Albi wartet

Während Egon das Buch besorgte, saß sein bester Freund Albi im Treppenhaus der Villa Artich auf seiner Reisetasche wie auf glühender Grillkohle. Es war bereits zehn Minuten vor fünf – der kleine Krumpfling sollte sich schon längst in Albis Tasche geschmuggelt haben! Aber von Egon war nicht das feinste grüne Härlein zu sehen. Albi ließ die Kellertür, die einen Spalt weit offen stand, nicht aus den Augen.

„Albispatz, wir müssen fahren!“, rief seine Mutter aus dem Windfang. „Luise wartet sicher schon.“

Frau Artich hatte angeboten, Albis Klassenkameradin Lulu und ihr Übernachtungsgepäck mitzunehmen. Sie wohnte ja direkt nebenan, und außerdem musste Herr Vogelsang heute Abend mit seiner Band proben.

„Albi?“

„Moment, ich hole noch Ersatzbatterien für die Taschenlampe!“, rief Albi zurück.

„Aber mach schnell!“

Langsam ging Albi in die Küche, langsam nahm er eine Packung Batterien aus der Schublade, langsam ging er zurück. Ganz langsam legte er sie in seine Tasche. Doch Egon war nicht da.

„Albert?“ Rosalie klapperte demonstrativ mit dem Autoschlüssel.

„Einen Augenblick. Ich... ich will noch Antek einpacken.“

Im Schneckentempo holte Albi seinen Stoffaffen Antek aus dem Kinderzimmer. Dabei schimpfte er leise vor sich hin.

„Warum zum Kuckuck habe ich mich von Egon überreden lassen, ihn mitzunehmen? Es war doch klar, dass das Probleme gibt. Er ist ein Krumpfling und Krumpflinge sind nie pünktlich!“

Wenn er doch nur in den Keller gehen und Egon abholen könnte. Aber dann würden Oma Krumpfling und seine Mutter von ihrer geheimen Freundschaft erfahren. Und das wäre keine gute Idee! So wie Albi seine Mutter kannte, würde sie einen Kammerjäger bestellen, der Ungeziefer bekämpfte. Und Oma Krumpfling würde Egon dafür, dass er die Sippe an die Menschen verraten hatte, die Löffelohren noch länger ziehen als sie schon waren.

Hoffentlich war Egon inzwischen eingetrudelt. Doch der Krumpfling hockte nicht im Gepäck! Albi stopfte Antek ganz unten in seine Tasche. Er bedauerte, dass ihm keine bessere Ausrede eingefallen war. Es wäre zu peinlich, wenn einer seiner Mitschüler das Stofftier entdecken würde.

„Albert Artich!“, rief Rosalie nun hörbar unge­duldig. „Abfahrt!“

„Ich muss nachsehen, ob meine Zahnbürste im Waschbeutel ist“, antwortete Albi.

„Die Zahnbürste habe ich dir natürlich als Erstes eingepackt.“ Frau Artich stapfte zurück ins Treppenhaus und stemmte die Arme in die Seiten. „Können wir jetzt los? Wir wollen nicht unpünktlich sein. Du weißt doch: Wir heißen Artich ...“

„... und sind artig!“, vollendete Albi das Familienmotto. Er zog den Reißverschluss seiner Tasche bis auf eine Krumpflingsbreite zu.

„Ähm. Ich muss noch mal aufs Klo“, sagte er dann.

Rosalie Artich zog die Augenbrauen hoch. „Du bist in der vergangenen Viertelstunde bereits dreimal auf der Toilette gewesen! Brütest du etwa eine Erkältung aus? Ich hol dir lieber die langen Unterhosen.“

„Brauchst du nicht. Ich hab nur zu viel Tee getrunken.“

Albi verkrümelte sich schnell im Gäste-WC. Wenn er in der Schule mit langen Unterhosen auftauchte, würde er sich ja komplett lächerlich machen. Seine Mutter sah das wohl anders. Albi konnte ihre Schritte auf der Treppe hören und wie sie sich dann an seiner Tasche zu schaffen machte. Kurz darauf stand sie wieder vor der ­Klotür.

„Bist du in die Schüssel gefallen, Albispatz?“ Ihre Stimme klang jetzt eher besorgt als ungeduldig. „Ist wirklich alles in Ordnung mit dir?“

Notgedrungen zog Albi die Spülung und wusch sich umständlich die Hände. Als er aus der Toilette kam, stürzte sich Rosalie auf ihn und drückte ihn an sich.

„Mein armer Junge! Was bin ich doch dumm!“, rief sie. „Batterien, Stofftier, Pipi. Ich weiß natürlich, warum du die Abfahrt verzögern willst! Du hast Angst davor, anderswo zu übernachten. Aber vor mir kannst du das doch ruhig zugeben!“

Albi musste sich sehr bemühen, nicht laut zu lachen. Er fürchtete sich vor vielen Dingen, wie Schlangen, gruseligen Filmen, fiesen Gespenstern oder schlechten Noten. Aber nicht vor einer Übernachtung weg von zu Hause. Im Gegenteil. Er freute sich riesig darauf, mal fort zu sein! Doch das behielt er jetzt besser für sich. Stattdessen umarmte er seine Mutter ganz fest und seufzte tief. Hauptsache, er konnte sie so lange hinhalten, bis Egon unbemerkt in die Tasche geschlüpft war. An ihrem Arm vorbei spähte er weiterhin zur Kellertür.

„Ich hole dich jederzeit ab!“, schlug Rosalie vor.

Genau in diesem Moment kletterte Egon mit einem kleinen Rucksack über die oberste Stufe der Kellertreppe, wieselte zu Albis Tasche und quetschte sich hinein. Rosalie gab Albi einen Kuss. „Ruf einfach an, wenn ich kommen soll. Das Telefon liegt die ganze Nacht neben meinem Bett.“

„Danke, aber das wird bestimmt nicht nötig sein!“, erklärte Albi. „Können wir jetzt endlich fahren, Mama? Lulu wartet bestimmt schon!“