein, war Franziska selbst jetzt unangenehm.

Wie lange dauerte das wohl? Sekunden? Oder lange, qualvolle Minuten? Bitte, bitte keine qualvollen Minuten.