34 Tag minus eins

 

Als sie in ihren Wagen stieg, unbeholfen wegen ihrer schmerzenden Hüfte und der heranstürzenden Gefühle, die sie schwindelig machten und taumeln ließen, als wäre sie betrunken oder krank, zuckte ein Blitz über den Himmel. Nur ein einziger. Es folgte kein Gewitter, nicht einmal Regen. Günstig für ihr Vorhaben.

Ihre neue Zeitrechnung würde doch erst morgen beginnen, am Mittwoch. Und wenn morgen, am Mittwoch, Tag null war – was war dann der Dienstag? Minus eins?

Der Schmerz in der Hüfte schränkte ihre Bewegungsfreiheit ein, und mit ihrem Gesicht stimmte auch etwas nicht, aber sie versuchte, nicht darauf zu achten. Es gab jetzt Wichtigeres, und sie musste sich beeilen. Sie musste ihren Verstand in Gang kriegen, jeden einzelnen Schritt überdenken, durfte nicht übereilt handeln. Sie berührte die kostbaren, todgeweihten Mitbringsel auf dem Beifahrersitz, um sich zu vergewissern, dass sie wirklich neben ihr lagen, und fuhr los. Den Weg, den du einmal beschritten hast, musst du auch zu Ende gehen.

Nichts hatte darauf hingedeutet, dass sich dieser Nachmittag im November von den anderen Arbeitstreffen unterschied. Es war ein dunkler, deprimierender Tag. Johannes würde an diesem Abend erst sehr spät nach Hause kommen. Er hatte Franziska angerufen und ihr mitgeteilt, dass seine Mutter überraschend erkrankt sei und er zu ihr fahren müsse. Wahrscheinlich würde er sogar bei ihr übernachten. Franziska hielt die Sorge um seine Mutter für übertrieben, aber es kam ihr sehr gelegen. So musste sie nicht in dem Wissen, dass Johannes zu Hause saß und auf sie wartete, ständig auf die Uhr sehen. Wenn er auf sie wartete, rief er gewöhnlich zigmal an, um sich zu erkundigen, wann sie denn nach Hause komme. Heute aber würde ihn seine Mutter komplett in Beschlag nehmen.

Franziskas und Evis Arbeitstreffen zu zweit hatten eine lange Tradition und fanden meist in Evis Wohnung in Münster-Roxel statt. Schon in ihrer Studienzeit hatten sie damit angefangen. An Evis Esstisch, übersät mit Büchern, Ordnern und Ausdrucken, mittendrin der Laptop, hatten sie früher über ihren Hausarbeiten gebrütet, später über ihren Dissertationen. Seit sie beide Stellen im Mittelbau hatten, besprachen sie hier die Lehrveranstaltungen, die sie künftig würden abhalten müssen. Die vielen Stunden an Evis übervollem Esstisch all die Jahre waren die wichtigsten in Franziskas wissenschaftlichem Werdegang, wichtiger noch als die Zeit, die sie im Institut, in Kolloquien oder in ihrem Arbeitszimmer in Senden verbrachte.

In Roxel war es fast noch ruhiger als in der Siedlung in Senden. Zuerst tranken sie Tee, lästerten wie meistens genüsslich über Studierende und aßen den Kuchen, den Franziska mitgebracht hatte. Franziska war entspannt und gut gelaunt, weil das Problem mit Johannes’ symbiotischer Anhänglichkeit heute entfiel, seiner Mutter und ihren Krankheiten sei Dank. Sie würde seine Mutter morgen anrufen und sich nach ihrem Zustand erkundigen. Morgen war früh genug. Heute war ja ihr Sohn bei ihr.

Es war alles wie immer. Nichts deutete darauf hin, dass sich dieser Dienstag im November von anderen Tagen unterschied. Oder Franziska hatte die Zeichen nicht rechtzeitig erkannt. Kleine scharfe Bemerkungen. Ungewohnte Misstöne. Sticheleien, die eindeutig eine Grenze überschritten und nicht mehr als Scherz zu deuten waren. Die Stimmung in Evis Wohnzimmer, das ihr gleichzeitig als Arbeitszimmer diente, wurde ungemütlich. Evi war nicht bei der Sache und wirkte zunehmend unruhig, fast so, als wäre Franziska nicht willkommen. Franziska gefiel nicht, wie sich der Nachmittag entwickelte und wie Evi mit ihr sprach. Sie war nicht nur ihre Kollegin, sondern auch eine gute Freundin. Erst waren sie Kommilitoninnen gewesen, hatten dieselben Fächer belegt und zur selben Zeit studentische Hilfskraftstellen angenommen. Sie hatten alles zusammen gemacht und sich angefreundet. Eine Lebensfreundschaft, hatte Franziska immer gedacht. Sie hatten lustvoll Theorien diskutiert und von wechselnden Lieblingstheoretikern geschwärmt wie andere junge Frauen von Popstar-Idolen. Sie hatten sich immer gegenseitig darin bestärkt, eine Karriere in der Wissenschaft anzustreben. Beide brachten dafür die nötigen Voraussetzungen mit. Franziska vielleicht noch ein bisschen mehr.

