Eine Austerngeschichte
Auster, die. Ein schleimiges, plumpes Schalentier, das Männer, mit der Zivilisation kühn geworden, ohne vorangehende Entfernung der Eingeweide verspeisen!
Ambrose Bierce
Sie ist das wahrscheinlich bekannteste und beständigste aller Aphrodisiaka und hat seit einem Jahrtausend einen ganz besonderen Platz in unser aller Herzen und Mägen inne. Wie genau es diesem fischigen, klumpigen Weichtier, das in seiner eigenen Brühe schwimmt und etwas ähnelt, das man während der Grippesaison aus seinem Hals hochzieht, gelang, zum Go-to-Liebesnahrungsmittel zu werden, ist Gegenstand einiger Diskussion. Wusstet ihr, dass Austern Augen haben? Augen! Aber eins nach dem anderen – wirken sie tatsächlich aphrodisierend?
2005 machte die Nachricht die Runde, »die Wissenschaft« habe endlich bewiesen, dass Austern ein Aphrodisiakum seien.[1] Aber das stimmte nicht ganz. Professor George Fisher und eine Gruppe Wissenschaftler*innen aus den USA und Italien präsentierten der American Chemical Society ihre Forschung zu den aphrodisierenden Eigenschaften der Meeresmuscheln. Zwei Jahre zuvor hatte dasselbe Team Untersuchungen veröffentlicht, die nahelegten, dass D-Asparaginsäure (DAA) und N-Methyl-D-Aspartat (NMDA) die Ausschüttung sexueller Hormone (zum Beispiel Progesteron und Testosteron) in Ratten anregen.[2] Die Studie von 2005 wies das Vorkommen von DAA und NMDA in manchen Weichtieren nach, nämlich in Miesmuscheln und Venusmuscheln. Hieraus schloss das Team, dass der Verzehr einen aphrodisierenden Effekt auf Menschen haben könnte.[3] Entscheidend ist aber, dass die Studie nichts über Austern aussagt und dass es keine Untersuchungen mit Menschen gab, die diese These hätten stützen können – alles reine Theorie.
Illustrationen von sechs Schalentier-Typen – muli (Auster), madao (Schwertmuschel), xian (Venusmuschel), beng (Flussperlmuschel), xianjin (eine Art Venusmuschel) und zhenzhu mu (Perlenauster), aus Li Shizhens pharmazeutischer Enzyklopädie Bencao Gangmu (Große Enzyklopädie der Materia Medica), 1596.
Aber eine gute Story ist eine gute Story, also stürzte sich die Presse auf diese Ergebnisse und verkündete: »Rohe Austern sind tatsächlich ein Aphrodisiakum, behaupten Wissenschaftler!«[4] Nur dass sie das nicht getan hatten. Es gibt nicht den leisesten Hinweis darauf, dass sich beim Verzehr von Austern irgendetwas hebt außer deinem Klodeckel, wenn du eine schlechte erwischt hast. Abgesehen davon sind Austern aber unfassbar gesund. Sie haben nicht nur lächerlich wenige Kalorien, sie sind auch randvoll mit Zink, Kupfer, Vitamin B12, Vitamin C und Lean-Proteinen. Interessanterweise verliert ein Mann bei jedem Austerntauchgang (um es mal so zu sagen) zwischen einem und drei Milligramm Zink, die berühmte Molluske ist also der ideale Snack zur Auffrischung von Spermareserven.[5] Austern mögen wirklich gut für uns sein, aber eine Art Viagra aus dem Meer sind sie nicht.
Die Muscheln sind ein sehr altes Lebensmittel, ihre Schalen wurden an vielen paläontologischen Grabungsstätten überall auf der Welt gefunden. In einem fossilen Riff an der Küste des Roten Meeres in Eritrea hat man Werkzeuge zum Öffnen der Schalentiere gefunden, die etwa 125000 Jahre alt sind.[6] Es gibt viele verschiedene Austernarten, und man trifft sie in allen Weltmeeren an. Austern sind uralt, in Fülle vorhanden, und vielleicht kann man sie sogar als das erste Fast Food bezeichnen – aber warum gelten sie als sexy?
