Frau Brettschneider betrat das Klassenzimmer und kramte als Erstes ein Handtuch aus ihrem Rucksack. „Ihr Lauser! Euer Glück, dass in der Lesenacht Späße erwünscht sind!“ Lachend rubbelte sie sich das Gesicht ab. „Und das wird nicht der einzige bleiben, versprochen. Rache ist Blutwurst!“
Albi, der ihr mit Lulu gefolgt war, stellte seine Tasche sehr vorsichtig ab.
„Albispatz, hast du etwa Angst, dass deine Schnullersammlung durcheinandergerät?“, fragte Maxi und klatschte Lukas ab. Die beiden waren die besten Freunde von Götz und machten sich gerne mit ihm zusammen über Albi lustig.
Natürlich konnte Albi Maxi nicht erklären, dass er so sorgsam mit seiner Tasche umging, weil ein lebendiger Krumpfling darin reiste. Stattdessen antwortete er schlagfertig: „Du wirst noch froh sein, wenn ich dir später einen meiner vielen Schnullis leihe.“
Jetzt kicherte Lulu laut und Maxi wurde rot. In Albis Tasche lachte sich Egon zufrieden ins Pfötchen. Mit Kindern, die zu seinem besten Freund gemein waren, hatte er absolut kein Mitleid.
„Zankt euch nicht! Und richtet endlich eure Schlaflager her!“, forderte Frau Brettschneider die Schüler auf.
Kurz darauf war der Boden mit einem bunten Teppich aus 25 Isomatten, Schlafsäcken, Kuschelkissen, Reisetaschen und Rucksäcken bedeckt. Man erkannte das Klassenzimmer kaum wieder. Neben dem Gummibaum breitete Frau Brettschneider auf einer weichen Luftmatratze für sich selbst Daunendecke und Kopfkissen aus. Sie setzte sich im Schneidersitz darauf und schlug den Schweigegong. Als alle still waren, erklärte sie: „Die Lesenacht kann beginnen! Wir machen es uns jetzt gemütlich. Wer möchte uns denn etwas vorlesen?“
Praktikantin Paula und fünf Schüler meldeten sich: Götz, die Locken-Anna, Nils und Philomena. Natürlich streckte auch Albi seinen Zeigefinger in die Höhe.
Lulu dagegen rief: „Ich würde ja gerne vorlesen. Aber mein Lieblingsbuch ‚Frühstück mit Torte‘ hat leider keine Worte!“
Alle lachten.
Frau Brettschneider sagte: „Wir gehen am besten alphabetisch vor, damit es keinen Streit gibt. Albert Artich, du darfst beginnen!“
Albi kramte vorsichtig in seiner Tasche. Egons Glupschaugen leuchteten hell aus dem Dunkel. Ein warmes Glücksgefühl durchströmte Albi, als Egon ihm zuzwinkerte. Der Krumpfling gab sich offensichtlich alle Mühe, brav zu sein. Hoffentlich gelang es ihm auch die restliche Nacht so gut! Albi wuschelte Egon über den Haarschopf. Der hob die Daumenkralle und grinste breit. Alles in bester Krumpfordnung!
Damit Egon gut zuhören konnte, ließ Albi die Tasche offen. Er nahm sein Buch heraus und zeigte den anderen den Umschlag.
„Mein Lieblingsbuch heißt ‚Der Sommer, als wir den Esel zähmten‘.“
„Ein wildes Eselchen? Das klingt ja megagefährlich! I-Aaah!“ Götz gähnte demonstrativ. „Und ich dachte, während einer Lesenacht liest man nur coole Gruselgeschichten.“
Frau Brettschneider widersprach ihm: „Nein, wir wollten uns unsere Lieblingsgeschichten vorlesen. Albert, was gefällt dir an deinem Buch?“
„Es geht um Hugo und seine Familie, die mit einem Esel in den Bergen wandern. Hugo ist anfangs eher ängstlich, aber er wird durch seine Freundschaft mit dem Esel sehr mutig. Ich lese euch ein lustiges Kapitel vor, in dem der Esel zwei böse Jungs verjagt.“
Albi schlug bei einem Lesezeichen auf und begann vorzulesen: „Ich lege mich in die hohe Wiese und lasse mir die Sonne auf den Rücken scheinen. Dabei beobachte ich die Grillen, die sich vor meiner Nase an den Gräsern entlanghangeln ...“
„Grrrsch-Pjühh!“ Aus der Ecke beim Waschbecken erklang lautes Schnarchen. Maxi und Götz taten so, als wären sie eingeschlafen.
Lukas quengelte: „Alter, das ist doch babisch! Wir möchten richtige Gespenstergeschichten hören!“
„Hm. Was meinen denn die anderen?“ Frau Brettschneider ließ die Kinder abstimmen. Bis auf Johanna und Lulu wollten alle lieber etwas Unheimliches hören.
„Wenn das so ist, dann lese ich jetzt aus meinem Buch. Ich heiße ja Auerbach. Also bin ich sowieso als Nächstes dran“, schlug Paula vor. „Der Titel meines Buches lautet: ‚Das kleine Gespenst‘ von Otfried Preußler.“
Die Schüler klatschten begeistert und Albi schloss etwas verlegen sein Lieblingsbuch. Er fühlte sich, als fänden die anderen Kinder nicht nur seine Geschichte, sondern auch ihn selbst schnarchlangweilig. Dabei hatten sie ihm nicht einmal die Chance gegeben, ihnen zu zeigen, dass sein Lieblingsbuch durchaus lustig und spannend war. Als er das Buch zurück in die Tasche schob, spürte er, wie zwei kleine weiche Pfötchen seinen Daumen umgriffen und fest drückten. Sofort verschwand das traurige Gefühl in Albis Brust. Die Zuneigung seines spinatknödelgroßen Freundes war doch viel mehr wert als die voreilige Meinung von ein paar Dummbatzen!