In ihrer Welt war alles gut gewesen. Glatt. Einfach. Zumindest hatte Franziska das lange gedacht. Musterschülerin mit guten Noten, dabei unauffällig. Bloß keine Streberin. Die waren unbeliebt. Sie war unauffällig geblieben, aber nicht auf Graue-Maus-Art. Keine Außenseiterin. Das war genauso schlimm wie Streberin. In der Wissenschaft war sie dann aufgeblüht und hatte rasch gemerkt, dass hier ihre Bestimmung lag. Sie würde es weit bringen. Sagte das nicht auch ihr Doktorvater immer?

Nichts davon war geplant. Natürlich nicht. Sie war doch bestens gelaunt zu Evi gefahren. Franziska hatte Schwierigkeiten mit den Lehrveranstaltungen im kommenden Semester, genauer gesagt mit den Literaturlisten dafür, und erhoffte sich Evis Rat. Evi wusste fast immer Rat und zeichnete sich durch große Hilfsbereitschaft aus, all die Jahre. Am liebsten wäre Franziska gewesen, wenn sie brauchbare und kluge Literaturlisten aus ihrem Computer hervorgezaubert hätte, wie sie es sonst auch immer bereitwillig tat.

Doch Evis Stimmung besserte sich nicht. Im Gegenteil. Aus schnippischen Bemerkungen wurden bald handfeste Kränkungen. Evi wollte sie loswerden, das spürte Franziska genau. Und auf die Frage nach den Literaturlisten war sie bisher nicht eingegangen, hatte nicht einmal ihren Computer eingeschaltet. Stattdessen sprach sie plötzlich die gemeinsame Herausgabe eines Bandes über Bruno Latour und die Akteur-Netzwerk-Theorie an. Das lag schon eine ganze Weile zurück. Publikationen waren in diesem Metier von immenser Bedeutung, und dieser Band, noch vor ihren Promotionen, hatte ihnen beiden eine Menge Renommee eingebracht. Eine Weile galten sie deswegen als kleine Überflieger. Franziska hatte das gemeinsame Projekt auch immer als Symbol für ihre Freundschaft betrachtet, die sich dadurch auszeichnete, dass sie sich nichts wegzunehmen versuchten wie in der Wissenschaft üblich, sondern sich gegenseitig bereicherten.

Jetzt behauptete Evi, die meiste Arbeit daran habe sie gemacht. Wie kam sie darauf?

»Dass ich dich als Herausgeberin mit ins Boot geholt habe, war mehr eine Gefälligkeit«, sagte sie. »Du hast damals keinen einzigen Text korrigiert. Die Einleitung musste ich allein schreiben. Du hast dich nicht mal am Schluss um die Angaben zu den Verfassern gekümmert, weil irgendwas war, irgendwas mit Johannes, oder du warst wieder so überlastet, keine Ahnung. Das musste ich auch machen.«

Stimmte das? Franziska konnte sich nicht erinnern. Dann erwähnte Evi, wie oft sie Franziska im Studium angeblich bei den Seminararbeiten geholfen hatte. »Mit den Arbeiten fing es an, und dann ging es immer so weiter. Bis heute.«

Sollte das hier eine Art Abrechnung werden? Gut, sie hatte ihr wirklich manchmal geholfen, aber keineswegs in dem geschilderten Ausmaß. Das war völlig übertrieben.