Botticellis berühmtes Gemälde von der Geburt der Venus zeigt die Göttin in einer Jakobsmuschel, nicht in einer Auster. Sandro Botticelli, La Nascita di Venere (Die Geburt der Venus), 1486.
Eine nachvollziehbare Begründung könnte darin liegen, dass Austern irgendwann mit der griechischen Göttin der Liebe, Aphrodite (und später bei den Römern Venus), assoziiert wurden. Aphrodite soll aus dem Meer stammen, laut dem griechischen Dichter Hesiod (geboren um 700 v. Chr.) entstieg »die Schaumgeborene« vollendet dem Wasser, nachdem Kronos die Genitalien von Uranos ins Meer geworfen hatte.[7] Hesiod erwähnt in seiner Geschichte keinerlei Weichtiere, aber in Gemälden der Renaissance, wie in Botticellis Geburt der Venus (um 1486), steht Aphrodite auf einer Jakobsmuschel, und hier mag der Ursprung des sexy Rufs von Muscheln liegen – und da sind sie nicht die Einzigen.
Auch Spatzen brachte man mit Aphrodite in Verbindung, und wie die Austern wurden auch sie in der klassischen Welt bald als wirkungsvolles Aphrodisiakum betrachtet. Sogar im Kamasutra stehen einige Rezepte mit Spatzeneiern, die die Leidenschaft anfachen sollen.
Chataka ist der Name des gemeinen Sperlings. Nimm den Saft seiner Eier, mit Reis gemischt und in Milch gekocht, mische dann alles mit Honig und Ghee. Nach dem Verzehr erstarken die sexuellen Fähigkeiten so sehr, dass man eine unbegrenzte Zahl junger Frauen haben kann.[8]
Der Glaube an die stimulierende Wirkung von Spatzenhirn hielt sich über Hunderte von Jahren hartnäckig. »Isst man das Gehirn von Spatzen, so steigert das die Lust beträchtlich«, behauptet auch Nicholas Culpepers The Complete Herbal von 1653 – aber zurück zu den Austern.[9]
Ob man Austern im antiken Griechenland und Rom wirklich als Aphrodisiakum betrachtete, ist unklar, aber mit Sicherheit wurden sie als Luxusgut wahrgenommen. Kaiser Clodius Albinus war angeblich dazu fähig, vierhundert von den schleimigen Dingern auf einen Sitz zu verdrücken.[10] Plinius der Ältere berichtet von opulenten Festgelagen, bei denen schneebedeckte Austern gereicht wurden.[11] Die Römer*innen glaubten, Austern seien gut bei einer Vielzahl von Leiden (von Verdauungsstörungen bis Hautproblemen), aber von etwaigen sexuellen Vorteilen gibt es kaum Erwähnungen.
Dafür müssen wir bis in die Frühe Neuzeit vorspulen, denn hier fanden Austern endgültig ihre Bestimmung als das kulinarische Anmach-Essen schlechthin.
Alain Chartier konstatierte schon im frühen 15. Jahrhundert: »Warum wurden Austern in antiken Zeiten der Venus geweiht? Weil Austern Wollust hervorrufen.«[12] Und tatsächlich, mit der Renaissance tauchen Austern als Unterstützung in Liebesdingen vermehrt in medizinischen Schriften auf. Zum Beispiel empfiehlt sie Felix Platter in A Golden Practice of Physick (1664), um das »Bedürfnis nach Kopulation« zu stillen, wenn »im Akt kein oder nur geringes Vergnügen liegt«, und Humphrey Mills berichtet 1646 von eingelegten Austern, die Freiern in Bordellen serviert werden.[13]
Der Gebrauch von Oyster als Bezeichnung für die Vulva ist seit dem 16. Jahrhundert belegt. Es ist wirklich nicht schwer zu verstehen, warum.
Der wahrscheinlich offensichtlichste Grund aber, warum Austern mit Sex in Verbindung gebracht werden, liegt in deren Ähnlichkeit mit der Vulva. Die weichen Falten pinken salzigen Fleischs und die eingebetteten Perlen führen beinahe zwangsläufig zum Vergleich, und so ist oyster auch seit dem 16. Jahrhundert als Slang für die Vulva belegt. John Marston riss 1598 derbe Witze über »gähnende Austern«.[14] Thomas Killigrew schreibt in The Parson’s Wedding (1641), »er, der er ihre stinkende Auster öffnet, hat sich die Perle verdient«[15], und der liederliche Schuft Rochester brachte 1673 die folgenden Zeilen zu Papier:
Gewölbt an beiden Seiten lag sie klaffend wie eine Auster.
