Bimm. Bimm. Bimm. Bimm. Und noch ein Bimm! Egon zählte fünf Glockenschläge. Ungeduldig beobachtete der kleine Krumpfling den runden Eingang zur Hutschachtel. Darin war die Bücherei der Krumpflinge untergebracht. Warum machte Fräulein Glemmer nicht endlich Feierabend? Normalerweise verkrümelte sie sich mindestens eine Viertelstunde vor Ende der Öffnungszeit. Aber ausgerechnet heute am Freitag ging sie nicht.
„Das ist doch zum Pups-Propellern!“, schimpfte Egon vor sich hin. „Du solltest längst in Albis Tasche sitzen, Egon Krumpfling. Dein Freund Albi wartet bestimmt schon!“
Und wenn der Menschenjunge bereits ohne den kleinen Krumpfling zur Lesenacht in die Schule unterwegs war?
„O-krumpf-o-krumpf! Das wäre ja furchterbar!“
Egon presste seine Pfoten auf den herzförmigen Fleck in seinem grünen Pelz. Darunter klopfte sein echtes Herz heftig vor Aufregung. Seit Tagen freute sich Egon auf die Lesenacht in Albis Menschenschule.
„Eine Lesenacht in der Schule ist etwas ganz Besonderes und kommt seltener vor als Wein-Nachten. Jedes Kind bringt sein Lieblingsbuch, eine Taschenlampe, eine Zahnbürste und einen Schlafsack mit. Alle machen es sich im Klassenzimmer gemütlich und dann wird vorgelesen ohne Stopp und Ende.“ So hatte Albi es Egon erklärt. Und nach langem Hin und Her war er auch einverstanden gewesen, den kleinen Krumpfling heimlich in der Tasche mit dem Gepäck mitzunehmen.
Egon wollte die Lesenacht auf keinen Fall verpassen, denn in der Krumpfling-Schule gab es keine Lesenächte. Dabei liebte er es sehr, wenn Albi oder Lulu ihm vorlasen! Er hatte entdeckt, dass man mithilfe von Geschichten an alle möglichen Orte der Welt und in verschiedenste Zeiten reisen konnte. Jedes Wort, das er hörte, nahm in seinem Pelzköpfchen Gestalt an. Weil er sich so leicht fürchtete, lasen ihm seine Freunde allerdings keine Gruselgeschichten vor.
Zur Lesenacht wollte Egon natürlich nicht ohne ein eigenes Buch erscheinen! Eigentlich hatte er vorgehabt, aus der geschlossenen Bibliothek ein Buch … nun ja … zu stibitzen. Nur für eine Nacht natürlich! Das Ausleihen der 11 Bücher in der Krumpflingsbücherei war nämlich nicht gestattet.
Weil die Zeit immer knapper wurde, musste Egon nun doch einen anderen Weg finden, um zu einem Buch zu gelangen. Also trat er mutig in die Hutschachtel. Jetzt verstand er auch, warum Fräulein Glemmer keine Anstalten machte, ihren Arbeitsplatz zu verlassen. Sie hatte es sich auf einem Spülschwamm mit einem dicken Wälzer bequem gemacht. Und in ihrem Arm lümmelte zufrieden der kleine Gaga und ließ sich vorlesen. Richtig gemütlich sah das aus.
„Schaurig schlechten Abend, Fräulein Glemmer!“, rief Egon höflich.
„Die Bücherei ist geschlossen“, antwortete Fräulein Glemmer. „Komm am Montag wieder. Oder besser überhaupt nicht.“
Egon wunderte sich nicht über ihren schroffen Ton. Für Krumpflinge ist es ganz normal, sich anzumaulen oder zu beschimpfen. Nur Egon bildete da eine Ausnahme: Er konnte sich gut in andere einfühlen und wollte niemanden traurig machen. Darum musste er auch mehr als die anderen Krumpflinge einstecken.
Egon beschloss, sich von Fräulein Glemmer nicht abwimmeln zu lassen.
„Könnte ich ganz vielleicht ein Buch ausleihen?“
„Leiterwesen!“, quengelte Gaga.
Der Minikrumpfling hatte einen Sprachfehler, weil er während seiner „Wachstumsphase“ von Egon fälschlicherweise mit Buchstabensuppe gedüngt worden war.
Als Fräulein Glemmer nicht gleich weiterlas, strampelte er und schrie noch einmal wütend: „Weterleisen!“
„Aber ja, mein Stinkmorchelchen!“ Fräulein Glemmer kitzelte Gaga mit ihrer rosa lackierten Zeigekralle im Löffelöhrchen, bis der wieder kicherte. „Wo war ich stehen geblieben? Ach ja. Von einem der auszog, das Fürchten zu verlernen. Hinter den sieben Kellern, bei den sieben Tellern, lebte einmal ein kleiner Krumpfling, der sich immer fürchtete ...“
Egon überlegte, ob er einfach irgendein Buch nehmen und damit verschwinden sollte. Aber wenn Fräulein Glemmer genau in diesem Moment zu ihm schaute? Dann würde sie ihn sicher bei Oma Krumpfling verpetzen. Und Ärger mit der strengen Chefin wollte Egon auf keinen Fall riskieren.
„Wenn Sie mir ausnahmsweise ein Buch mitgeben, bringe ich es auch ganz bestimmt morgen früh wieder zurück!“, versprach er. „Das schwöre ich bei Oma Krumpflings Lockenwicklern!“
„Ja zum Grunzgurk! Stehst du herzgefleckte Nervenraspel immer noch hier rum? Du weißt doch, dass alle unsere elf Bücher pfotengeschrieben sind und nur in der Bücherei gelesen werden dürfen.“
Fräulein Glemmer klang nun essigsauer. Trotzdem blieb Egon hartnäckig.
„Aber ich passe doch krumpfgut drauf auf. Es ist auch egal, welches Buch ich bekomme. Ich nehme sogar das Kochbuch mit den Schimmelpilzrezepten.“
Da platzte Fräulein Glemmer das Kragenfell.
„Vermallekrumpft, verzupf dich! Und zwar dalliknalli, sonst hagelt es gleich Popoklatscher dazu!“
Voller Zorn warf sie das Buch in ihrer Pfote Richtung Egon. Um nicht getroffen zu werden, duckte sich Egon schnell unter dem Buch weg. So flog es in hohem Bogen zur offenen Tür hinaus. Das war natürlich nicht die Absicht der Bibliothekarin gewesen.
„Ich geh ja schon. Wünsche warziges Wochenende, Fräulein Glemmer!“, rief Egon und lief hinaus. Während er das „Große Buch der Krumpfmärchen“ aufhob, hörte er Gaga empört kreischen: „Mun Beich! Mun Beich! Gaga ganz besö!“
Doch das war nun eindeutig Fräulein Glemmers Problem. Egons Problem dagegen hatte sie höchst erfreulich gelöst. Jetzt konnte er seinen Menschenfreund Albert Artich zur Lesenacht begleiten – und zwar mit dem spannendsten Buch der ganzen Krumpfburg im Gepäck!