All die Jahre war Evi verständnisvoll und unterstützend gewesen. Seit einiger Zeit aber schleuderte sie kleine Giftpfeile ab. »Du kommst nicht richtig vom Fleck, oder?«, hatte sie mehr als einmal gesagt. »Aber mach das ruhig in deinem Tempo. Schließlich hast du ja auch noch das Haus. Da fehlt oft wohl die Konzentration zum Arbeiten. Und Johannes, nicht zu vergessen.«

Franziska hatte versucht, Bemerkungen dieser Art keine Bedeutung beizumessen, sie zu überhören, was ihr jedoch nicht immer gelang. Und sie blieben in ihrem Kopf haften. Nach außen hin waren sie nach wie vor Freundinnen. Hatte das alles, diese unmerklichen Veränderungen in Evis Wesen, nicht kurz vor einem Jahreswechsel begonnen? Johannes und sie hatten eine kleine Silvesterparty veranstaltet. Franziska hatte Evi und Sebastian erst gar nicht eingeladen, weil Johannes unfähig war, sich mit ihnen zu unterhalten, was manchmal geradezu peinliche Ausmaße annahm. In dieser Neujahrsnacht, als die letzten Gäste gegangen waren, hatten sie sich gestritten, so heftig, dass Franziska irgendwann in der Küche nach allem Möglichen griff, was ihr in die Finger geriet, herumstehende schmutzige Gläser, die sie noch nicht in die Spülmaschine geräumt hatten, Besteck, kleine Schalen mit Resten von Erdnüssen, Crackern, Oliven. Untermalt wurde das Ganze von Bach. Die Chaconne in d-Moll, wenn sie sich richtig erinnerte. Als wüsste Johannes, was Moll war. Sie dauerte knapp vierzehn Minuten. In vierzehn Minuten konnte eine Menge passieren. Seit einer Weile hatte Johannes sich angewöhnt, ständig Bach zu hören, als verstünde er etwas davon. Brandenburgische Konzerte, Cello-Suiten. Wieso immer nur Bach? Es machte sie wahnsinnig. Konnte er nicht auch Mozart, Händel, Vivaldi oder sonst wen hören? Zog er so eine Art Bach-Seminar durch? Franziska schleuderte nacheinander alles zu Boden und gegen die Wände, die Gläser, das Besteck, die Schalen mit den Resten darin. Sie traf dabei auch Johannes und schnitt sich anschließend beim Aufsammeln der Scherben in die Hand. Diese einsame, klagende Violine geisterte durch das Haus in der Siedlung. Und durch Franziskas Gedanken geisterte Evis Androhung, im neuen Jahr werde alles anders als im zurückliegenden und den Jahren davor. Ihre Verweigerung, sie zu unterstützen. Franziska war nicht wütend auf Johannes gewesen, was sie ihm aber nicht sagte. Ihre Wut galt Evi, die gar nicht anwesend war. Am letzten Tag vor den Weihnachtsferien hatte sie ihr im Institut mitgeteilt, dass Franziska im kommenden Jahr für sich selbst sorgen müsse, weil es so nicht mehr weiterging.

Es war dann wieder in Vergessenheit geraten. Ein kurzer übler Traum. Evi hatte sich besonnen und Franziska wie gehabt bei der Dissertation geholfen.

»Ich habe ungefähr die Hälfte deiner Diss geschrieben«, sagte Evi an dem dunklen, deprimierenden Dienstag im November an ihrem Esstisch. »Seien wir mal ehrlich, allein hättest du das nie hinbekommen. Du würdest heute noch daran sitzen.«

Das stimmte doch gar nicht. Es war höchstens ein Drittel gewesen. Nicht die Hälfte. Vielleicht nicht mal ein ganzes Drittel, sondern nur ein Teil, ein ganz kleiner, eines Drittels. Und den hatte Evi auch gar nicht richtig geschrieben, wie sie jetzt sagte, sondern Franziska dabei bloß ein bisschen unterstützt. Lebensfreundinnen taten das. Manche Leute behaupteten, Marianne Weber, die Ehefrau Max Webers, habe in Wahrheit viele seiner Texte geschrieben. Was erzählte Evi denn da? Franziska hatte immer so hart gearbeitet.

»Und wie soll das in Zukunft aussehen?«, sagte Evi. »Soll ich auch noch deine Habil schreiben? Hast du damit überhaupt schon angefangen? Oder hast du wieder irgendwelche Blockaden? Du musst jetzt allein klarkommen, ich habe dafür einfach keine Zeit mehr. Irgendwann werden sich unsere Wege ja sowieso trennen. Und bei den Seminaren muss ich dir auch so oft helfen, weißt du eigentlich, wie zeitraubend das ist? Und machen wir uns nichts vor, Franziska, du bist nicht wirklich gut. Und du bist ständig überfordert. Im Institut weiß das jeder. Das musste dir endlich mal jemand sagen. Ich sage es dir im Guten.«