Ich hatte ein Werkzeug vor mir, das versenkte ich
Tief hinein, und sogleich schloss sich die Auster;
Schloss und klammerte sich mit jedem Stoß fester.[16]
Bedenkt man die Zweideutigkeit, dann ist es kein Wunder, dass die Figur des »Austernmädchens«, das seine Waren auf der Straße verkauft, nach und nach mit Sexarbeit und genereller Verdorbenheit assoziiert wurde. Im 18. Jahrhundert waren raue Lieder über Austernmädchen weit verbreitet. M. Randalls The Eating of Oysters (1794) beginnt zum Beispiel so:
In London war’s, ich ging so dahin,
da traf ich ein Mädchen, ein hübsches kleines Ding.
Ich spähte in ihren Korb, das hatte den Sinn,
zu sehen, ob darin wohl Austern lagen.
»Austern, Austern, Austern«, rief sie.
»Bessere Austern aßen Sie nie.
Drei für ’nen Penny, umsonst nur für Sie.[17]
Die irische Volksheldin Molly Malone verkaufte »Herzmuscheln und Miesmuscheln, lebendig, lebendig, oh!« und wurde 1876 in Versform verewigt, in einem Lied, das James Yorkston zugeschrieben wird. Es erzählt von der schönen Molly Malone, die ihre Waren in ganz Dublin verkaufte und später »an einem Fieber« starb.[18]
Ein junges Mädchen verkauft einem Kunden auf der Straße Austern. Kolorierte Lithografie aus dem 19. Jahrhundert von J. Brydone & Sons.
Im Lauf der Zeit wurde das Lied zur inoffiziellen Hymne Dublins, und 1988 wurde im Georgian Quarter eine Bronzestatue von Molly Malone aufgestellt. Die Dubliner nennen die Statue liebevoll the tart with the cart (»die Sahneschnitte mit dem Karren«), und wiederholtes Begrapschen hat ihr Dekolleté über die Jahre hinweg blankpoliert.
2010 wurde Apollo’s Medley entdeckt, ein Literaturwissenschaftler*innen bis dahin unbekannter Text von 1790, der eine frühere Version des Molly-Malone-Songs enthält. Hier ist »Sweet Molly Malone« nicht ganz die mustergültige junge Frau, als die sie ein Jahrhundert später dargestellt wird. Der Erzähler singt:
Ach! Ich brülle und stöhne,
Molly Malone, meine Schöne,
Bis ich dein bin, dir fröne,
bis ich schlafe in deinem Bett […]
Sei Gift, was ich trinke
Wenn ich schlaf, schnarche, blinke,
Es in Vergessenheit sinke,
dass du liegst dort allein.[19]
1805 wurde die Beliebtheit des Liedes durch die Neuvertonung von John Whitaker belegt, der diese derbe Version als ein »Lieblingslied« bezeichnete.[20] The Widow Malone wird auf das frühe 19. Jahrhundert datiert und zeichnet Molly als eine sehr wohlhabende und sehr geile Witwe:
»An Liebhabern hatte sie alle und mehr […]
Vom Minister bis runter zum Diener der Krone,
alle buhlten sie um Witwe Malone.«[21]
Auch wenn Sweet Molly Malone ihr Handkarren mit Herzmuscheln und Miesmuscheln erst später angedichtet wurde, scheint es doch so, als habe ihr schon lange der Ruf der Promiskuität angehaftet, und ihre Besetzung als Austernmädchen ist Teil dieser Geschichte.
Molly Milton, die hübsche Austernfrau, 1788. Molly präsentiert ihre Waren einem schicken jungen Mann, der sie mit Hand in der Hosentasche beäugt.
Der wahrscheinlich berühmteste Fan des Austern-Aphrodisiakums war der legendäre Liebhaber Giacomo Casanova (1725 – 1789).
