Praktikantin Paula räusperte sich. Als alle wieder still waren, las sie: „Auf Burg Eulenstein hauste seit uralten Zeiten ein kleines Gespenst ...“
Als er das hörte, färbte sich Egons grünes Gesichtsfell schwefelgelb vor Schreck. Beim Vorlesen wurden für ihn Geschichten immer sofort wahr.
„Ein echtes Gespenst?“, wimmerte er aus Albis Tasche. In seiner lebhaften Krumpflingsfantasie sah er das Gespenst schon auf sich zuschweben. „Gibt’s die also wirklich? Ich bekomm eine gerupfte Krumpflingshaut vor Schreck!“, schrie er.
Alle Schüler hatten Egons Ausruf gehört. Er kam genau aus Albis Richtung. Da sie von Egon ja nichts wussten, musste Albi so gejammert haben.
„Du verträgst aber nicht viel!“, meinte Donatus mitfühlend.
„Ich … ähm ... ich ... bin manchmal etwas schreckhaft.“ Albi spürte, wie sich eine leichte Röte über sein Gesicht zog.
„Du bist ein ausgewachsener Feigling! Vor diesem Gespenstermickerling fürchtet sich nicht mal mein Meerschweinchen“, sagte Götz.
Jetzt bereute Albi doch ein bisschen, dass er Egon erlaubt hatte, mitzukommen. Andererseits wusste er auch genau, wie es ist, sich beim Vorlesen zu fürchten. Als Vorschulkind hatte er selbst sogar Angst vor der bösen Muhme Rumpumpel aus „Die kleine Hexe“ gehabt.
Frau Brettschneider brachte Götz zum Schweigen: „Das genügt, Gottlieb. Manche sind eben empfindlicher als andere.“
Paula erklärte, dass das kleine Gespenst harmlos ist, wenn man es nicht ärgert, und las weiter. Das beruhigte Egon etwas. Albi hörte nur noch sein angespanntes Atmen aus der Tasche. Doch dann kam Paula zu der Stelle, an der der große Uhu auftaucht: „Aber am liebsten besuchte das kleine Gespenst seinen alten Freund, den Uhu Schuhu.“
„Oma Krumpfling steh mir bei!“, rief Egon da erneut los. „Ein unheimeliges Uhu-Monster! Ein krautfieser Krumpflingsfresser!“
Professor Honigschwamm hatte den Schülern schon in der ersten Klasse der Krumpflingschule beigebracht, dass Greifvögel neben Hunden und Menschen eine große Gefahr für Krumpflinge sein können. Greifvögel hielten sie für Beute. Sofort brauste ein lebensgefährlicher Uhu durch Egons Fantasie. „Aaaaaah!“
Er plärrte so laut, dass sich wieder alle nach Albi umdrehten. Der klopfte mit der Hand leicht auf seine Tasche, um Egon zum Schweigen zu bringen. Doch das erschreckte Egon erst recht und er schrie noch lauter: „Uhu-Attacke! Versteckert euch, schnell!“
Die Kinder prusteten los. Albis Gesicht wurde nun rot wie ein Granatapfel.
Frau Brettschneider sagte streng zu ihm: „Albert, langsam glaube ich, du machst das absichtlich. Störst du Paula beim Vorlesen, weil vorhin gegen dein Buch gestimmt wurde?“
Was sollte der arme Albi darauf antworten? Dass nicht er, sondern ein eingeschleuster, superempfindlicher Krumpfling durchs Klassenzimmer brüllte, weil er alles, was hier gelesen wurde, wie in einem 3-D-Film vor seinen Glupschaugen sah? Dann würde ihn ja erst recht keiner mehr ernst nehmen!
„Entschuldigung“, flüsterte er kleinlaut. „Ich vergesse manchmal, dass alles, was Paula liest, nur eine Geschichte ist. WIR sind jetzt still.“
Egon verstand Albis Ansage. Es tat ihm natürlich schrecklich leid, dass er seinen Freund in so eine peinliche Situation gebracht hatte. Er nahm sich fest vor, ab jetzt nicht mehr alles für bare Münze zu nehmen und hielt sich mit beiden Pfoten sein Maul fest zu – bis Paula las: „Der Uhu ließ ein verächtliches Knurren hören.“ Sie ahmte sogar das Geräusch nach: „Grrrrrrr.“
Das klang gar nicht mehr wie Paulas Stimme. Egons Löffelohren hörten das bedrohliche Krächzen eines großen Vogels!
„Grunzgütiger Krumpf!“, kreischte Egon da verzweifelt. „Ich pipisel mir gleich ins Fell vor Angst!“
„Frau Brettschneider, Baby Albi braucht eine Windel!“, rief Götz.
Maxi und Lukas wälzten sich vor Lachen auf ihren Isomatten. Auch die restlichen Kinder prusteten laut los. Albi hätte sich am liebsten in seinem Schlafsack verkrochen und wäre nicht mehr herausgekommen. Aber er blieb tapfer sitzen und wurde nur noch röter als rot. Konnte sich Egon denn kein bisschen zusammenreißen? Hätte Albi ihn bloß zu Hause gelassen!