Angesichts dieser ganzen Ungeheuerlichkeiten, die Evi an diesem Dienstag von sich gab, sollte Franziska besser gehen. Evi war so selbstgefällig und hässlich, sogar ihr Gesicht wurde jetzt hässlich. Sie war keine Freundin. Nie gewesen. Warum hatte Franziska das nicht schon früher gemerkt? Evi war nicht einmal eine Konkurrentin im Wissenschaftsbetrieb, zumindest in ihren Augen nicht, weil sie es Franziska gar nicht zutraute, wie sich jetzt herausstellte. Dabei war Franziskas Performance bei Vorträgen viel besser. Und besser Englisch als Evi konnte sie auch. Sie sollte jetzt gehen, diese vollgestopfte Vierzig-Quadratmeter-Wohnung verlassen, Evis Denkerstübchen, und nach Senden fahren. Allerdings hatten sie noch nicht über die Literaturliste geredet, die genauso wie Franziskas Habilitationsschrift bislang aus nichts weiter als einer fast leeren Seite bestand.

Sie stand auf, ging um den Esstisch herum und trat hinter den Stuhl, auf dem Evi saß. Mit aller Kraft riss sie ihre Lebensfreundin an den Schultern nach hinten, sodass sie mitsamt dem Stuhl umfiel. Es war befriedigend. Es tat gut. Gedanke und ausgeführte Tat im selben Moment, ohne Zeitverzögerung. Dem fallenden Stuhl wich Franziska geschickt aus. Sie musste netter zu Johannes sein, sie hatte den armen Johannes sehr vernachlässigt. Vielleicht hatte er ja recht, von Anfang an, und mit Evi konnte man nicht reden.

»Spinnst du jetzt? Bist du total bescheuert? Ich hätte mir sonst was brechen können! Was sollte das?« Evi hatte sich erhoben und richtete den Stuhl wieder auf. Sie griff mit beiden Händen Franziskas Oberarme, so fest wie mit Schraubstöcken, es tat weh, und schob sie energisch aus dem Wohnzimmer, in den winzigen Flur bis zur Wohnungstür. Sie nahm Franziskas Jacke von der Garderobe und warf sie ihr zu. »Du gehst jetzt am besten.«

Und die Literaturliste?

Franziska war nicht schnell genug, ihre Jacke fiel zu Boden. Außerdem stand ihre Tasche noch im Wohnzimmer neben dem Esstisch. So ließ sie sich nicht behandeln.

»Du gehst jetzt. Sofort.«

Was bildete Evi sich ein? So ließ Franziska sich nicht behandeln. Und damit das ein für alle Mal klar war, schlug sie ihr ins Gesicht. Eine Ohrfeige, mehr nicht, nichts Weltbewegendes, eine läppische Ohrfeige, die nur einen schwachen roten Abdruck auf Evis Wange hinterließ.

Franziska rechnete mit allem Möglichen, nicht aber damit, dass die gemeinhin friedfertige, schüchterne Evi sich wehren würde. Sie stieß sie nach hinten, und in dem engen Flur knallte Franziska zuerst mit der Hüfte gegen den scharfen Rand einer Metallkommode und dann mit dem Gesicht an den Türrahmen.

Das machte sie noch wütender. Oder verzweifelter, sie konnte es nicht unterscheiden. Evi war doch immer ihre Freundin gewesen, ihre Vertraute, bei Evi war sie nie gezwungen gewesen, einen guten Eindruck zu machen, bei ihr konnte sie so sein, wie sie war, auch wenn das bedeutete zuzugeben, dass sie mit ihrer Arbeit nicht vorankam.

»Das alles ist ja wohl nicht wahr«, sagte Evi. »Ich bin morgen nicht im Institut, du hast das Büro also für dich. Das ist auch besser so. Vielleicht haben wir uns in ein paar Tagen ja wieder beruhigt. Vielleicht müssen wir in ein paar Tagen auch darüber lachen. Geprügelt habe ich mich das letzte Mal als Kind.« – Die schüchterne Evi hatte sich als Kind ganz bestimmt nicht geprügelt. – »Nimm mir nicht übel, was ich gesagt habe, aber es war mal an der Zeit, das so deutlich auszusprechen. Ich muss mich jetzt wirklich um mich selbst kümmern. Ich bin bald mit der Habil fertig, und dann … mal sehen, was kommt. Hauptsache, weg.«