Casanova soll täglich fünfzig rohe Austern zum Frühstück gegessen haben – aber das ist wohl etwas übertrieben, auch wenn er mit Sicherheit viele davon ausgeschleckt hat. Casanova berichtet von vielen Ereignissen, bei denen er Teller mit fünfzig Austern mit seinen Gästen geteilt habe, und es gibt keinen Zweifel daran, dass er an deren aphrodisierende Wirkung glaubte. Eine seiner liebsten Verführungsstrategien bestand darin, seinen Liebhaberinnen beizubringen, wie man richtig Austern isst. »Wir saugten sie ein, eine nach der anderen, nachdem wir sie einander auf die Zunge gelegt hatten. Lüsterne Leser, probiert es selbst, und sagt mir, ob das nicht der Nektar der Götter ist!«[22] Er schreibt über das »Austernspiel«, mit dem er zwei Freundinnen, Armelline und Emilie, verführte.
Ich platzierte die Schale am Rande ihrer Lippen, und nach einigem Gelächter saugte sie die Auster ein, die sie so zwischen ihren Lippen hielt. Ich jagte sie ihr sogleich ab, indem ich meine Lippen an die ihren legte […] [Armelline] war beeindruckt von der Behutsamkeit, mit der ich die Auster wegsaugte, meine Lippen hatten ihre kaum berührt. Man kann sich vorstellen, wie angenehm überrascht ich war, als ich sie sagen hörte, dass nun ich es sei, der die Auster halten solle. Unnötig zu erwähnen, dass ich dieser Pflicht mit größtem Vergnügen nachkam.[23]
Casanovas Tagebuch verrät auch, dass sie dieses »Spiel« zweimal spielten. Beim zweiten Mal lässt er seine Auster »aus Versehen« in Armellines Ausschnitt rutschen und entkleidet diese daraufhin, um sie mit seinen Zähnen wieder herauszuangeln. Vielleicht probierst du das ja auch mal aus, wenn du das nächste Mal erfolgreich nach rechts gewischt hast – also, vorausgesetzt du hast Lust dazu, eine glibberige Molluske zwischen den Titten einer Frau herauszufischen, schon klar.
Im 19. Jahrhundert boomte das Geschäft mit den Austern. Es gab einen solchen Überfluss an Muscheln, dass sie zum Grundnahrungsmittel in Armen- und Arbeiterklassegegenden wurden. In The Pickwick Papers (Die Pickwicker, 1837) bemerkt Dickens, »Armut und Austern scheinen zusammenzugehören«.[24] Aber nur weil sie viel konsumiert wurden, hieß das nicht, dass sie ihr sexy Image ablegten. Es ist kein Zufall, dass zwei der berühmtesten Underground-Erotikmagazine des viktorianischen London The Pearl und The Oyster hießen.
Eine Frau, der das Licht einer Lampe aufs Gesicht fällt, steht vor einem Fass mit Austern und öffnet eine davon mit einem Messer, 1885. In der Bildunterschrift steht: »4. August. Eine Austernfrau des letzten Jahrhunderts. (Gemälde von H. Morland).«
Jonathan Swift schrieb einmal: »Das war ein mutiger Mann, der als Erster eine Auster gegessen hat«, aber ich vermute mal, dass das Ritual, mit dem das Austernessen verknüpft ist, ein weiterer entscheidender Faktor bei der weit zurückreichenden Assoziation mit Sex ist.[25] Wie schon Casanova beobachtete, liegt etwas unbestreitbar Sinnliches im Akt der Freilegung der drallen Auster aus ihrer Schale – wenn man sich das flüssige, salzige Fleisch in den Mund laufen lässt, um es dann mit der Zunge weiterzuschieben und schließlich am Stück zu schlucken. Gedanklich mit der Tatsache kombiniert, dass die Auster wie eine Vulva aussieht (yonisch) und in enger Verbindung zu Aphrodite/Venus steht, ist es kein Wunder, dass diese bescheidene Molluske den Ruf hat, ein verführerisches Aphrodisiakum zu sein. Wie Trebor Healey einst schrieb: »Die Welt ist deine Auster, so sagen sie, also fülle sie mit Perlen aus Samen.«[26]