Franziska stand mit dem Rücken zu Evi. Ihre Jacke lag irgendwo hinter ihr auf dem Boden. Sie rieb sich das Gesicht. Evi in ihrem Rücken redete noch weiter, jetzt mit sanfterer Stimme, und irgendwann fing sie sogar leise zu lachen an. Das fand Franziska sehr taktlos. Sie ging in die Knie und gab vor, ihre Schnürsenkel zu binden. Sie hatte keinen Plan, brauchte nur einen Moment Zeit, einen Moment, in dem Evi sie nicht mit diesem neuen hässlichen Gesicht ansah. Auf dem Boden neben dem Türrahmen, gegen den sie mit dem Kinn gestoßen war, lag ein Hammer. Evi hatte gerade ein Schuhregal aufgebaut, als Franziska zu ihr gekommen war, und das Werkzeug noch nicht beiseite geräumt. Franziska griff nach dem Hammer, richtete sich auf, drehte sich um und schlug zu – alles fast in einer einzigen geschmeidigen Bewegung. Ihre Performance war schon immer gut gewesen.

Danach verrichtete sie das Notwendige wie ein Roboter. Sie bemühte sich, nicht auf die mitten im kleinen Flur liegende Evi zu treten, sondern sie weiträumig zu umrunden, was nicht ganz leicht war. Dass sie immer noch in dieser beengten Wohnung lebte. Aber sie wollte ja weg, weg von Münster, irgendwo eine Professur annehmen, oder zuerst eine Junior-Professur. Franziska hob ihre Jacke auf und überprüfte sie auf Blut. Sie wickelte den Hammer in Zeitungspapier. Ging in Evis Wohn- und Arbeitszimmer, nahm den Laptop vom Tisch und schob ihn in ihre Tasche. Der Memorystick in Form eines Krokodils, Evis einziges Backup ihrer Arbeit, steckte in einem der Anschlüsse. Evi sagte immer, sie traue Clouds nicht und würde deswegen nichts dort speichern, zumindest nichts Wichtiges. Ihre angefangene oder bereits fertige Habilitationsschrift und andere Projekte befanden sich nur auf der Festplatte des Computers und als Sicherungskopie auf dem Krokodil. Krokodil, wie kindisch und auch unpassend, so zurückhaltend, wie Evi sich bei Vorträgen gab, schüchtern und ohne Biss. Sie druckte, was sie schrieb, fast nie aus, das wusste Franziska.

Draußen zuckte dieser einzige Blitz über den Himmel. Als Franziska losfuhr, hatte sie noch keinen Plan. Ihr Verstand, auf den sie so große Stücke hielt, war ausgeschaltet, zumindest beträchtliche Teile davon. Vermutlich war das alles gar nicht klug. Evi sollte ihr doch bei den Seminaren helfen. Was sollte sie jetzt mit den verdammten Seminaren machen?

Auf dem kurzen Weg von Münster-Roxel nach Senden erschien es ihr plötzlich unmöglich, Laptop, Stick und erst recht den in Zeitung gewickelten Hammer mit nach Hause zu nehmen. Nichts davon durfte bei ihr gefunden, mit ihr in Verbindung gebracht werden. Also musste Franziska es sich vom Hals schaffen. Darauf, Evis Habilitationsschrift zu lesen, legte sie keinen Wert. Sie schrieb ja schließlich nicht von anderen ab.

Das Haus in der Siedlung war komplett dunkel. Franziska ging hinein, schaltete in Küche und Wohnzimmer das Licht an, setzte sich, ohne die Jacke auszuziehen, sie musste ja gleich wieder los, an den Esstisch und rief bei Johannes’ Mutter an. Er ging ans Telefon. Mitfühlend erkundigte Franziska sich nach seiner Mutter und hörte die Verwunderung und auch die Freude darüber in seiner Stimme.

»Gott sei Dank, dass sie nicht ins Krankenhaus muss«, sagte sie. »Ich habe mir Sorgen um sie gemacht. Ja, bleib heute am besten bei ihr. Ich weiß doch, wie schnell sie sich ängstigt.«

»Stört dich das auch nicht?«, fragte er.

»Nein, natürlich nicht. Ich werde noch ein bisschen arbeiten. Wir sehen uns ja dann morgen. Ich koche abends was. Bestell ihr bitte Grüße von mir. Und gute Besserung.«

Franziska musste das Zeug loswerden. So, dass es niemals gefunden würde. Von diesem einen Gedanken war sie beseelt. Vergraben, dachte sie. Hammer, Krokodil und Laptop. Wenn es vergraben ist, ist es ja nicht zerstört. Dann habe ich es nicht zerstört. Es existiert immer noch.

Wahrscheinlich war das, was ihr in den Sinn kam, mühsam, unnötig kompliziert und aufwendig, wenn es auch viel einfacher gegangen wäre. Öffentlicher Abfalleimer. Endstation Müllverbrennungsanlage. Doch sie wollte nicht für die Zerstörung verantwortlich sein. Ihr gefiel der Gedanke, dass es dann noch vorhanden war.

Nach dem Telefonat ging Franziska in die Garage und suchte nach einer Schaufel. Johannes hatte seit ihrem Einzug ständig neues Werkzeug aus dem Baumarkt angeschafft, aber eine große Schaufel fand sie nicht, nur eine kleine zum Umtopfen von Pflanzen. Besser als nichts. Besser als mit bloßen Händen. Ihre Hüfte tat so weh, dass sie sie bei jedem Schritt spürte. Schmerztablette. Spätestens morgen hätte sie riesige Hämatome. Auch im Gesicht. Ein blauer Fleck im Gesicht, wie schrecklich! Konnte sie damit überhaupt zum Institut fahren?

Sie hatte den Mann im vergangenen Sommer, als Johannes und sie sich auf ihrer Radtour verirrt hatten, nie ganz vergessen. Wie er draußen ein kleines Bündel vergrub. Und jetzt tauchte dieser Mann in ihrem Bewusstsein empor und setzte sich dort fest.

Bewaffnet mit der kleinen Schaufel und einer Taschenlampe, stieg sie wieder ins Auto. Laptop und Krokodil lagen auf dem Beifahrersitz, der Hammer im Fußraum darunter. Johannes käme erst morgen nach der Arbeit. Und Evi war morgen nicht im Institut.

Was war überhaupt mit Evi? Franziska hatte sich das keinen einzigen Augenblick gefragt. War sie durchtrieben? Nein. Das konnte ihr niemand vorwerfen. Franziska war getrieben. Und zwar von ihrem unbedingten Willen.

Erst später, als alles erledigt und sie verdreckt und mit immer noch schmerzender Hüfte wieder zu Hause war – natürlich hatte es viel länger gedauert als angenommen, und sie hatte zwischendurch immer aufgeben wollen, was für eine alberne Aktion, mitten in der Nacht, ausgerüstet mit einer Taschenlampe, als wäre sie eine Höhlenforscherin –, wurde ihr klar, dass sie nicht einfach wie gewohnt weitermachen konnte. Dass ihr ganzes bisheriges Leben ab diesem Zeitpunkt zu Ende war.

Und so entstand der Plan. Während der Sprechstunde mit den Studierenden am nächsten Tag setzte er sich wie ein von Geisterhand gelegtes Puzzle zusammen. Nach dem Institut nach Hause. Hoffen, dass Johannes noch nicht zurückgekehrt war. Das Nötigste packen. Auf vieles würde sie verzichten müssen. Sie war Evi wirklich böse wegen der Hüfte und wegen des Kinns. Wozu brauchte sie für ein simples Schuhregal überhaupt einen Hammer? Eigentlich war sie selbst schuld. Und dass Franziska nur ein magna hatte und kein summa, daran war wahrscheinlich auch Evi schuld. Franziska hatte in der Sprechstunde immer den Kopf zur Seite drehen müssen, damit niemand das Hämatom am Kinn sah. Mit dem Gepäck von zu Hause zurück nach Münster, aber diesmal nicht zum Institut, sondern zum Bahnhof. Von dort mit dem Zug. So weit weg wie möglich.

Wenn Evi es überlebt hatte – wovon Franziska zunächst ausging, sie wollte auch von nichts anderem ausgehen, so fest war der Schlag mit dem Hammer gar nicht gewesen –, wäre alles fort, unauffindbar vergraben in dunkler Münsterländer Erde. Sogar die kluge Evi würde viele, viele Monate brauchen, um das Verlorene zu rekonstruieren und neu zu schreiben. Dass sie aber auch nie einen Ausdruck davon anfertigte, wie unklug. Und wenn nicht? Andere Kollegen töteten auch. Durch Intrigen, durch Networking und Ausgrenzung. Ausgrenzen konnten Akademiker besonders gut. Wenn Evi es nicht überlebt hatte, war es ohnehin egal. Niemand würde sich für ihre fast fertige Habilitationsschrift interessieren oder sie je finden. Es sei denn, jemand beerdigte dort die nächste Katze.